Interview Arbeitsmarktforscher über junge Arbeitslose: "Es braucht Betreuung aus einer Hand"
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05. September 2024, 17:56 Uhr
Rund 7.600 Sachsen-Anhalter unter 25 Jahren waren 2023 im Jahresdurchschnitt ohne Job. Um betroffene Jugendliche und junge Erwachsene besser zu unterstützen, sind mehr Praxisbezug in der Schule und eine Betreuung aus einer Hand nötig, meint Arbeitsmarktforscher Brzinsky-Fay im Interview.
MDR SACHSEN-ANHALT: In Sachsen-Anhalt hat es zum Start ins neue Ausbildungsjahr erneut mehr Stellen gegeben als Bewerber. Man könnte also denken, dass es für junge Leute super einfach ist, eine Ausbildungsstelle zu finden. Warum fällt es den jungen Menschen trotzdem zum Teil schwer, ins Berufsleben zu starten?
Christian Brzinsky-Fay, Arbeitsmarktforscher: Das liegt daran, dass wir in Deutschland ein sehr stark auf Zertifikate und Zugangsmöglichkeiten fixiertes Ausbildungssystem haben. Das heißt, man redet auch vom sogenannten Zwei-Schwellen-Modell. Jugendliche, die die Schule verlassen, müssen einmal die Schwelle überschreiten, einen Ausbildungsplatz zu kriegen und dann noch ein zweites Mal die Schwelle überschreiten, auch vom Betrieb übernommen zu werden beziehungsweise dann eine entsprechende Stelle zu finden.
Und für Jugendliche, die insbesondere einen schlechten Schulabschluss haben oder niedrigqualifiziert sind, macht es diese Fixierung auf Abschluss-Zertifikate besonders schwierig. Das heißt, die werden von vornherein aussortiert. Es gibt dadurch weniger eine "Ja, wir probieren mal, du fängst erst einmal an und wir gucken dann, wie du dich machst"-Haltung, sondern viel mehr ein Vorher-Aussortieren.
Und das macht es halt für bestimmte Jugendliche, die vom Berufsbild nicht passen oder vom Schulabschluss nicht besonders gut dastehen, schwierig, erstmal den Eintritt zu finden und sich später dann vielleicht noch mal zu bewähren.
Wie könnte es aus Ihrer Sicht dann besser laufen, dass solchen jungen Leuten eine Chance gegeben wird?
Das ist relativ schwierig. Das Verhalten von Arbeitgebern und Institutionen ist über viele, viele Jahre eingeübt. Und so eine Kultur ändert sich halt erst mal nur langsam. Was man kurzfristig sicherlich tun könnte – und was auch schon getan wird, aber was man eventuell verstärken könnte – wäre schon in der Schule mehr Praxisbezug herzustellen. Die Leute mit dem Arbeitsleben in Kontakt bringen, die in Betriebe zu schicken, denen mal zu zeigen: Hey, das sieht hier so aus, so ist das Arbeitsleben. Und diese beiden Sphären Schule und Erwerbsleben nicht so sehr zu trennen und da noch ein bisschen mehr auf die Betriebe zuzugehen, aber auch auf die Jugendlichen.
Auf wen kommt es denn alles an, wenn es darum geht, jungen Menschen zu helfen, denen der Einstieg ins Berufsleben eben nicht so leicht fällt?
Da kommt es natürlich auf die Schulen an, da kommt es natürlich auch die Betriebe an und auf die staatlichen Institutionen, also die Arbeitsagenturen, die da zusammenwirken müssen. Und da vielleicht ein bisschen effizienter vorgehen. Es gibt ganz, ganz viele Maßnahmen für Jugendliche, um sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Aber je besser die Akteure zusammenarbeiten, umso besser funktioniert das.
Die folgende Grafik zeigt, dass die Zahl der jungen Arbeitslosen in Sachsen-Anhalt in den letzten Jahren stagniert. In der Statistik werden Menschen berücksichtigt, die sich (noch) nicht in berufsfördernden Maßnahmen befinden. Beim Klick in die Grafik sehen Sie, wie viele der jungen Arbeitslosen keinen Schul- bzw. keinen Berufsabschluss haben.
Wenn der erste Schritt ins Berufsleben problematisch ist oder nicht gelingt, was für Folgen hat das für die Betroffenen aus Ihrer Sicht?
Das hat natürlich gerade für Jugendliche, die ja noch relativ empfindlich sind für Erfahrungen am Arbeitsmarkt, schon langfristige negative Folgen. Also, die trauen sich selber weniger zu. Sie lernen halt nicht, dass es positiv ist, sich anzustrengen oder überhaupt in Weiterbildung und Ausbildung zu investieren. Das sind Dinge, die sie meistens sowieso schon aus benachteiligten Familien in diesem Prozess mitbringen, aber die werden natürlich dadurch verstärkt. Also das sind dann wirklich Prozesse, die langfristig dazu führen, eine Hoffnungslosigkeit zu entwickeln und dann entsprechend auch keine eigene Initiative mehr zu haben.
Es gibt ja ganz viele verschiedene Fördermaßnahmen, die von den Jugendlichen und jungen Erwachsenen wahrgenommen werden können. Halten Sie diese für ausreichend?
Es gibt schon Entwicklungen, die in die richtige Richtung gehen, also die Etablierung von Jugendberufsagenturen beispielsweise, die viele Leistungen zusammenfassen, auch aus unterschiedlichen Rechtskreisen des Sozialgesetzbuchs. […] Da passiert schon sehr viel, aber den Weg muss man halt weitergehen. Man braucht quasi für Jugendliche eine Betreuung aus einer Hand. Also die dürfen nicht in verschiedene Ämter laufen müssen, um Unterstützung oder Hilfe zu bekommen. Das machen sie in der Regel nicht. Sie brauchen eine konkrete Betreuung; jemanden, der sie unterstützt. Da gibt es schon eine ganze Reihe Organisationen, die das machen. Also der Weg ist richtig, aber man könnte schneller auf diesem Weg voranschreiten.
Jugendberufsagenturen und ähnliche Beratungsstellen in Sachsen-Anhalt
- Jugendberufsagentur Altmarkkreis Salzwedel
- Jugendberufsagentur Stendal
- Jugendberufsagentur Magdeburg
- Jugendberufsagentur Börde
- Jugendberufsagentur Landkreis Harz
- Koordinierungsstelle Jugend und Beruf Salzlandkreis
- Jugendberufsagentur Jerichower Land
- Jugendberufsagentur Anhalt-Bitterfeld
- Jugendberufszentrum Dessau-Roßlau
- Jugendberufsagentur Wittenberg
- Haus der Jugend Halle
- Jugendberufsagentur Saalekreis
- Jugendberufsagentur Mansfeld-Südharz
- Jugendberufsagentur Burgenlandkreis
Aus Zahlen der Arbeitsagentur geht hervor, dass in Sachsen-Anhalt letztes Jahr 60 Prozent der Jugendlichen, die an Aktionen zur Arbeitsförderung teilgenommen haben, nach einem halben Jahr eine sozialversicherungspflichtige Arbeit aufgenommen haben. Wie schätzen Sie diese Zahl ein?
Ich finde, 60 Prozent ist schon recht ordentlich. Klar, nach oben hin ist Luft, aber ich glaube, die Alternative – also wenn sie diese Maßnahmen nicht durchlaufen hätten – würde dann wahrscheinlich eher bei 20 Prozent liegen. Also von daher glaube ich schon, dass das erfolgreich ist. Aber nichtsdestotrotz müssen die vielen Maßnahmen auch intensiv evaluiert werden. Also das macht die Bundesagentur über ihr Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung schon sehr stark. Aber das kann noch ein bisschen intensiviert werden. Und da sollten mehr Anstrengungen, mehr Ressourcen reinfließen in die wirkliche Evaluierung, um das noch ein bisschen genauer zu wissen. Da wissen wir noch viel zu wenig.
In Sachsen-Anhalt sind Lehrermangel und Unterrichtsausfall ein ziemlich großes Thema. Da ist auch erstmal keine große Abhilfe in Sicht. Das könnte zur Folge haben, dass Berufsorientierung an Schulen künftig vielleicht auch weniger stattfindet. Wie blicken Sie in dieser Hinsicht in die Zukunft?
Aus der Hinsicht, was das Schulsystem angeht, da haben wir ein sehr großes Problem, glaube ich. Wir haben weiterhin das Problem, dass durch Kürzungen im Sozialbereich und im Arbeitsmarktbereich auch der Druck relativ groß ist. Nichtsdestotrotz ist der Arbeitsmarkt an sich ja relativ günstig. […] Also das sind so ein bisschen gegenläufige Tendenzen. Das Schulsystem ist auf jeden Fall ein Problem, der Lehrermangel ist auch ein ganz großes Problem.
Man müsste halt schauen, ob man vielleicht stärker von Seiten der Arbeitsagenturen mit den Schulen kooperiert. Das ist hoch umstritten, weil da natürlich die Beiträge für die Arbeitslosenversicherung, die in die Arbeitsagenturen und in die Arbeitsförderung gehen, dann an die Schulen verlagert werden. Schulen sind im Allgemeinen öffentlich gefördert, also von daher gibt es da auch Widerstände in der Richtung.
Aber ich glaube, dass könnte dem so ein bisschen Abhilfe schaffen, dass jetzt der Lehrermangel an den Schulen an sich virulent ist und auch sich sicherlich so schnell nicht ändern wird. Lehrer in Schulen sind aber jetzt auch nicht unbedingt die guten Arbeitsmarkt-Vermittler. Das müsste dann von den Arbeitsagenturen kommen.
Blicken wir noch auf den von der Bundesregierung beschlossenen Gesetzentwurf zur Modernisierung der Arbeitsförderung. Der sieht ja unter anderem vor, dass noch stärker digital beraten wird. Halten Sie das für sinnvoll?
Auf jeden Fall ist es sinnvoll, das zu stärken. Aber das gilt für alle Bereiche der öffentlichen Verwaltung. Da hinken wir ja bekanntermaßen ein bisschen hinterher. Von daher ist das ein Aufholprozess, der absolut notwendig ist aus meiner Sicht. Es kann auch helfen, einzelne Fälle im ländlichen Raum beispielsweise, wo die Wege sehr lang sind, über digitale Kontakte da eine etwas höhere Effizienz zu erreichen.
Ein Game-Changer in dem Bereich wird es wahrscheinlich nicht werden, sondern es ist mehr ein Aufholprozess, der dringend notwendig ist, aber wozu es eigentlich keine Alternative gibt.
Ansonsten denke ich, dass dieses Modernisierungsgesetz schon in die richtige Richtung geht, weil es unter anderem auch vorsieht, die Jugendberufsagenturen noch weiter zu stärken. Ich halte das für eine sehr sinnvolle Anpassung an aktuelle Gegebenheiten.
Die Fragen stellte Kalina Bunk.
MDR (Kalina Bunk)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 04. September 2024 | 17:00 Uhr
Sternenstaub Gestern
Die Forschung hätte sich mal lieber über das Bürgergeld Gedanken machen sollen.
Und über die dümmliche Aussage der SPD, das Ausbildung und Abschlüsse nicht notwendig sind☝️
pwsksk vor 2 Tagen
Das einzige, was richtig ist, es fängt mit der Schule an und hört mit der Schule auf.
Denn hier werden ALLE Grundlagen (außer dem Elternhaus NATÜRLICH) für das spätere Leben gelernt und gelegt. Praxisbezogenes Lernen war und ist in allen guten Schulsystemen schon immer vorhanden gewesen, selbst in der DDR.
Auch hier wird das Rad neu erfunden.
Shantuma vor 2 Tagen
"Lehrer in Schulen sind aber jetzt auch nicht unbedingt die guten Arbeitsmarkt-Vermittler. Das müsste dann von den Arbeitsagenturen kommen."
Ähm, nein.
Die sind nicht in der Lage gut zu vermitteln.
Von den Arbeitsagenturen geht es meistens zu den "Sklaven-Zentralen", aka Personalvermittlern.
Diese haben dann meist auch keine Kompetenz.
Und ja, ich habe Erfahrungen mit allen gemacht.
"... die Alternative – also wenn sie diese Maßnahmen nicht durchlaufen hätten – würde dann wahrscheinlich eher bei 20 Prozent liegen."
Ein Paradoxum, welches sich nicht belegen lässt, d.h. die Aussage ist unglaubwürdig.
Fragen wir uns also, wie man früher einen Job gefunden hat, wenn nur 20% in der Lage waren einen zu finden.
"Wir haben weiterhin das Problem, dass durch Kürzungen im Sozialbereich und im Arbeitsmarktbereich auch der Druck relativ groß ist."
Dies liegt an der "Zeitenwende", wenn für "Bumms" mehr ausgegeben wird, dann bleibt für Soziales weniger über. Hat die SPD nicht begriffen.