Lichtfest Leipzig erleuchtet in Erinnerung an Herbst ´89 - Scherbakowa verurteilt Ukraine-Krieg

In Leipzig hat das Lichtfest an die Montagsdemonstrationen der Friedlichen Revolution vor 33 Jahren erinnert. Am Sonntag erleuchteten europäische Künstlerinnen und Künstler die Innenstadt, Bürgerrechtler und Bürgerechtlerinnen berichteten über persönliche Erlebnisse. Die traditionelle "Rede zur Demokratie" hat in diesem Jahr die Memorial-Mitbegründerin Irina Scherbakowa gehalten. Vor dem Hintergrund der aktuellen Lage spürt sie ein Gefühl der Ohnmacht.

Bundespräsident a.D. Joachim Gauck (r-l), seine Partnerin Daniela Schadt, Burkhard Jung (SPD), Oberbürgermeister von Leipzig, und Irina Scherbakowa, russische Menschenrechtsaktivistin und Mitbegründerin der Organisation Memorial, stellen an der Nikolaikirche in Leipzig Kerzen auf eine leuchtende 89. Die Stadt erinnert mit dem Lichtfest an die Friedliche Revolution im Herbst 1989.
Bundespräsident a.D. Joachim Gauck (r-l), seine Partnerin Daniela Schadt, Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung und die russische Menschenrechtsaktivistin Irina Scherbakowa stellten am Sonntag an der Nikolaikirche in Leipzig Kerzen auf eine leuchtende 89. Die Stadt erinnert mit dem Lichtfest an die Friedliche Revolution im Herbst 1989. Bildrechte: dpa

In Leipzig haben am Sonntag Tausende Menschen an die entscheidende Montagsdemonstration gegen das DDR-Regime vom 9. Oktober 1989 erinnert. Zum Auftakt lud die Nikolaikirche zu einem Friedensgebet ein. Unter dem Titel "Durst nach Frieden" kamen geflüchtete Ukrainerinnen zu Wort. Am Abend fand außerdem das Lichtfest mit leuchtenden Installationen in der gesamten Innenstadt von Leipzig statt.

Stadt: Solidarität mit der Ukraine und der russischen Opposition

Die "Rede zur Demokratie" hielt in diesem Jahr die russische Menschenrechtsaktivistin und Historikerin Irina Scherbakowa. Sie ist Mitbegründerin der inzwischen in Russland verbotenen Menschenrechtsorganisation "Memorial", die den diesjährigen Friedensnobelpreis erhält. Die im deutschen Exil lebende Aktivistin hatte sich am Sonntagnachmittag im Beisein von Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) auch in das Goldene Buch der Stadt eingetragen. Dass Scherbakowa als Rednerin eingeladen wurde, sei ein Zeichen der Solidarität an die Ukraine und an die Opposition in Russland, hatte die Stadt mitgeteilt.

Irina Scherbakowa, russische Menschenrechtsaktivistin und Mitbegründerin der Organisation Memorial, trägt sich in der Nikolaikirche in Leipzig in das Goldene Buch der Stadt ein.
Irina Scherbakowa, russische Menschenrechtsaktivistin und Mitbegründerin der Organisation Memorial, trägt sich in der Nikolaikirche in Leipzig in das Goldene Buch der Stadt ein. Bildrechte: dpa

Es ist sehr schwer heute über die Vergangenheit zu reden, weil die Gegenwart jeden Tag das Gefühl bringt, dass wir mittendrin sind in einer für Europa gefährlichsten Situation seit dem Zweiten Weltkrieg.

Irina Scherbakowa Friedensnobelpreisträgerin

Scherbakowa: Aufarbeitung politischer Repression in Russland nicht geschehen

In ihrer Rede hat die Historikerin eine Verbindung zwischen dem Zusammenbruch der DDR und der Sowjetunion zur heutigen Zeit geschlagen. "Für eine Historikerin, die sich mit der sowjetischen Geschichte, vor allem der Geschichte der politischen Repressionen, befasst, bedeutet es in Russland ständig mit den Taten von denjenigen konfrontiert zu werden, die offensichtlich nichts aus der Geschichte gelernt haben", sagte Scherbakowa in Leipzig. Das erzeuge immer öfters das Gefühl der Verzweiflung und Ohnmacht. Vor allem wenn man sehe, wie unberechenbar die politischen Entscheidungen und Handlungen aussehen, sagte sie weiter.

Burkhard Jung (SPD, v.l.), Oberbürgermeister von Leipzig und  Irina Scherbakowa, russische Menschenrechtsaktivistin und Mitbegründerin der Organisation Memorial.
In der Nikolaikirche traf die frischgekürte Friedensnobelpreisträgerin mit Leipzigs OB Burkhard Jung und Alt-Bundespräsident Gauck zusammen. Bildrechte: dpa

Es sei sehr schwer heute über die Vergangenheit zu reden, weil die Gegenwart jeden Tag das Gefühl bringe, dass die Gesellschaft mittendrin sei in einer für Europa gefährlichsten Situation seit dem Zweiten Weltkrieg. Scherbakowa berichtete außerdem von der Gründung und den Zielen der Organisation "Memorial", die es sich seit den 1990er- Jahren zur Aufgabe gemacht hatte, Akten zu sichern und Verbrechen der Machthaber nachzuweisen.

Memorial-Mitbegründerin hält Ende des Krieges nur mit Sieg der Ukraine für möglich

Scherbakowa verurteilte den Krieg in der Ukraine. Für diesen Krieg und das Leid der Ukrainerinnen und Ukrainer gebe es keine Rechtfertigung, sagte Scherbakowa. Sie sei überzeugt, dass der Krieg nur mit einem Sieg der Ukraine enden könne. Nur das werde den Frieden in Europa zurückbringen.

Pfarrerin Kathrin Oxen sagte in ihrer Predigt, dass Gewalt zwar der falsche Weg sei, es angesichts der russischen Aggression in der Ukraine aber im Moment keinen anderen gebe. Liubov Lysenko, Dozentin an der Kiewer Musikhochschule, die im März mit ihren Kindern nach Leipzig geflüchtet war, sieht trotz aller Unterschiede zwischen Leipzig und der Ukraine Parallelen: Wie damals bei der Friedlichen Revolution, so gehe es auch in der Ukraine um gemeinsame Werte wie Menschenwürde, das Recht zu wählen, und freie Meinungsäußerung. Angesichts des Kerzenmeeres auf dem Nikolaikirchhof äußerte sie den Wunsch und die tiefe Hoffnung, dass das Licht die Finsternis besiegen möge.

Lichtfest im Nikolaikirchhof
Die Nikolaikirche steht im Mittelpunkt der Erinnerungen an den Herbst 1989. In der Nikolaikirche hatten sich Menschenrechtsgruppen regelmäßig zu Friedensgebeten versammelt. In diesem Jahr stand das Lichtfest im Zeichen der Solidarität mit der Ukraine. Bildrechte: Leipzig Tourismus und Marketing GmbH/Andreas Schmidt

Begehbares Kaleidoskop und digitales Graffiti

Bis zum späten Abend konnten Besucherinnen und Besucher auf dem Burgplatz, dem Augustusplatz, dem Richard-Wagner-Platz sowie dem Nikolaikirchhof künstlerische Lichtinstallationen sowie die bekannte aus Kerzen geformte '89 erleben. Am begehbaren Kaleidoskop der Künstlerin Betty Mü - einem Tunnel mit Spiegeln und LED-Lichtern - bildete sich am Abend eine lange Warteschlange.

Lichtfest Leipzig 2022
Am Abend mussten die Besucherinnen und Besucher am Burgplatz einige Zeit warten, um das Kaleidoskop von innen zu sehen. Bildrechte: MDR/Sina Meißgeier

Der Straßen-Künstler Cart'1 und der Programmierer Matthieu Tercieux aus Frankreich zeigten auf dem Richard-Wagner-Platz ein digitales Graffiti - darunter ein Leipzig-Schriftzug in blau-gelb und bunten Farbstreifen auf historischen Bildern.

Erstmals Führungen mit Bürgerrechtlern

Zum ersten Mal haben Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler Interessierte über das Lichtfest geführt und von ihren Erlebnissen berichtet. Eine war die damalige junge Mutter und heutige Stadträtin der Grünen in Leipzig, Annette Körner. Sie war bereits Anfang der 1980er-Jahre Umwelt- und Friedensaktivistin und unter dem schützenden Dach der evangelischen Kirche aktiv. "Ich hatte zu der Zeit zwei Babys und mein Mann war seit 17 Uhr beim Friedensgottesdienst. Ich war krank vor Sorge, dass er festgenommen worden war", sagte sie beim Rundgang. Doch gegen 21 Uhr sei er freudig zurückgekommen. "Sie haben nicht geschossen", habe er zu ihr gesagt.

Ende Oktober sei sie dann mit Kinderwagen und einem "Luft zum Atmen"-Banner bei einer Montagsdemonstration gewesen. "Das ging dann schon, obwohl die DDR noch bestand", sagte Körner weiter. Auch Menschen von der damaligen anderen Seite waren auf dem Lichtfest unterwegs, um sich zu erinnern. Ein Mann berichtete, dass er als junger Nachrichtensoldat an jenem Abend im Dienst und froh war, dass er nicht ausrücken musste.

Lichtfest Leipzig 2022
Auf dem Augustusplatz tummelten sich Hunderte Menschen. Traditionell waren auch die Fenster des Panorama Tower als '89 erleuchtet. Bildrechte: MDR/Sina Meißgeier

Was geschah am 9. Oktober 1989?

Die Ereignisse am 9. Oktober 1989 in Leipzig stellen einen Schlüsselmoment der Friedlichen Revolution dar: Mehr als 70.000 Demonstrantinnen und Demonstranten zogen nach dem Friedensgebet von der Nikolaikirche und weiteren Kirchen aus über den Leipziger Stadtring. Die Demonstration blieb friedlich, in der Woche darauf nahmen bereits 150.000 Menschen am Protest in Leipzig teil. Die Berliner Mauer fiel exakt einen Monat später.

MDR (dpa/sme,dkö)

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Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | SACHSENSPIEGEL | 09. Oktober 2022 | 19:00 Uhr

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