Geldscheine in der Geldbörse
Der Staat dürfe "sich nicht an Gehaltserhöhungen bereichern, die nur den Preisanstieg ausgleichen", sagte Bundesfinanzminister Lindner der Bild-Zeitung. Bildrechte: IMAGO / CHROMORANGE

Inflationsausgleichsgesetz Kalte Progression: Der Streit um den Abbau heimlicher Steuererhöhungen

04. September 2022, 05:00 Uhr

Bundesfinanzminister Lindner hat angesichts der hohen Inflation Anpassungen bei der Einkommensteuer angekündigt. Schleichende Steuererhöhungen, die kalte Progression, sollen abgebaut werden. Bei vielen stünde dann mehr auf dem Lohnzettel, der Staat würde dann weniger mitverdienen.

Staat verdient an kalter Progression, Bürger haben weniger in der Tasche

Mit dem sogenannten Inflationsausgleichsgesetz will Bundesfinanzminister Lindner schleichende Steuererhöhungen für die Bürger abbauen. Das klingt zunächst gut. Doch was steckt dahinter? Die Menschen in Deutschland müssen derzeit nicht nur mit einer Rekordinflation von mehr als sieben Prozent leben, der Staat belastet sie zudem mit schleichenden Steuererhöhungen. Der Fachbegriff dazu heißt kalte Progression. Oder anders formuliert – ein "ganz legaler Steuertrick" der Politik, der Jahrzehnte für ungerechtfertigte Steuermehreinnahmen gesorgt hat. Das Prinzip dahinter ist einfach: Auch Einkommen, die zwar nominal, aber nicht real steigen, führen zu höheren Durchschnittssteuersätzen. Dadurch wächst die Steuerlast, obwohl die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Steuerzahler gleich bleibt.

In einfacheren Worten: Der Begriff der "kalten Progression" bezeichnet eine Art schleichende Steuererhöhung, wenn eine Gehaltserhöhung komplett durch die Inflation aufgefressen wird, aber dennoch zu einer höheren Besteuerung führt. Das Resultat: Obwohl das Gehalt gestiegen ist, hat man real weniger Geld in der Tasche. Konkret heißt das: Wer in diesem Jahr eine Lohnerhöhung von sieben Prozent verhandelt, der kann sich zwar glücklich schätzen, die Inflation zumindest ausgeglichen zu haben. Doch er zahlt auf die Lohnerhöhung einen höheren Steuersatz, ohne allerdings tatsächlich mehr in der Tasche zu haben.

Kalte Progression jahrzehntelang von der Politik ignoriert

Durch die kalte Progression kommt es also zu Steuererhöhungen, die nicht vom Parlament beschlossen werden müssen und die somit auch nicht das Ergebnis einer öffentlichen politischen Debatte sind. Die Steuererhöhungen geschehen quasi "heimlich". Diese Ungerechtigkeit ist von Seiten der politisch Verantwortlichen Jahrzehnte ignoriert, verneint oder kleingeredet worden. Der MDR hat immer wieder darüber berichtet. Erst 2016 hat der Gesetzgeber die Einkommensteuertarife tatsächlich an die Inflation und damit zu Gunsten der Steuerzahler angepasst. Im Zeitraum 2016 bis 2021 hat dies, so zeigen es Berechnungen des Steuerzahlerbundes,  zu einer Entlastung um schätzungsweise 30 Milliarden Euro geführt.

Schleichende Steuererhöhung verschärft sich 2022

Doch in diesem Jahr sieht das anders aus: Das Problem der Inflation und damit der kalten Progression, das heißt der heimlichen Steuererhöhung, verschärft sich dramatisch. Um die Folgen für die Steuerzahler zumindest zu dämpfen, hat Bundesfinanzminister Christian Lindner im August die Eckpunkte seines Inflationsausgleichsgesetzes vorgestellt. Sein Vorschlag sieht unter anderem vor, den Einkommenssteuertarif an die Preisentwicklung zu koppeln und gleichzeitig den Grundfreibetrag zu erhöhen.

Würde er dies nicht tun, würde die Kombination aus Inflation und gleichbleibenden Steuergrenzen irgendwann dazu führen, dass selbst Normalverdiener wie Krankenschwestern oder Facharbeiter steuerlich zu Spitzenverdienern werden und den höchsten Steuersatz zahlen. Faktisch geht es also beim geplanten Abbau der kalten Progression nicht um eine steuerliche Entlastung sondern vielmehr um den Verzicht des Staates, auf eine ungerechte Belastung, wie der Finanzminister selbst ausführte. Das heißt: Der Ausgleich der kalten Progression ist ein Gebot der Steuergerechtigkeit. Der Staat darf sich an den Auswirkungen der hohen Inflation nicht bereichern.

Grüne und  SPD verteidigen kalte Progression

Damit also der Fiskus nicht zum Profiteur der Geldentwertung wird, ist es dringend notwendig, die Steuertarife an die Inflation anzupassen. Die Abschaffung der kalten Progression ist folglich ein guter Plan. Sollte man annehmen. Doch der Vorschlag des Ministers stieß auf heftige Kritik, die vor allem von den Grünen und der SPD kam. Das Hauptargument gegen die Abschaffung der schleichenden Steuererhöhungen lautete: Sie diene vor allem den Spitzenverdienern. Die würden von Lindners Vorschlag am meisten profitieren. Eine Entlastung von Familien mit kleinen und mittleren Einkommen könne man damit nicht erreichen. Doch stimmt das?

Bezieher von kleinen und mittleren Einkommen profitieren

Das Bundesfinanzministerium schreibt dazu: Die absolute Ersparnis steige zwar mit zunehmendem Einkommen, die unteren Einkommensgruppen würden relativ betrachtet jedoch mehr profitieren. Was das konkret heißt, zeigen aktuelle Berechnungen des Steuerzahlerbundes, die dem MDR vorliegen. Bei einem Monatsbrutto von 2.000 Euro (Familie mit Alleinverdiener und einem Kind) führt der aktuelle Lindner-Plan zu einer Entlastung von 110 Euro im kommenden Jahr. Das wären für die Familie 6,2% ihrer derzeitigen Steuerlast.

Bei einer Familie mit 3.000 Euro brutto läge die Entlastung bei 162 Euro (3,6 %). Im Vergleich dazu liegt die Ersparnis bei einer Familie mit 10.000 Euro Monatsbrutto mit knapp 480 Euro zwar absolut gesehen höher, ist aber mit etwa 1,4 Prozent Entlastung weniger spürbar. Hinzu kommt: Ab einem Einkommen von 61.972 Euro bleibt der Entlastungsbetrag durch den Ausgleich der kalten Progression konstant. Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen profitieren also gemessen an ihrer Steuerlast überproportional.

Das heißt: Anders als behauptet, senkt Lindners Projekt also vor allem die durchschnittliche Steuerbelastung der Mittelschicht, die in Deutschland besonders hoch belastet ist.

Steuergerechtigkeit statt "Geldgeschenke"

Die grüne Familienministerin Lisa Paus warnte, dass Lindners Projekt Mindereinnahmen vor allem bei Ländern und Kommunen "in zweistelliger Milliardenhöhe" bringe. Man möge doch besser "andere Hebel für zielgerichtete Unterstützung" ansetzen, etwa ein höheres Kindergeld. Im Umkehrschluss würde das heißen: Weil der Staat dann weniger Geld einnimmt, solle man lieber weiter die Steuern schleichend erhöhen und die daraus resultierenden Mehreinnahmen in "Geldgeschenke" umsetzen. Matthias Warneke, wissenschaftlicher Leiter des Deutschen Steuerzahlerinstitutes hält das für den falschen Weg. Ungerechtfertigte Mehreinnahmen aus der kalten Progression dürften erst gar nicht in den Budgets eingeplant werden, dann gebe es auch keine Diskussion um vermeintliche Mindereinnahmen. Der Steuerzahlerbund schlägt daher einen "Steuertarif auf Rädern" vor. Der heißt so, weil damit der Steuertarif automatisch an die Inflation gekoppelt werden soll – ein beweglicher Tarif also.

Während Deutschland den Abbau der kalten Progression seit Jahrzehnten diskutiert, ist dies in vielen anderen EU Ländern wie der Schweiz, Frankreich, Finnland, Schweden längst Realität. Das heißt, hier greift der Staat seinen Bürgern nicht "heimlich" in die Tasche.

Lindners Vorschlag geht nicht weit genug

Der Bund der Steuerzahler hält zwar Lindners Vorschlag für prinzipiell richtig, dieser ginge aber nicht weit genug. Die vom Bundesfinanzministerium veranschlagten Inflationsraten seien viel zu niedrig. Konkret ist geplant, im Tarif 2023 eine Inflationsrate von 5,8 Prozent zugunsten der Steuerzahler zu berücksichtigen. Das würde die kalte Progression, so Matthias Warneke, aber nur unzureichend dämpfen.

Wenn man die kalte Progression komplett abbauen wolle, müsse noch in diesem Jahr eine Inflation von sieben Prozent und im kommenden Jahr eine Inflation von voraussichtlich vier Prozent zugunsten der Steuerzahler berücksichtigt werden, so sein Vorschlag. Das würde für unsere Beispielsfamilie mit einem Monatsbrutto von 2.000 Euro bedeuten: Nach dem aktuellen Lindner-Plan hätte diese eine Entlastung von 110 Euro im kommenden Jahr. Das sind 6,2 % der derzeitigen Steuerlast. Wenn hingegen die Inflation voll berücksichtigt würde, wie vom Steuerzahlerbund berechnet, würde die Entlastung schon 188 Euro betragen. Das wären dann 10,6 % ihrer derzeitigen Steuerlast. Bei einem Monatsbrutto von 3.000 Euro würde die Entlastung, bei vollständiger Berücksichtigung der Inflation,  275 Euro (6,1%) betragen und bei einer Familie mit 10.000 Euro Bruttoeinkommen wären es 831 Euro, welches 2,3 Prozent zur jetzigen Steuerlast ausmacht. 

MDR-Wirtschaftsredaktion

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 11. August 2022 | 19:00 Uhr

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