Debatte um Heimatbegriff Sachsen-Anhalt – der Bindestrich als Identität?

12. März 2021, 15:00 Uhr

Heimat ist ein Begriff, der vielerlei Missverständnissen Tür und Tor öffnet. So mancher hört bei dem Wort eine gewisse Kleingeistigkeit heraus und dennoch ist Heimat ein Verkaufsschlager. Trachtenmode und Heimatfeste leben vom Heimatversprechen, ebenso wie die Politik. Doch in einem Land wie Sachsen-Anhalt ist es gar nicht so leicht, sich dem Begriff zu nähern. Uli Wittstock hat es gewagt.

Portrait-Bild von Uli Wittstock
Bildrechte: Uli Wittstock/Matthias Piekacz

"Ich bin Sachsen-Anhalter", versichert der Chef des Landesheimatbundes, Konrad Breitenborn, und das ganz ohne dienstlichen Auftrag. Der promovierte Historiker hat nämlich auch über seine eigene Herkunft geforscht und dabei festgestellt, dass seine Vorfahren zunächst sächsisch waren, später dann von den Preußen regiert wurden, und schließlich auch noch nach Anhalt auswanderten. Das zeigt anschaulich die wechselhafte Geschichte einer Region, die nun als Sachsen-Anhalt eines der sechzehn Bundesländer bildet.

Bindestrich-Bundesland Sachsen-Anhalt

Während die Länder Thüringen, Brandenburg oder Sachsen einen relativ homogenen Raum umfassen und selbst Mecklenburg-Vorpommern als Bindestrich-Land relativ klar gegliedert ist, gibt es in Sachsen-Anhalt eine Sondersituation, erklärt Konrad Breitenborn: "Trennt man Baden-Württemberg oder Schleswig-Holstein, dann bleiben intakte Landesteile übrig. Das gilt für Sachsen-Anhalt jedoch nicht. Sicherlich ist Anhalt eine gewachsene Region, was man an den alten Bahnstationen zum Teil noch ablesen kann. Doch der Rest fühlt sich doch eigentlich nicht sächsisch. Weder die Altmark, noch Magdeburg, aber auch nicht Weißenfels oder Eisleben."

Das Bemerkenswerte ist ja, dass es in keiner anderen Sprache ein vergleichbares Wort für Heimat gibt.

Konrad Breitenborn Landesheimatbund

Denn bereits 1815, nach den Befreiungskriegen, wurde diese Region im Wiener Kongress dem Königreichen Preußen als "Provinz Sachsen" zugeschlagen. Und mit den wechselnden Machtverhältnissen wurde das Land immer wieder einmal neu geordnet. Die Nationalsozialisten gründeten Gaue, die DDR gründete zunächst Sachsen-Anhalt neu, um dann die Region in zwei Bezirke zu gliedern. Dass nach der Wende Sachsen-Anhalt erneut gegründet wurde, führte seinerzeit zu einigen Debatten.

Doch inzwischen spielt die Diskussion um eine mögliche Neuordnung der ostdeutschen Bundesländer keine große Rolle mehr. Immerhin bestätigen mehr als zwei Drittel der Menschen in Sachsen-Anhalt, dass dies ein Land sei, in dem man sich zu Hause fühlt. Das zeigen Daten aus dem aktuellen Sachsen-Anhalt-Monitor.

Und immerhin mehr als die Hälfte der Befragten räumen ein, dass dies ein Land mit aufgeschlossenen und freundlichen Menschen sei. Doch die Mentalitätsunterschiede sind schon ziemlich groß, für ein vergleichsweise kleines Bundesland. Das sieht auch Konrad Breitenborn so: "Man hat im Norden den eher etwas verschlosseneren, kühlen Altmärker, während man im Süden etwas kommunikativer ist. Einen Sachsen-Anhalter aus der Retorte werden Sie nicht hinbekommen, aber so ein gewisses Wir-Gefühl stelle ich schon fest, wenn ich bei Veranstaltungen bin." Wobei es vor allem die Begriffe Heimat und Verbundenheit sind, die für dieses "Wir-Gefühl" stehen.

Seit nahezu 30 Jahren ist Konrad Breitenborn der Präsident des Landesheimatbundes und vertritt damit die Interessen von 127 Heimatvereinen mit rund 10.000 Mitgliedern. Die meisten dieser Vereine gründeten sich nach dem Ende der DDR, die das Wort Heimat immer mit dem Zusatz "sozialistisch" verband. Leider neigt der Begriff dazu, ideologisch vereinnahmt zu werden, das räumt auch Konrad Breitenborn ein: "Manchmal habe ich den Eindruck, dass mit diesem Begriff beinahe etwas Mythisches verbunden wird. Aber es geht dabei eigentlich um einen Ort oder eine Region, in der man verwurzelt ist, ein sozialer Raum, in dem man dann auch die eigene Zukunft gestalten kann."

"Ganz unterschiedliche Begriffe von Heimat"

Allerdings ist das ein sehr subjektives Gefühl, das auch von den konkreten historischen Erfahrungen abhängt. Wenn Menschen der Kriegsgeneration etwas beschreiben, das "wie zuhause sei", dann meinen sie damit oft die ehemaligen deutschen Ostgebiete jenseits der deutsch-polnischen Grenze. Andererseits können Menschen, die in der gleichen Straße wohnen, ganz unterschiedliche Begriffe von Heimat entwickeln, was das Reden darüber nicht unbedingt erleichtert.

Das bestätigt auch Michael Hecht, der Leiter des Instituts für Landeskunde. Auch er ist Historiker und erklärt, dass Heimat nicht einfach so da ist, sondern immer die Folge einer gesellschaftlichen Debatte sei: "Heimat ist ein Zuschreibungsbegriff, der an den kleinen Raum der unmittelbaren Lebenswelt geknüpft ist. Und dieser Begriff wird mit bestimmten Werten und Vorstellungen verbunden, die gesellschaftlich ausgehandelt werden müssen. Und dabei spielt das Wissen um Traditionen und Geschichte eine Rolle."

Unterschiede in Sachsen-Anhalt werden überbetont

Beides will der Landesheimatbund leisten mit seinen vielen engagierten Mitgliedern. Zwar wird von Sachsen-Anhalts Politik regelmäßig auf die großen historischen Beiträge des Landes zur deutschen Geschichte verwiesen, doch gibt es landesweit keine Professur, welche sich mit der Regionalgeschichte auseinandersetzt. Das Institut für Landeskunde soll diese Fehlstelle etwas ausgleichen, auch wenn es im eigentlich nur eine Abteilung im Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie ist.

Ich glaube, dass die Unterschiede in Sachsen-Anhalt häufig überbetont werden, denn letztendlich sind sie auch nicht viel größer als in anderen Bundesländern.

Michael Hecht Institut für Landeskunde

Und auch sonst dämpft Michael Hecht die Erwartungen: "Als Landeshistoriker ist es ja nicht unsere Aufgabe, Identitätsbaumeister zu sein, also den Leuten vorzugeben, mit was sie sich zu identifizieren haben. Wenn man auf die Bindestrichländer der alten Bundesrepublik schaut, dann sieht man, dass dort im Laufe der Zeit die Identitätsgemeinschaften gewachsen sind. Insofern kann man auch für Sachsen-Anhalt eine optimistische Prognose stellen."

Was ist Heimat? - Debatte mit Risiko

Freilich ist die Debatte über einen Heimatbegriff nicht ohne Risiko, zumal in so unübersichtlichen Zeiten wie gerade den jetzigen, wo sich plötzlich viele Entwicklungen kreuzen und das Gefühl einer neuen Unübersichtlichkeit wächst. Der Blick auf das Eigene, Ursprüngliche und Nichthinterfragbare kann unter solchen Voraussetzungen auch zur Ausgrenzung führen, so Michael Hecht: "Im frühen zwanzigsten Jahrhundert und dann später auch in der Weimarer Republik kann man gut sehen, wie der Heimatbegriff sich radikalisiert und Heimatstolz mit der Abwehr des Fremden verknüpft wurde. Das sind Traditionen, die den modernen Heimatbegriff nun nicht mehr prägen. Aber dennoch gibt es immer wieder Anknüpfungspunkte für nationalistische Heimattümelei."

Natürlich weiß auch Konrad Breitenborn, welche Risiken mit einem unaufgeklärten Heimatbegriff verbunden sind. Auch deshalb soll die Arbeit der Heimatforscher unterstützt werden. Der im letzten Jahr geplante "Tag der Heimatforscher" fiel allerdings der Pandemie zum Opfer, ob er stattdessen in diesem Jahr stattfinden kann, ist derzeit noch unklar. Eine eigene Arbeitsgruppe im Landesheimatbund unterstützt dennoch die Heimatforschung, bringt die Hobbyhistoriker zum Erfahrungsaustauch zusammen und hält den Kontakt zu den wissenschaftlichen Einrichtungen.

Auch Heimatverbänden spüren die Abwanderungen

Doch derzeit beobachtet Konrad Breitenborn einen anderen Trend. Während politisch das Thema Heimat offenbar an Bedeutung gewinnt, Horst Seehofer regiert sogar in einem Ministerium des Innern für Bau und Heimat, geraten die Strukturen vor Ort in Sachsen-Anhalt ins Wanken. Die Demographie macht vor den Heimatverbänden nicht halt und zur Debatte über Heimat gehört auch die Feststellung, dass fast jeder zweite Sachsen-Anhalter die Heimat verlassen hat.

Die Gründe dazu finden sich überwiegend in den wirtschaftlichen Unterschieden. Während also viele Sachsen-Anhalter in Bayern oder Baden-Würtemberg heimisch geworden sind, sinkt in den Heimatvereinen hierzulande die Zahl der Aktiven. "Viele Vereine sind seit fast dreißig Jahren aktiv und allmählich merkt man schon, dass der Nachwuchs ausbleibt und die gegenwärtige Pandemiesituation macht es nicht gerade leichter", so Konrad Breitenborn.

Heimatvereine dürfen nicht hinten runter fallen

Zahlreiche Heimatfeste drohen auch in diesem Jahr abgesagt zu werden, was Folgen für die Finanzen der Vereine hat. Dass Sachsen-Anhalt unbedingt ein Heimatministerium brauche, glaubt Konrad Breitenborn nicht, aber eine bessere politische Wahrnehmung auch außerhalb historischer Jubiläen, die wünscht er sich schon: "Heimatvereine haben oft keine Leuchtturmprojekte. Die Politik blickt aber lieber auf solche Leuchtturmprojekte. Das was die Vereine da machen, wird oft abfällig als Massenkultur bezeichnet.  Aber gerade das ist wichtig, um vor allem den ländliche Raum zu stärken. Natürlich sind die Weltkulturerbestätten wichtig für Sachsen-Anhalt, aber das andere darf nicht hinten runter fallen."

Das ist eine Debatte, die in den nächsten Jahren sicherlich an Fahrt gewinnen wird, denn nach der Pandemie wird es eine neue Verteilungsdebatte geben. Dann aber geht es nicht um Geld, sondern um die Frage, was wo eingespart werden kann.

Portrait-Bild von Uli Wittstock
Bildrechte: Uli Wittstock/Matthias Piekacz

Über den Autor Geboren ist Uli Wittstock 1962 in Lutherstadt Wittenberg, aufgewachsen in Magdeburg. Nach dem Abitur hat er einen dreijährigen Ausflug ins Herz des Proletariats unternommen: Arbeit als Stahlschmelzer im VEB Schwermaschinenbaukombinat Ernst Thälmann. Anschließend studierte er evangelische Theologie. Nach der Wende hat er sich dem Journalismus zugewendet und ist seit 1992 beim MDR. Er schreibt regelmäßig Kolumnen und kommentiert die politische Entwicklung in Sachsen-Anhalt.

MDR/ Uli Wittstock, Thomas Tasler

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wir | 12. März 2021 | 14:40 Uhr

10 Kommentare

MDR-Team am 13.03.2021

Uli Wittstock zitiert in diesem Text indirekt die Aussagen von Prof. Breitenborn. Dass dieses Land historisch gewachsen sei, finden Sie in seinem Text nicht so als Aussage. Warum das Land sich nicht als Sächsisch fühlt, finden Sie ebenfalls in der Aussage von Prof. Breitenborn. Recht haben Sie darin, dass Magdeburg natürlich schon vor 1815 preußisch war. Hier ist die Formulierung zumindest unglücklich.

Bernd_wb am 12.03.2021

Als Luther seine Thesen annagelte war Wittenberg noch Teil des Kurfürstentums Sachsen. Mit der geschichtlichen Bedeutung hat es sich gewandelt, vor 1.000 Jahren war im heutigen Sachsen mit Ausnahme von Meissen recht ruhig, während in Merseburg, Magdeburg oder Quedlinburg Könige auftauchten. Hat sich später etwas verschoben. Ich selbst weiss dass ich kein Anhalter bin weil 9 km östelich von deren Grenze geboren. Ich bin halt Sachse aus nem Gebiet was Sachsen abgeben musste weil man zu lange mit Napoleon geklüngelt hatte. Übrigens nannte sich die Leute dann "Musspreussen".

Uwe B am 12.03.2021

Ist das schlampig geschrieben! Die Ignoranz gegenüber der Geschichte Sachsen-Anhalts ist unglaublich! Das Land ist nicht gewachsen. Es ist ein Nachkriegskonstrukt, von den Besatzungsmächten diktiert.
"Doch der Rest fühlt sich doch eigentlich nicht sächsisch." Das liegt wohl vor allem daran, dass "sächsisch" heutzutage mit dem Land Sachsen gleichgesetzt wird. Weder die sächsischen Herzogtümer noch die preußische Provinz Sachsen werden da beachtet.
"Denn bereits 1815, nach den Befreiungskriegen, wurde diese Region im Wiener Kongress dem Königreichen Preußen als 'Provinz Sachsen' zugeschlagen." Das ist Blödsinn! Zwar entstand die Provinz Sachsen zu der Zeit, aber nur durch Neugliederung bestehender Territorien. Magdeburg gehörte seit dem 17. Jahrhundert zum späteren Preußen. Der Alte Dessauer war dort als preußischer Gouverneur. Große Teile Sachsen-Anhalts gehörten weder zu Preußen noch zu Anhalt, sondern zu Braunschweig. So lebten die Welfen bis 1945 in Blankenburg.

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