Missbrauch Betroffene kritisieren Schweigen über sexuelle Gewalt in Sachsens Sportvereinen
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09. Juli 2024, 05:00 Uhr
Vor zwei Jahren hat der Ex-Wasserspringer und mehrfache Olympia-Medaillengewinner Jan Hempel öffentlich angeprangert, dass er seit seinem 11. Lebensjahr jahrelang vom Trainer missbraucht worden sei. "Es ist ein ganz, ganz schwerer Weg", sagt er heute. Gleichzeitig weiß Hempel, dass sich viele Betroffene, die er nach seinem Schritt in die Öffentlichkeit kennengelernt hatte, "völlig allein gelassen fühlen". Hempel: "Ich weiß, dass ich nur die Spitze des Eisberges bin."
In einer Doku der ARD unter dem Titel "Missbraucht - Sexualisierte Gewalt im deutschen Schwimmsport" hatte Hempel in bewegenden Worten berichtet, dass er von 1982 bis 1996 von Trainer Werner Langer sexuell missbraucht worden sei. Dem Deutschen Schwimm-Verband (DSV) warf Hempel eine Kultur des Schweigens vor. Hempel hatte 1997 intern von seinem Martyrium berichtet, der Verband suspendierte Langer - offiziell wegen dessen Stasi-Vergangenheit. Ansonsten schwieg der DSV. Der Beschuldigte trainierte danach in Österreich und brachte sich 2001 um.
Erstmals spricht Radsportler öffentllich über Missbrauch
Hempels Fall berührte auch den Radsportler Robert Wittkuhn aus Dresden. Als er von der Schwere des Missbrauchs bei Jan Hempel und dessen Mut, darüber zu reden, hörte, dachte er, "dass ich erst recht die Kraft dafür aufbringen muss." Daraufhin spricht Wittkuhn erstmals über seinen Fall, der sich vor mehr als 25 Jahren in einem Breitensportverein in Sachsen ereignet habe.
Unter einem Vorwand sei er als 17-Jähriger von einem Vereinsverantwortlichen in eine Wohnung gelockt worden für eine angebliche Regenerationsbehandlung. "Ich dachte erst, vielleicht ist das normal? Ich bin zu ihm nach Hause gegangen", erzählt er MDR SACHSEN. Dann habe der Mann sexuelle Handlungen an ihm vorgenommen und versucht, dass "irgendwie professionell rüberkommen" zu lassen. Wittkuhn wollte den Besuch so schnell wie möglich beenden und auch nicht über die Folgen nachdenken.
Trainer und Betreuer nutzen Beziehungen aus
Zehn Jahre später meldete Wittkuhn die Handlungen des Trainers doch. Vom Verein fühlte er sich abgewimmelt. Es habe geheißen: "'Das sind jetzt alles alte Leute. Die haben ihr Leben für den Verein gegeben, die haben auch versucht damit abzuschließen.' Ja, mit was haben die eigentlich abgeschlossen, mit ihrer eigenen Verantwortung dafür", fragt sich der ehemalige Radsportler frustriert.
Auf Anfrage bestätigt der Verein den Fall. Der beschuldigte Funktionär sei fast zehn Jahre dort ehrenamtlich tätig gewesen. Nach Bekanntwerden der Vorfälle habe man ihn aus dem Verein ausgeschlossen. Derartige Ernüchterungen kennt auch der Ex-Wasserspringer Jan Hempel. Zwar hat er sich außergerichtlich mit dem Deutschen Schwimmverband geeinigt und erhielt 600.000 Euro Schmerzensgeld. Eine extra eingesetzte Aufarbeitungskommission hat aber noch immer keine endgültigen Ergebnisse geliefert. Hempel meint, dass die Sportvereine alleine mit der Aufarbeitung überfordert seien. Übergeordnete Gremien müssten sich einschalten.
Worthülsen und schöne Slogans nützen nichts
Laut einer anonymen Befragung im Herbst 2022 hat bereits jedes fünfte befragte Mitglied eines Sportvereins sexualisierte Handlungen und Gewalt erleben müssen. Psychologische Gewalterfahrungen schilderten zwei von drei Befragten.
Die Präventionsbeauftragte für den Landessportbund Niedersachsen, Anja Jung, weiß, wie schwer Fälle von sexueller Gewalt aufgearbeitet bzw. derartiger Missbrauch verhindert werden können. "Ich kann noch so viele Plakate irgendwo hinhängen oder irgendwelche Slogans entwerfen. Wenn ich das nicht wirklich lebe und wenn es nicht gelingt, das in die Gesamtbreite zu streuen, dann hat es auch keinen Sinn und keinen Zweck."
MDR (kk/smü)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | MDR SACHSENSPIEGEL | 08. Juli 2024 | 19:00 Uhr