Streit um fehlende Polizei-Präsenz Innenminister rechtfertigt Polizei-Einsatz vor und während Halle-Attentat
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14. Oktober 2019, 17:17 Uhr
Nach dem Anschlag von Halle hat das Innenministerium erneut minutiös den Polizei-Einsatz erläutert. Pannen habe es nicht gegeben. Minister Stahlknecht kündigte eine engere Zusammenarbeit mit den jüdischen Gemeinden an.
Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht hat am Montag erneut das Vorgehen der Polizei vor und während des Anschlags von Halle verteidigt. Auf einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz bezeichnete der Minister die Ereignisse als herausforderndste Lage, die die Einsatzkräfte seit 1990 zu bewältigen hatten. Sein tiefster Dank gelte der "Polizei – ohne Wenn und Aber". Die Beamten hätten allesamt eindrucksvoll bewiesen, dass ihnen die Abwehr von Gefahren für Leib und Leben unbeteiligter Dritter oberste Verpflichtung ist.
Polizei hatte Fluchtwagen mehrfach aus den Augen verloren
Die Leiterin der Abteilung Polizei im Innenministerium, Christiane Bergmann, erläuterte am Montag erneut minutiös den Einsatz der Polizei am 9. Oktober. Dabei wurden weitere Details bekannt. So habe die Polizei bereits im Paulusviertel kurzzeitig den Fluchtwagen des mutmaßlichen Täters aus den Augen verloren. Er sei jedoch kurz danach ein weiteres Mal an den Beamten vorbei gefahren, so Bergmann. Sie erklärte auf Nachfrage: "Dass ein Fluchtfahrzeug außer Sicht gerät, würde ich nicht als Panne bezeichnen". Auch der Innenminister betonte: "Ich stufe es nicht als Panne ein." Um 12:19 Uhr sei dann der Sichtkontakt erneut abgebrochen, für etwa eine Stunde. Wie Bergmann weiter erläuterte, habe ein anderer Polizeiwagen das Fluchtauto schließlich im Gegenverkehr auf der Autobahn 9 entdeckt. Kurz darauf kollidierte der gesuchte 27-Jährige mit seinem gestohlenen Taxi mit dem Gegenverkehr in einer Baustelle. Seine Flucht zu Fuß scheiterte, er wurde schließlich von zwei Revierpolizisten aus Zeitz festgenommen.
Im Verlauf des Einsatzes kam es laut Bergmann zu weiteren Verzögerungen. So hing der Notruf aus dem Dönerimbiss zwei Minuten in der Warteschleife, weil zu dieser Zeit 64 Notrufe bei der Polizei eingingen. Außerdem sei bei der Verfolgung ein Streifenwagen angehalten worden. Laut Bergmann wollte ein Passant einen Verkehrsunfall melden.
Stahlknecht will auf jüdische Gemeinden zugehen
Angesprochen auf den Streit zwischen Stahlknecht und dem Zentralrat der Juden, ob vor dem Attentat ein Hilfegesuch der jüdischen Gemeinde vorgelegen habe, sagte der Minister: "Aus den von uns der Landespolizei vorgelegten Unterlagen stellt es sich anders dar." Es sei keine Bitte dokumentiert. "Wir haben aktuelle Unterlagen, die wir im Einzelnen nicht vortragen möchten, um die weiteren Gespräche nicht zu belasten." Stahlknecht sagte, er habe am Sonntag mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, telefoniert. Der Kontakt sei "konstruktiv" gewesen und der Auftakt für weitere Gespräche. Zudem wolle sich Stahlknecht zeitnah mit der jüdischen Gemeinde in Halle treffen.
Außerdem stellte Stahlknecht am Montag einen 10-Punkte-Katalog mit Maßnahmen vor, um künftig mehr Sicherheit gewährleisten zu können. Neben der bereits erlassenen 24-Stunden-Bewachung von Synagogen sieht dieser vor, Staats- und Verfassungsschutz im Landeskriminalamt personell im Bereich Rechtsextremismus weiter aufzustocken. Außerdem verwies der Minister auf einen Staatsvertrag mit der Jüdischen Gemeinschaft aus dem Jahr 2006. Dieser ermögliche es, besondere Sicherheitsvereinbarungen zu treffen. Wie Stahlknecht und Staatssekretärin Tamara Zieschang erklärten, wurde dieser Vertrag nie in Anspruch genommen. Deshalb wolle das Innenministerum nun auf die jüdischen Gemeinden zugehen, um künftige Verabredungen zu treffen. Ferner verwies Stahlknecht erneut auf die außerordentliche Innenministerkonferenz in Berlin ab Freitag. Dort wolle er bundeseinheitliche Regelungen absprechen. Am Vormittag war im Magdeburger Landtag der Innenausschuss zu einer Sondersitzung zusammengekommen, um die Landesregierung zum Wissensstand um den Einsatz zu befragen.
Was steht im 10-Punkte-Katalog des Innenministers?
Innenminister Holger Stahlknecht hat am Montag einen Maßnahmenkatalog gegen Rechtsextremismus und für eine höhere Sicherheit vorgelegt. Hier die Punkte im Wortlaut:
1. 24 Stunden, sieben Tage die Woche, Sicherungsmaßnahmen durch Polizei vor Ort an den Synagogen und Einrichtungen bis auf weiteres. Seit Freitag auch an den Moscheen in unserem Land.
2. Es gibt einen Vertrag des Landes Sachsen-Anhalt mit der Jüdischen Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt vom 20. März 2006. Dieser eröffnet die Möglichkeit, eine gesonderte Vereinbarung mit Blick auf den Schutz der Jüdischen Gemeinschaft zu treffen. Von dieser Möglichkeit dieses Vertrages ist bislang kein Gebrauch gemacht worden. Ich werde der Landesregierung vorschlagen, mit den jüdischen Gemeinden eine Vereinbarung über bauliche Sicherheitsmaßnahmen an Synagogen und deren Finanzierung abzuschließen. Wir werden diesen Vertrag unterfüttern. Das werde ich einfordern.
3. Der Verfassungsschutz und der Staatsschutz im Landeskriminalamt müssen im Bereich Rechtsextremismus personell aufgestockt werden.
4. Es muss ein Investitionsprogramm für mobile Wachen initiiert werden – an den Orten.
5. Wir müssen eine Diskussion über die Einführung eines Posten- und Streifendienstes für den Objektschutz mit Tarifbeschäftigten führen. Das gibt es bereits in Berlin.
6. Zur kurzfristigen Entlastung der aktiven Polizeivollzugsbeamten muss die Möglichkeit der freiwilligen Verlängerung der Lebensarbeitszeit auch im Jahr 2020 für unsere Kolleginnen und Kollegen bestehen.
7. Die Frage der Unterbringung der vierten Einsatzhundertschaft, die wir personell vorbereitet haben, ist innerhalb der nächsten vier Wochen zu klären. Ich setze ein Ultimatum. Es muss sichergestellt werden, dass die vierte Einsatzhundertschaft in Halle voll einsatzfähig ist. Wir haben dort bereits einen Zug. Wir haben das Personal vorhanden. Wir haben die Ausrüstung vorhanden. Ich erwarte jetzt, dass uns die Liegenschaft zur Verfügung gestellt wird.
8. Die Kabinettsbefassung über Novellierung des Verfassungsschutzgesetzes werde ich auch mit Blick auf aktuelle Diskussionen in Berlin noch einmal zurückstellen. Wir müssen im Kampf gegen den Rechtsextremismus alle technischen Möglichkeiten ausschöpfen. Und ich sage es jetzt mal ganz deutlich: Von denen, von denen ich immer höre, was man alles tun könnte, erwarte ich auch, dass sie uns die Instrumente in die Hand geben, dass wir es tun können. Dazu gehört eine Quellen-TKÜ (Quellen-Telekommunikationsüberwachung, Anm. d. R.), um das mal deutlich zu sagen. (...)
9. Des Weiteren erwarte ich, dass sich die Landesregierung umgehend auf die Einrichtung einer zentralen Stelle des Landesopferbeauftragten mit entsprechender finanzieller und personeller Ausstattung verständigt. Hierzu liegt bereits eine Kabinettsvorlage des Ministeriums für Justiz und Gleichstellung vor. Nur so ist der nahtlose Übergang der Opfer-Betreuung während der akuten Einsatzphase in der Nachbetreuung durch das Land Sachsen-Anhalt möglich.
10. An der Notwendigkeit der Fortführung von Präventionsmaßnahmen und Aussteigerprogrammen darf kein Zweifel bestehen. Wir müssen allerdings auch kritisch hinterfragen, ob sie bislang die ausreichende Wirksamkeit erzielt haben.
Polizei brauchte acht Minuten zum Einsatzort
Innenminister Stahlknecht hatte bereits am Tag nach der Tat öffentlich minutiös den Einsatz der Polizei transparent gemacht. Demnach waren zwischen Notruf und Eintreffen erster Kräfte an der Synagoge etwa acht Minuten Zeit vergangen. In der Zwischenzeit wurde eine Frau erschossen. Der Frage, wieso das Gotteshaus am jüdischen Feiertag Jom Kippur nicht von vornherein polizeilich begleitet wurde, entgegnete Stahlknecht, die Polizei habe "das getan, was sie aufgrund der Gefährdungsanalyse tun musste". Dabei verwies der Innenminister auf eine Gefährdungsanalyse des Bundeskriminalamtes. Demnach habe es keine Hinweise auf "potenzielle Tötungsdelikte mit antisemitischem Hintergrund" gegeben. Als Reaktion sei die Polizei nur unregelmäßig mit einem Streifenwagen präsent gewesen, erklärte Stahlknecht am Mittwoch. Er ordnete daraufhin an, bis auf weiteres alle jüdischen Einrichtungen sowie die Moscheen in Sachsen-Anhalt 24 Stunden am Tag bewachen zu lassen.
Öffentlicher Streit zwischen Innenminister und Zentralrat der Juden
Am Freitag wies Stahlknecht bei MDR SACHSEN-ANHALT Vorwürfe zurück, dass die Polizei auf Schutzgesuche seitens der angegriffenen jüdischen Gemeinde in Halle nicht reagiert hätte. Ein konkretes Ersuchen für den Tag des Anschlags sei nicht eingegangen. Der CDU-Minister widersprach damit Vorwürfen von AfD-Fraktionschef Olaf Kirchner und der Linken-Politikerin Henriette Quade. Diese hatten Stahlknecht Versäumnisse vorgeworfen.
Weitere Kritik erntete der Innenminister nach einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am Sonnabend. Dort erläuterte er erneut, die Polizei sei Bitten der jüdischen Gemeinde um Schutz stets nachgekommen. Die Beamten hätten "gute Arbeit geleistet". Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, bezeichnete diese Erklärung Stahlknechts in einem Beitrag für die "Jüdische Allgemeine" am Sonntag als "irritierend". Schuster sagte: "Die Aussage des Innenministers, wonach die Polizei den Bitten der Jüdischen Gemeinde um Schutz stets nachgekommen sei, ist unzutreffend und verkehrt die Realität in der Vergangenheit." Bei einer so unkritischen Bewertung müsse man sich die Frage stellen, "ob die Bereitschaft besteht, aus begangenen Fehlern Lehren zu ziehen", so Schuster. Das Innenministerium bleibt bei seiner Version.
Entgegen anderslautenden Berichten haben weder das Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt noch die Polizei in Halle (Saale) zurückliegend Bitten der Jüdischen Gemeinde Halle (Saale) um Schutz bei Gebeten und Veranstaltungen abgelehnt.
Quelle: MDR/ap
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT | 14. Oktober 2019 | 15:00 Uhr
Nordharzer am 15.10.2019
@Erna, was hätte denn die Polizei tun sollen? Ohne ein festes Ziel zu kennen, jede Kirche, Synagoge oder Moschee rund um die Uhr bewachen? Wie soll das gehen? Viele haben in den vergangenen Jahren den Stellenabbau im Öffentlichen Dienst, auch bei der Polizei, bejubelt. Die derzeitige Situation ist die Quittung dafür. Dabei war es fast noch ein Glücksfall, dass der Idiot sich eine Synagoge in Halle ausgesucht hatte. Wäre das in der Provinz passiert, hätte es viel länger, als 7 Minuten gedauert, bis die Polizei da gewesen wäre. Alles ein Ergebnis der Sparpolitik der letzten Jahre, insbesondere unter Bullerjahn, als Finanzminister, SPD wohlgemerkt!
Nordharzer am 15.10.2019
Diejenigen, die aus diesem Anlass Stahlknechts Rücktritt fordern, vor allem Grüne und Linke, sind dieselben, die kritisieren, dass Stahlknecht aus diesem Anlass das Gesetz zur Reform des Landesverfassungsschutzes auf Eis gelegt hat. Grüne und Linke kritisieren, daß die Struktur der Polizei unzureichend ist, dabei sind sie es doch, die in den letzten Jahrzehnten, teilweise mit in der Regierung, jede Reduzierung der Polizei gut geheißen haben. Verlogener kann man gar nicht sein.
Dynamo am 14.10.2019
Wenn alle polizeilichen Maßnahmen laut Herrn Stahlknecht ohne Beanstandungen durchgegangen sind, wieso muss da ein 10-Punkte-Katalog aufgestellt werden ?
Nur mal so nebenbei; wenn ein Fluchtauto außer Sichtweite eines verfolgenden Polizeiautos gerät, ist das für mich sehr wohl eine Polizeipanne. Das das hier heruntergespielt wird, zeugt von der Unfähigkeit, aber nicht nur der "kleinen Polizisten im verfolgenden Auto" 14.10.2019, 22:07