Michail Gorbatschow am 3. September 1991
Michail Gorbatschow im September 1991 – die Sowjetunion ist zu diesem Zeitpunkt kaum noch zu retten. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Reaktionen auf Todesnachricht Held oder Verbrecher? Was Osteuropäer von Gorbatschow halten

02. September 2022, 17:43 Uhr

Anders als im Westen ist Michail Gorbatschow in den Ländern Osteuropas keine eindeutige Lichtgestalt. Dank seiner Reformen konnten die ehemaligen Satellitenstaaten zwar aus der Einflusssphäre der Sowjetunion ausbrechen und ihre politische Unabhängigkeit wiedererlangen. Doch Gorbatschow habe auch Blut an den Händen gehabt und die Freiheit der ehemaligen Ostblockländer sei eher ein Betriebsunfall gewesen. Das wird aus den Reaktionen auf Gorbatschows Tod deutlich.

Russland: Totengräber der Sowjetunion oder Friedensstifter?

Russlands Präsident Wladimir Putin hält in seinem knappen Beileidsschreiben fest, dass Gorbatschow "einen großen Einfluss auf den Lauf der Weltgeschichte hatte". Der staatliche TV-Sender Kanal 1 erinnert an Gorbatschow als einen damals jungen, gebildeten und charismatischen Politiker, der frei sprechen konnte, in dessen Amtszeit die Welt friedlicher wurde und die Sowjetarmee Afghanistan und die DDR verließ. Gleichzeitig stellt der Sender fest, dass er mit seiner Anti-Alkohol-Kampagne scheiterte, die Menschen unter Gorbatschow ums Überleben kämpften, die Regale in den Geschäften leer waren und die Sowjetunion zunehmend an Ansehen verlor.

Die regierungskritische Zeitung "Nowaja Gazeta" zieht eine positivere Bilanz: "Er hat uns 30 Jahre Frieden geschenkt – so ein Geschenk wird es nie wieder geben", titelt sie auf ihrer Internetseite. Eigentlich haben die Macher der Zeitung diese bis zum Ende des russischen Krieges in der Ukraine stillgelegt. Doch zum Tod von Michael Gorbatschow machen sie eine Ausnahme. Chefredakteur Dmitri Muratow erinnert an den Staatsmann, der politische Gefangene freiließ, den Krieg in Afghanistan stoppte und das nukleare Wettrüsten beendete. Kolumnist Juri Rost ergänzt: "Gorbatschow hat die Grenzen unseres Landes wirklich erweitert und den Eisernen Vorhang der Bitterkeit und Konfrontation zerstört. Er verstand, dass die Welt eins ist."

Positives Image in Belarus

Ein eher positives Image hat Gorbatschow in Belarus. Dort wird er als ein Politiker betrachtet, der dem Land ohne Blutvergießen und Gewalt die Unabhängigkeit gab. Im Laufe der Jahre hat sich Präsident Alexander Lukaschenko unterschiedlich über Gorbatschow geäußert. Einmal sagte er: "Hätte es Gorbatschow nicht gegeben, wäre ich kein Präsident". Andererseits gab er ihm häufig die Schuld daran, dass "er so ein großes Land zum Scheitern gebracht hat". 2020 hat Gorbatschow außerdem in einem kurzen Kommentar die Proteste in Belarus unterstützt. In den staatlichen Medien wird nun nur ganz kurz vom seinem Tod berichtet. Lukaschenko selbst hat sich am Tag nach Gorbatschows Tod überhaupt nicht dazu geäußert.

Ukraine: Zweifelhafter Umgang mit Tschernobyl und der Krim

In den ukrainischen Medien spielt der Tod von Michael Gorbatschow eine untergeordnete Rolle. Er wird von der ukrainischen Gegenoffensive im Bezirk Cherson und der IAEO-Inspektion im AKW Saporischschja überschattet. Der einstige Staats- und Parteichef hat in der ehemaligen Sowjetrepublik keine gute Presse, berichtet MDR-Ostblogger Denis Trubetskoy aus Kiew. Erinnert werde vor allem an seinen höchst fragwürdigen Umgang mit der Tschernobyl-Katastrophe von 1986, aber auch daran, dass er wenig Verständnis für die Unabhängigkeitsbestrebungen der Ukrainer gehabt habe.

Zwei Männer in Schutzkleidung ziehen einem dritten die Schutzkleidung aus.
In der Ukraine wird Gorbatschows Umgang mit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 bis heute kritisiert. Bildrechte: IMAGO / SNA

Ein Großteil der Ukrainer verübele Gorbatschow außerdem seine Unterstützung für die russische Annexion der Krim, die er 2016 in einem Interview mit "The Sunday Times" äußerte. Offizielle Erklärungen der ukrainischen Staatsführung zum Tod von Gorbatschow seien daher nicht zu erwarten, so Trubetskoy weiter.

Litauen: "Gorbatschow hat Blut an den Händen"

Auch die Litauer sehen Gorbatschow kritisch. Sie verübeln ihm den sogenannten "Blutsonntag von Vilnius" am 13. Januar 1991, als er Panzer und Spezialeinheiten losschickte, um die Litauer zu zwingen, ihre Unabhängigkeitserklärung zurückzunehmen. 14 Menschen kamen dabei ums Leben. "Gorbatschow war ein Verbrecher, der die friedlichen Proteste unterdrückt hat", schreibt auf Facebook Litauens Verteidigungsminister Arvydas Anušauskas. "Die Rolle Gorbatschows wird in Litauen seit langem negativ bewertet", sagt Andrzej Pukszto, Professor für Politikwissenschaft an der Vytautas-Magnus-Universität in Kaunas. Dazu passt eine Aussage, die Litauens erstes Staatsoberhaupt nach der Unabhängigkeit, Vytautas Landsberigs, schon lange vor Gorbatschows Tod gemacht hat: Gorbatschow habe Blut an den Händen.

Begräbnis von Opfern eines Aufstandes in Vilnius im Jahr 1991.
Die Litauer verübeln Gorbatschow das harte Durchgreifen nach der Unabhängigkeitserklärung. Beim "Blutsonntag von Vilnius" im Januar 1991 kamen 14 Menschen ums Leben. Bildrechte: IMAGO / SNA

Algimantas Kasparavičius vom Litauischen Institut für Geschichte nimmt Gorbatschow dagegen in Schutz: Im TV-Sender LRT gab er zu bedenken, dass die Unabhängigkeitserklärung Litauens nicht ohne Gorbatschows Perestrojka möglich gewesen wäre. Persönlichkeiten wie Gorbatschow sollten für ihre "Größe und nicht für ihre Fehler beurteilt werden".

Dankbarkeit in Polen, Tschechien und Ungarn…

Deutlich positiver wird Gorbatschow in den mittel- und osteuropäischen Staaten bewertet, die nicht Teil der Sowjetunion waren, sondern nur zum sowjetischen Einflussbereich (dem sogenannten Ostblock) gehörten. Hier wird vor allem darauf verwiesen, dass er den Weg in die Freiheit geebnet hat. "Er schuf eine Ausgangslage, in der Polen seine Freiheit wiedererlangen, die sowjetischen Streitkräfte nach Hause schicken und der NATO beitreten konnte", sagte Polens ehemaliger Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski dem Internetportal Onet. Aus diesem Grund verdiene er Hochachtung und ein dankbares Gedenken.

Die Russen würden ihn dagegen hassen, glaubt das ehemalige Staatsoberhaupt: "Daran ist Putins Propaganda schuld. Putin will kein demokratisches Russland, Gorbatschow wollte es. Gorbatschow wollte ein freundliches Russland, das mit der Welt kooperiert, Putin will das nicht. (…) Ohne Demokrat zu sein, wünschte er sich instinktiv einen demokratischen Weg für Russland."

Ähnlich äußerten sich viele tschechische Politiker. "Die Politik von Michail Gorbatschow hat zum Fall des Kommunismus und zum Zerfall der Sowjetunion beigetragen", schrieb Ministerpräsident Petr Fiala auf Twitter. Außenminister Jan Lipavský zog auf Twitter eine historische Parallele: "Vom Prager Frühling inspiriert, gab er den Menschen Hoffnung auf Freiheit, die Einhaltung grundlegender Menschenrechte und eine bessere Zukunft Russlands." Ex-Finanzminister Miroslav Kalousek twitterte: "Für mich wird er für immer der Mann bleiben, der den Satellitenstaaten der Sowjetunion den Weg in die Freiheit nicht mit Gewalt verwehrt hat."

Auch in Ungarn erinnert man sich an Gorbatschow als eine bedeutende Figur der Weltpolitik, die einen wesentlichen Beitrag zu einer Wende ohne Blutvergießen leistete und ein Ende der sowjetischen Unterdrückung Ungarns möglich machte. Ungarns Regierung hat bis Mittwochnachmittag nicht auf die Nachricht von Gorbatschows Tod reagiert. Mehrere Oppositionspolitiker würdigten dagegen in den sozialen Medien seine historische Rolle. In der Presse wird öfter darauf verwiesen, dass Gorbatschow im Westen außerordentlich hochgeschätzt wird, in Russland dagegen als umstrittene Figur gilt, die für den Zerfall des sowjetischen Riesenreiches verantwortlich ist. Seine kritischen Aussagen über das Regime Putin werden ebenfalls thematisiert.

…aber auch kritische Stimmen

In die Bekundungen von Dankbarkeit mischen sich aber auch kritische Stimmen. Igor Isajew, ein Ukrainer, der die Fanpage "Als Ukrainer in Polen" betreibt, zählt auf, was Gorbatschow in seinen Augen disqualifiziert: "Ein Mann, der die Sowjetunion erhalten wollte, der in Sachen Tschernobyl gelogen hat, der auf Menschen in Riga und Vilnius schießen ließ, der den Ukraine-Feldzug Putins unterstützt hat."

Witold Jurasz, ein ehemaliger polnischer Diplomat in Russland, pflichtet ihm bei: "Sein Ziel war es, die Sowjetunion zu retten, nicht aufzulösen." Gorbatschow habe wie alle anderen sowjetischen Staatschefs Blut an den Händen gehabt. Der Unterschied bestehe nur darin, dass er beim Anblick von vergossenem Blut eher nachgab als andere, meint Jurasz.

Ähnlich sieht es der tschechische Journalist Pavel Šafr. Er räumt ein, dass Gorbatschow den ehemaligen Ostblock-Staaten den Weg in die Freiheit freimachte – allerdings ungewollt: "Angesicht der zunehmenden Rührung möchte ich daran erinnern, dass unsere Freiheit von Gorbatschow nicht beabsichtigt war. Er hat sie lediglich nicht so stark bekämpft, wie das etwa bei Litauen der Fall war, wohin er noch 1991 Panzer geschickt hat. Erinnerungen an diese Ära sind super, es ist aber Nüchternheit geboten."

(baz)

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Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 31. August 2022 | 19:30 Uhr

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