Hochwasserkatastrophe 2002 Als Eilenburg in der Mulde versinkt

13. August 2022, 09:00 Uhr

August 2002: Das Tief "Ilse" bringt erst extremen Niederschlag in den Süden Deutschlands, nach Österreich und Tschechien. In der Nacht zum 12. August 2002 zieht es dann nach Sachsen, mit noch mehr Regen im Gepäck. In Zinnwald-Georgenfeld fällt mit 312 Milimeter Regen der höchste jemals in Deutschland gemessene Tagesniederschlag. Flüsse treten über die Ufer, ganze Landstriche versinken im Wasser von Elbe und Mulde. Auch Eilenburg ist betroffen. Im Gespräch mit MDR SACHSEN erinnert sich der damalige Oberbürgermeister Hubertus Wacker an die dramatischen Tage.

Der 12. August 2002 ist ein verregneter Montag. Nicht nur in Eilenburg regnet es. Vor allem im Erzgebirge kommt seit Stunden jede Menge Regen von oben. Eine Folge: Die Pegel der Mulde, dem viertgrößten Nebenfluss der Elbe, steigen kontinuierlich. Um 18 Uhr erreicht der für Eilenburg wichtige Pegel in Golzern Alarmstufe II. Von dort braucht das Wasser der Mulde rund sechs Stunden bis Eilenburg.

Drei Stunden später zeigt der Pegel einen Wasserstand von rund 4,90 Metern: Alarmstufe III. Noch 70 Zentimeter, dann würde das Wasser über die Deichkronen schwappen. In Eilenburg wird man geschäftig. Sandsäcke werden verteilt. Doch schon kurz nach Mitternacht erreicht die Mulde in Golzern 5,60 Meter, Alarmstufe IV. Es wird Katastrophenalarm ausgelöst.

Ein Anruf in Dublin

Hubertus Wacker liegt da noch in einem Hotelbett in Dublin. Er ist mit seiner Frau seit nicht einmal 24 Stunden auf Silberhochzeitsreise. Um 4 Uhr in der Früh klingelt das Telefon, die Einsatzzentrale aus Eilenburg ist dran. An das Telefonat könne er sich noch gut erinnern, erzählt Wacker MDR SACHSEN. "Also wir evakuieren gerade die Innenstadt, und das Wasser läuft im Tierpark über die Deiche." Ob er kommen soll, habe er gefragt. Nein, nicht zwingend, sei die Antwort gewesen. Zehn Minuten später steht für Hubertus Wacker fest: Da passiert gerade mehr als ein normales Hochwasser. Also Abreise, zurück nach Eilenburg.

Mulde und Mühlgraben vereinigen sich in der Innenstadt

Im Anflug auf den Flughafen Leipzig/Halle sieht er die Nachbarstadt Wurzen von oben: eine einzige riesige Wasserfläche. Alles Mögliche sei ihm da durch den Kopf gegangen. "Das ist einfach gigantisch und dann wird es einem komisch", beschreibt er das Gefühl, als er die Ausmaße des Hochwassers begreift.

In Eilenburg angekommen, ist vieles schon erledigt - Evakuierung abgeschlossen, Notunterkünfte eingerichtet. Wacker ist froh, Mitarbeiter zu haben, die handeln, wenn gehandelt werden muss. Denn die Pegel steigen weiter. Am Vormittag des 13. August zeigt der Pegel in Golzern 7,65 Meter. Dann bricht der erste Deich im Süden Eilenburgs. Am Nachmittag gibt der provisorische Deich am Mühlgraben nach. Mulde und der Mühlgraben vereinigen sich in der Innenstadt. Stadt- und Tierpark laufen voller Wasser, das Umspannwerk in der Dobritzmark fällt aus, das Klärwerk in Hainichen wird überflutet. Damit kein Strom, kein Trinkwasser. Eilenburg versinkt in der Mulde.

Land unter in der Nacht

Hubertus Wacker sitzt zu diesem Zeitpunkt mit seiner Sekretärin in der Grundschule, alle anderen hat er nach Hause geschickt. Es ist Nacht in Eilenburg, als mit 8,68 Meter der Höchststand der Mulde erreicht wird. Der Uhrzeit geschuldet gibt es kaum Bilder, wie die Wassermassen sich ihren Weg bahnen. In der öffentlichen Wahrnehmung spielt Eilenburg deshalb kaum eine Rolle. Doch Wacker weiß: "Wenn die Welle durch ist, dann beginnt die eigentliche Arbeit", erzählt er rückblickend. Noch in der Nacht versucht er, Trinkwasser und Essen zu organisieren. "Es gab ja auch keine Verpflegung mehr. Es war alles weg."

Davon erholen wir uns so schnell nicht wieder.

Hubertus Wacker Oberbürgermeister Eilenburg a.D.

Am nächsten Morgen dann das böse Erwachen. "Dann haben wir das Elend gesehen. Es war ja Wahnsinn, die ganze Stadt stand unter Wasser. Meine erste Überlegung war nur: Also, davon erholen wir uns so schnell nicht wieder", erinnert sich Wacker an Tag Eins nach der Flutwelle.

Kontrollposten bekommen emotionale Flutwelle zu spüren

In das überflutete Gebiet darf erst einmal niemand - außer die Einsatzkräfte wie Feuerwehr, THW oder Bundeswehr. Für die betroffenen Menschen nicht einfach, wie Wacker sich erinnert. "Die Leute wollten natürlich zu ihren Häusern, aber wir haben sie nicht reingelassen. Wir wussten nicht, ob Kanaldeckel noch dort liegen, wo sie hingehören. Wir hatten einfach Angst, dass was passiert", so Wacker. Da habe es an den Kontrollposten auch mal Auseinandersetzungen gegeben, wurden die Mitarbeiter beschimpft. "Das waren menschliche Reaktionen, die wir einfach aushalten mussten", resümiert Wacker.

Es habe alle emotionalen Situationen gegeben, die man sich vorstellen kann. Tragische, lustige, amüsante, nette, dankenswerte, zählt Wacker auf. "Es gab natürlich auch viele traurige Momente, wo sich die Leute einfach nur an die Schulter gelehnt haben und weinten. Es wusste ja keiner, wie es weitergeht".

Es gab natürlich auch viele traurige Momente, wo sich die Leute einfach nur an die Schulter gelehnt haben und weinten. Es wusste ja keiner, wie es weitergeht.

Hubertus Wacker Oberbürgermeister Eilenburg a.D.

Das große Aufräumen

Menschen kommen in Eilenburg zum Glück nicht ums Leben, einige Tiere im Tierpark werden aber Opfer der Fluten. Die materiellen Schäden in und um die Stadt sind immens. Zwischen 250 und 300 Millionen Euro, wird später im Kirchbachbericht der sächsischen Landesregierung stehen.

Eisenbahnbrücken sind weggespült, Schienen und Straßen unterspült. Das Museum, alle Schulen, Bücherei, die Schwimmhalle - alles überflutet. "Das war alles kaputt, nicht mehr bewohnbar", blickt Wacker zurück. Für ihn besonders schlimm: Das Klärwerk war gerade fertig, zahlreiche Straßen saniert und Häuser modernisiert oder neu gebaut. "Und dann kommt das Wasser. Und man sieht in den Häusern die Estrichböden an den Decken. Die Häuser sind zerstört, eingefallen, einfach weggespült."

Die Häuser sind zerstört, eingefallen, einfach weggespült.

Hubertus Wacker Oberbürgermeister Eilenburg a.D.


Der Mut und die Hoffnung gehen in Eilenburg nicht in den Wassermassen unter. Schon zwei Tage später rollt erneut eine Welle auf die Stadt zu. Dieses Mal eine der Hilfsbereitschaft. Lebensmittel, Sachspenden und jede Menge Manpower aus ganz Deutschland erreicht Eilenburg an der Mulde. "Das war gigantisch", erinnert sich Wacker. "Wir hatten zu tun, die Leute dorthin zu bringen, wo sie sinnvoll arbeiten können, wo sie gebraucht werden."

Wir hatten zu tun, die Leute dorthin zu bringen, wo sie sinnvoll arbeiten können, wo sie gebraucht werden.

Hubertus Wacker Oberbürgermeister Eilenburg a.D.

Berliner Müllfahrzeuge und gekaperte Industriefläche

Dort wo das Wasser zurückgegangen ist, beginnt das Aufräumen. Der Müll und Unrat aus den Häusern wird auf die Straße gestellt. "Ich weiß noch, ich wollte Leipzig wegen Müllfahrzeugen kontaktieren", erzählt Wacker. Doch irgendwie klappt das nicht.

Er versucht es in Berlin und wird fündig. "Da standen dann auf der Bundesstraße 87 30 fahrende Müllpressen, hintereinander", erzählt er. Jedes Fahrzeug wird mit sechs Helfern bestückt und nach zwei bis drei Wochen ist der sichtbare Müll aus den Straßen verschwunden. Doch wohin mit all dem Unrat? Zur Deponie nach Delitzsch hätten die Müllpressen mehr im Stau gestanden als Müll aufgeladen. Kurzerhand habe er in der Stadt ein Industriegrundstück "gekapert", um dort die Massen an Müll abzulagern.

Sowieso ist man in Eilenburg gern schnell dabei, Lösungen zu finden. Handeln statt konferieren ist die Devise, sagt Wacker. Und nennt die Karl-Marx-Siedlung im Osten der Stadt als Beispiel. Die hat es besonders hart getroffen. In einer Senke gelegen, steht das Wasser in der Siedlung über zwei Wochen bis zu zwei Meter hoch. Der erste Plan: Abpumpen. Das hätte nach Wackers Berechnungen ein Vierteljahr gedauert. "Wir haben dann einfach entschieden, wir machen mit dem Bagger einen Graben durch ein dortiges Betriebsgelände: Vier Meter breit, zwei Meter tief, durch alle Infrastrukturen." Als der Krisenstab nach mehreren Stunden endlich sein Okay für den Graben gibt, ist dieser längst fertig.

Wir haben dann einfach entschieden, wir machen mit dem Bagger einen Graben durch ein dortiges Betriebsgelände: Vier Meter breit, zwei Meter tief, durch alle Infrastrukturen.

Hubertus Wacker Oberbürgermeister Eilenburg a.D.

Wie die Flut die Prioritäten verschiebt

Bereits 1996 hatte Wacker eine Studie in Auftrag gegeben, um die Schwachstellen im Hochwasserschutz zu finden. Allerdings sei ihm damals von der zuständigen Talsperrenverwaltung mitgeteilt worden, dass wegen Geldmangels ein neuer Hochwasserschutz für Eilenburg erst in 25 Jahren möglich sei, erzählt Wacker. Doch dann kam die Flut und mit ihr bekam der Hochwasserschutz in Sachsen eine andere Priorität.

Ein Spatenstich der ins Wasser fiel Am 13. August 2002 hatte die Stadt Eilenburg geladen. Feierlich sollte der Spatenstich für den ersten Bauabschnitt für den Deich am Mühlengraben erfolgen. Festzelt und Essen waren bestellt, Einladungen verschickt. Doch die große Feier für den geplanten Hochwasserschutz für Eilenburg wurde abgesagt. Keiner der geladenen Gäste kam, dafür jede Menge Wasser aus der Mulde. Hubertus Wacker

Plötzlich sei Geld da gewesen, erinnert sich das ehemalige Stadtoberhaupt. Dann geht alles relativ schnell. Wacker kümmert sich um die Grundstücke, holt die Zustimmung der Eigentümer ein, damit kein Planfeststellungverfahren gemacht werden muss und die Talsperrenverwaltung geht in die Planung. Insgesamt fließen über 35 Millionen Euro in den neuen Hochwasserschutz. Dafür werden Deiche und Hochasserschutzmauern verlegt oder neu gebaut.

Im Juni 2013 bewährt sich der vorangetriebene Hochwasserschutz für Eilenburg. Zwar werden äußere Bereiche der Muldestadt überschwemmt, da die Deichkronen für diese Wassermengen zu niedrig sind. Aber die Innenstadt bleibt trocken. 7,83 Meter zeigten der offizielle Pegel in Golzern. Damit ist die Flut 2013 höher als beim Jahrhunderthochwasser 1954 mit sieben Metern, aber niedriger als 2002 mit fast 8,70 Metern.

Flut-Erinnerung für Wacker wichtig

Als Hubertus Wacker 2015 nach mehr als 20 Jahren Oberbürgermeister in den Ruhestand geht, gibt seinem Nachfolger und eigentlich allen, die an einem fließendem Gewässer leben, auf den Weg, sich zu erinnern. Und: "Es muss immer einen im Rathaus geben, der sich intensiv mit dem Thema beschäftigt", sagt Wacker. "Das kann man nicht so am Rand, da muss man einfach regelmäßig Wetterberichte lesen und vor allem auch verstehen", glaubt Wacker. Dann könne schnell und effektiv gehandelt werden.

Da muss man einfach regelmäßig Wetterberichte lesen und vor allem auch verstehen.

Hubertus Wacker Oberbürgermeister Eilenburg a.D.

Vielleicht hätte so das Leid der Hochwasserkatastrophe u.a. im Ahrtal im vergangenen Jahr gemindert werden können. "Ich meine die materiellen Schäden, die hätten sie nicht abwenden können. Dagegen gibt es keinen Schutz. Aber es hätte nicht so viele Tote geben müssen", sagt er zum Ende des Gesprächs.

Sonderausstellung "Die Flut 2002" Bis zum 30. Oktober 2022 zeigt das Stadtmuseum die Sonderschau "Die Flut 2002" im Obergeschoss. Anlass ist der 20. Jahrestag des Jahrthunderthochwassers, das auch in Eilenburg verheerende Schäden anrichtete. Die Schau soll an die dramatischen Ereignisse und die Helfer erinnern. Stadtmuseum Eilenburg

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | SACHSENSPIEGEL | 13. August 2022 | 19:00 Uhr

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