Sozialarbeiterin diskutiert mit Schülerinnen einer achten Klasse
Wie kann Kindern geholfen werden? Unter anderem von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern. (Symbolbild) Bildrechte: imago/Busse

Nicht nur Corona Immer mehr Kinder in Obhut des Jugendamtes: Diese Gründe vermuten Experten

14. September 2021, 19:40 Uhr

Manchmal sind es nur ein paar nüchterne Zahlen, die bei näherem Hinsehen eine große Anzahl von Fragen aufwerfen. So gab es vor einigen Wochen die Meldung, dass in Sachsen-Anhalt die Zahl jener Kinder gestiegen ist, die von den Jugendämtern aus ihrem häuslichen Umfeld herausgenommen wurden, da nach Ansicht der Behörden, das Kindswohl gefährdet war. Doch welche Entwicklungen verbergen sich hinter diesen Zahlen? Teil 3 des MDR-Schwerpunktes.

Portrait-Bild von Uli Wittstock
Bildrechte: Uli Wittstock/Matthias Piekacz

Mitten ins Sommerloch platzte die Meldung, dass im vergangenem Jahr in Sachsen-Anhalt insgesamt 1.401 Kinder und Jugendliche zu ihrem Schutz von Jugendämtern in Obhut genommen wurden. Nach Angaben des Statistischen Landesamtes waren das 142 Fälle mehr als im Jahr zuvor – ein Anstieg von mehr als zehn Prozent also. Die Statistiker werten jedoch die Daten nur aus. Wie sie zustande kommen, das können sie nicht ermitteln.

Inobhutnahme wegen Corona und Co.?

Mit Blick auf Corona, Homeoffice, Schulschließungen und Distanzlernen könnte man so manche schnelle Begründung ins Feld führen, doch nach gegenwärtigem Stand handelt es sich dabei um kaum mehr als Vermutungen.

Zweifarbige Grafik Kind vor geöffnetem Fenster
Bildrechte: MDR/Lisa Hentschel

Will man das Problem näher betrachten, muss man mit jenen reden, die sich mit dem Thema täglich beschäftigen. Neben den Jugendämtern sind das vor allem soziale Einrichtungen, die sich in der Familienhilfe engagieren. Einer der großen Träger in Sachsen-Anhalt ist die Stiftung Evangelische Jugendhilfe St. Johannis Bernburg. Die Stiftung betreibt Schulen und Kindergärten, ist in der Schulsozialarbeit aktiv und betreut Kinder aus Familien, die, aus ganz unterschiedlichen Gründen, Probleme haben, ihrer Elternrolle gerecht zu werden. Seit Jahren verzeichnet die Stiftung eine steigende Nachfrage nach Betreuungsplätzen, vor allem für Kleinstkinder.

Der Vorsitzende der Stiftung, Klaus Roth, hat jahrzehntelange Erfahrung in der Sozialarbeit. Der Anstieg der Fallzahlen überrascht auch ihn.

Wir stellen fest, dass wir mit unseren Einrichtungen zunehmend für Kinder von null bis drei Jahre angefragt werden. Einige der Kinder sind noch gar nicht geboren, da wird für sie schon nach einer Unterbringung gesucht.

Klaus Roth Vorstandsvorsitzender der Stiftung Evangelische Jugendhilfe Bernburg

Roth weiter: "Wenn Sie mich jetzt fragen, woran das liegt, dann kann ich nur mutmaßen. Was aber alle sehen können ist die Tatsache, dass es immer mehr Menschen gibt, die in Armut leben und immer mehr Menschen, denen es besser geht.

Die Erzählung vom Auseinanderdriften der Gesellschaft ist inzwischen auch ein politisches Thema geworden und das nicht nur in Wahlkampfzeiten. Wann diese Entwicklung einsetzte, darüber lässt sich trefflich streiten, doch Sozialverbände warnen in Deutschland seit vielen Jahren vor dieser Entwicklung. Vor Ort, nämlich im SCHIRM-Projekt Halle, hat Anna Manser diese Entwicklung seit den neunziger Jahren verfolgt.

Inzwischen ist die Sozialpädagogin ebenfalls im Vorstand der evangelischen Jugendstiftung tätig. Doch der Umgang mit Menschen, die gemeinhin als arm gelten, ist ihr wohlvertraut: "Ja, diese Menschen fallen auf, sie werden auch geschnitten, und sie werden auch anders behandelt. Und das macht sie nicht gerade zu Sympathieträgern. Die trauen sich nicht auf Ämtern zu sagen, dass sie etwas nicht verstehen, sondern sie Schnauzen dann rum, weil sie unsicher sind."

Oft hatten schon die Eltern eine schwierige Kindheit

Kinder aus solchen Familien haben es dann auch besonders schwer, denn sehr oft hatten schon die Eltern eine schwierige Kindheit und scheitern nun selbst bei dem Versuch, es besser zu machen. Wer selbst in seiner Kindheit nicht das Gefühl hatte, von den Eltern geliebt zu werden, der hat es später schwer, den eigenen Kindern dieses Gefühl zu vermitteln. Anna Manser, die Sozialpädagogin, formuliert es so:

Menschen, die Halt und Geborgenheit nicht erlebt haben, in einer Zeit, als sie darauf angewiesen waren, leiden auch später darunter. Das kann man auch nicht nachholen oder später irgendwie korrigieren. Was Jugendhilfe jedoch erreichen kann, ist, dass wir in den Familien Stabilität schaffen.

Anna Manser Sozialpädagogin

Bereits im Kindergarten fallen Kinder aus solchen Familien oft auf, weil sie weniger gut sprechen können, oder sich auch beim Basteln als weniger geschickt erweisen, weil in ihrem Elternhaus wenig geredet und eben auch wenig gebastelt wird. Später, in der Schule, würden die Probleme noch deutlicher werden, so Anna Manser: "Die Eltern gehen entweder gar nicht zum Elternabend und wenn sie zum Elternabend gehen, sind sie auch wieder die Dummen. Weil sie zum Beispiel das Geld nicht haben für eine Klassenfahrt. Und wenn das Kind einen Smiley im Hausaufgabenheft hat, dann ist der Mund immer nach unten gemalt."

So schichten sich Misserfolg auf Misserfolg, und das nicht selten seit mehreren Generationen in den jeweiligen Familien. Die Folge ist sehr schnell ein Rückzug das eigene soziale Umfeld. Diesen Kreislauf zu unterbrechen sei nicht leicht, stellt Anna Manser fest, da sich inzwischen die Gesellschaft auch ganz real auseinanderlebt. Der soziale Stand einer Familie lässt sich unter anderem auch an der Wohnadresse ablesen. Das kann als Eingeständnis einer gescheiterten Sozialpolitik gelten.

Dass in Deutschland die Lebenswelten auseinanderdriften, hat aber auch Folgen für die öffentliche Wahrnehmung des Problems. Während Kindergärten und Schulen großen Wert auf die Integration von Menschen legen, die als Minderheiten akzeptiert werden, ist der arme Mensch von diesen Bemühungen weitestgehend ausgeschlossen, denn die Armut gilt ja vielen Menschen als selbst verschuldet.

Ämter und Familien: Verschiedene Welten prallen aufeinander

Vorurteile über eine das Kindergeld versaufende "Unterschicht" sind weit verbreitet. Für Klaus Roth, dem Chef der Stiftung evangelische Jugendhilfe, stellt sich damit ein weiteres Problem: "In den Ämtern sitzen ja meist Leute aus dem Mittelstand. Und die treffen dann auf Familien, die nicht so gut dran sind, und legen natürlich ihre Mittelstands-Werte als Maßstab zu Grunde. Wer aber die Armut in der zweiten dritten oder inzwischen vierten Generation erlebt, der versteht gar nicht, was die Ämter da eigentlich wollen." Wohlgemerkt geht es hier nicht um das Thema sexuelle Gewalt gegenüber Kindern, sondern um den sehr breit gefassten Bereich der Kindswohlgefährdung. Wo eine solche vorliegt, ist auch eine Frage der eigenen Maßstäbe.

Und so sind die Konflikte in vielfältiger Weise vorprogrammiert. Wer arm ist, kann es sich nicht leisten, entspannt zu bleiben, wenn eine Behörde aus formalen Gründen bestimmte Hilfen verweigert. Kommen solche Familien in Kontakt zum Jugendamt, dann gibt es immer die Befürchtung, die Kinder könnten aus ihrem Umfeld herausgenommen werden.

Doch auch die Ämter stehen unter Druck. Denn wenn Fälle von Verwahrlosung bekannt werden, dann geraten die Mitarbeiterinnen selber unter Druck. Familien am unteren Rand der Gesellschaft erleben einen Alltag, der für andere schwer verständlich ist, sagt Sozialpädagogin Anna Manser.

In den Wahlprogrammen der Parteien ist viel von Chancengleichheit die Rede. Allerdings zeigt der Blick in die sozialen Randbereiche, dass es sehr schwer ist, dem Kreislauf aus Benachteiligung, Armut und Bildungsferne zu entfliehen.

MDR/Uli Wittstock, Luca Deutschländer

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 16. September 2021 | 15:40 Uhr

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