Frauen im Thüringer Landtag
Die Thüringer Landtagsabgeordnete Madeleine Henfling (Grüne) setzte gemeinsam mit ihrer Fraktion durch, dass Babys mit in den Plenarsaal des Landtags genommen werden dürfen. (Archivfoto) Bildrechte: imago/Bild13

Vereinbarkeit "Das Mutterschutzgesetz gilt nicht für mich": Mütter in der Thüringer Politik

08. März 2024, 13:28 Uhr

Abgeordnete im Thüringer Landtag haben keinen Anspruch auf Mutterschutz und Elternzeit, auch sonst ist für Mütter kaum etwas geregelt. Warum das ein Problem ist, haben wir zum Beispiel Madeleine Henfling (Grüne) und Lena Saniye Güngör (Linke) gefragt.

MDR Redakteurin Carmen Fiedler
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Nachdem die Landtagsabgeordnete Madeleine Henfling (Grüne) 2018 mit ihrem Baby den Plenarsaal des Landtags betreten hatte, um an einer Sitzung teilzunehmen, wurde sie durch Landtagspräsident Christian Carius des Saals verwiesen. Die Begründung: Babys seien im Plenarsaal nicht erlaubt. "Ich war richtig geplättet, dass ich rausgeworfen wurde. Ich habe gedacht, wir sind schon weiter", erzählt Henfling noch heute.

#babygate in Thüringen

Der Rauswurf Henflings erregte unter dem Hashtag #babygate deutschlandweit Aufmerksamkeit. Fast zwei Jahre später einigten sich Vertreter der Landtagsverwaltung und der Grünen-Fraktion vor dem Weimarer Verfassungsgericht darauf, dass es zukünftig erlaubt sei, Kinder im Alter von bis zu einem Jahr generell mit in den Plenarsaal bringen können. Die Kleinen dürften die Sitzungen des Landtags nur nicht stören. Außerdem wurde im Landtag in der Nähe des Saals ein Stillzimmer eingerichtet.

Ich habe keinen Anspruch auf Mutterschutz, ich habe keinen Anspruch auf Elternzeit, ich habe keinen Anspruch auf Schutzregelungen.

Lena Saniye Güngör (Linke) Thüringer Landtagsabgeordnete

Nun, sechs Jahre später, gibt es wieder eine junge Mutter im Parlament: Lena Saniye Güngör (Linke). Sie hat im Dezember eine Tochter bekommen. Und deshalb hat sie als Landtagsabgeordnete ein Problem: "Das Mutterschutzgesetz gilt nicht für mich. Ich habe keinen Anspruch auf Mutterschutz, ich habe keinen Anspruch auf Elternzeit, ich habe keinen Anspruch auf Schutzregelungen."

Denn als Abgeordnete sei sie keine Arbeitnehmerin, sondern habe einen eigenen formalen Status. "Noch deutlicher als 'es gibt keine Regelung für Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit' kann man gar nicht ausdrücken: Ihr Frauen seid nicht mitgedacht."

Die Landtagsangeordnete Lena Saniye Güngör in Jena 3 min
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Das bestätigt Madeleine Henfling. "Es gibt bis heute keine klaren Regelungen für uns, was zum Beispiel Elternzeit angeht. Das ist in dem System, in dem das Mandat an die Person gebunden ist, immernoch nicht möglich." Auch deshalb sei die Vereinbarkeit von Familie und Mandat nach wie vor eine große Herausforderung.

Die Grundlagen sind so gestrickt, dass Männer Politik machen und Frauen zu Hause auf die Kinder aufpassen.

Madeleine Henfling (Grüne) Thüringer Landtagsabgeordnete

"Ich kann mich nicht mal formal abmelden wegen Geburt", sagt Lena Saniye Güngör. Denn Geburten und die Schutzfristen vor und nach der Entbindung gelten nicht als Entschuldigung. In diesem Fall fehlt man unentschuldigt, übrigens auch, wenn man kranke Kinder zu Hause betreut.

Nicht einmal im Protokoll werde vermerkt, dass man wegen Schwangerschaft, Mutterschutz oder Kinderbetreuung nicht anwesend ist und nicht, weil man gerade keine Lust hat, sagt Henfling. "Da merkt man, dass bestimmte Regelungen von Männern gemacht worden sind."

Die kollidierten jetzt, wo auch jüngere Frauen in den Parlamenten sitzen, mit der Praxis. "Die Grundlagen sind so gestrickt, dass Männer Politik machen und Frauen zu Hause auf die Kinder aufpassen."

Expertenkommission im Landtag erarbeitet Vorschläge

Eine Expertenkommission im Thüringer Landtag arbeitet derzeit an Vorschlägen für ein überarbeitetes Abgeordnetengesetz. Dort sollen laut Henfling auch die oben genannten Punkte berücksichtigt werden, etwa dass es als Entschuldigungsgrund gilt, wenn das Kind krank ist oder dass automatisch in Protokollen vermerkt wird, dass man wegen Kinderbetreuung, Schwangerschaft oder Mutterschutz nicht anwesend sein kann. Doch das sind erstmal nur Vorschläge. Ob sie tatsächlich berücksichtigt werden, bleibt abzuwarten.

Stillzimmer im Thüringer Landtag
Das Stillzimmer im Thüringer Landtag wurde 2018 eingerichtet. Bildrechte: MDR/Katrin Fischer

Eine Stimme weniger für die eigene Fraktion im Landtag

Freilich: Abgeordnete sind nicht verpflichtet, an jeder Landtagssitzung teilzunehmen. Auch müssen sie nicht zwingend bei jeder Abstimmung anwesend sein. Doch das kann zur Folge haben, dass die eigene Fraktion einen politischen Nachteil hat.

"Das macht wirklich etwas aus für Ausschussarbeiten, die Fraktionsarbeit; das macht im Parlament etwas aus und das macht bei jeglichen Abstimmungen etwas aus", sagt Linke-Abgeordnete Güngör. Unter anderem deswegen, weil eine Stimme fehlen würde. Bei Abstimmungen im Thüringer Landtag zählt jede Stimme. Gerade weil Thüringen eine Minderheitsregierung aus Linke, SPD und Grünen hat.

Die Landtagsangeordnete Lena Saniye Güngör in Jena
Die Landtagsangeordnete Lena Saniye Güngör während ihrer Schwangerschaft im November 2023. Bildrechte: MDR/Carmen Fiedler

Das wäre kein Problem, wenn Lena-Saniye Güngör sich für die Zeit vor und nach der Entbindung vertreten lassen könnte - und während der Elternzeit, die es für Abgeordnete nicht gibt. Wenn die oder der nächstgewählte Abgeordnete auf der Liste vorübergehend nachrücken könnte. "Diese Möglichkeit gibt es aber nicht", sagt die Politikerin.

"Das Mandat ist an die Person geknüpft. Das ist der Kernpunkt, der Schwierigkeiten macht", sagt denn auch Madeleine Henfling. Doch das müsse man bundesweit angehen. "Da traut sich leider niemand so richtig ran. Aber das würde zu einer Geschlechtergerechtigkeit in den Parlamenten beitragen."

Warum Parlamente weiblicher werden sollten

Darüber, dass Parlamente weiblicher werden sollten, ist man sich zumindest in der Wissenschaft einig. Die Politikwissenschaftlerin Corinna Kröber, die an der Universität Greifswald Vergleichende Politikwissenschaft lehrt, nannte schon vor Jahren drei offensichtliche Gründe.

Erstens: Es sei eine Frage der Gerechtigkeit. "Wenn Frauen 50 Prozent der Bevölkerung darstellen, warum sollen sie dann nicht auch 50 Prozent der Macht haben?".

Zweitens: Es gehe um eine angemessenere Abbildung der Interessen von Frauen. "Das können weibliche Abgeordnete oft besser, weil sie die Probleme von Frauen kennen, weil sie die gleichen Erfahrungen gemacht haben."

Und drittens: Die Forschung zeige, dass ein hoher Frauenanteil in Parlamenten sich positiv auswirke. "Demokratien werden dadurch beispielsweise stabiler.” Deshalb sagt die Wissenschaftlerin "Politische Arbeit muss besser mit der Familie vereinbar gemacht werden."

Das müsste eigentlich ein breites politisches Thema sein, stattdessen wird es als persönliches Problem gesehen. Es ist aber kein persönliches Problem, sondern ein strukturelles.

Lena Saniye Güngör (Linke) Thüringer Landtagsabgeordnete

Für Lena Saniye Güngör ist das keine Frage. "Wenn ich will, dass Politik repräsentativ ist, ist es wichtig. Zum Schluss ist es eine Demokratiefrage, wer macht überhaupt Politik, wem wird es möglich gemacht, Politik zu machen, wer repräsentiert uns?"

Sie sagt, junge Eltern sollten in der Politik ihren Platz haben und nicht als Sonderfall geregelt sein. "Das müsste eigentlich ein breites politisches Thema sein, stattdessen wird es als persönliches Problem gesehen. Es ist aber kein persönliches Problem, sondern ein strukturelles."

Abgeordnete müssen für Abstimmungen persönlich anwesend sein

Die Strukturen verhindern beispielsweise auch, dass Güngör elektronisch abstimmen kann. Abgeordnete müssen für Abstimmungen persönlich anwesend sein. "Es ist klar, ab einem gewissen Zeitpunkt kann ich nicht mehr da sein. Sobald uns in der Fraktion eine Stimme fehlt, wird das zum Problem." Den Druck, solange es geht durchzuhalten, merke sie enorm, sagt sie.

Abstimmungen mit der Landtagsverwaltung

Am Ende bleibt der Linken-Abgeordneten nur, technische Regelungen mit der Landtagsverwaltung zu treffen. Zu einem ersten Besuch nach der Geburt war die junge Familie schon im Landtag. Der für stillende Mütter eingerichtete Stillraum stehe bei Bedarf zur Versorgung von Kleinkindern oder Babys zur Verfügung, heißt es aus der Verwaltung.

Birgit Pommer
"Zu einem familienfreundlichen und modernen Landtag gehört die Vereinbarkeit von Familie und Mandat", sagte Landtagspräsidentin Birgit Pommer MDR THÜRINGEN. Bildrechte: IMAGO/Karina Hessland

Auch könne sie ihr Baby mit in den Plenarsaal nehmen, solange sie Sorge dafür trage, dass "durch die Anwesenheit des Säuglings der Sitzungsverlauf nicht gestört wird", sagte eine Sprecherin des Landtags MDR THÜRINGEN. Junge Eltern seien im Landtag willkommen.

Landtagspräsidentin Birgit Pommer (Linke) sagte MDR THÜRINGEN: "Zu einem familienfreundlichen und modernen Landtag gehört die Vereinbarkeit von Familie und Mandat." Das habe Vorbildwirkung für ein den Menschen zugewandtes Parlament und für ein lebenswertes Thüringen.

Bundestag-Initiative "Eltern in der Politik"

Schon 2015 hat sich die Initiative "Eltern in der Politik" im Bundestag gegründet. Sie zählt fünf Forderungen auf, um politische Arbeit für Eltern attraktiver zu machen:

  • politikfreie Sonntage
  • familienfreundliche Veranstaltungen an den Wochenenden
  • eine effiziente Sitzungsleitung und einen Zeitplan für Sitzungen
  • flexible Arbeitszeiten, die Abgeordnete als Arbeitgeber ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ermöglichen
  • einen fairen Wettbewerb, soll heißen, dass politische Wettbewerber Rücksicht auf die Familiensituation nehmen.

Abgeordnete können sich selbst zu diesen Punkten verpflichten. Gesetzlich geregelt ist keine der Forderungen, weder im Bundes- noch in den Landtagen. Genauso wenig wie Mutterschutz, Elternzeit, die Möglichkeit zu elektronischen Abstimmungen und Vertretungsregelungen.

MDR (caf)

74 Kommentare

Thomas S. vor 6 Wochen

Was für eine lächerliche Diskussion. Im Thüringer Landtag sind bestimmt ein Dutzend Kinder von Abgeordneten geboren wurden. Frau Wolf hat sogar beide Kinder als Abgeordnete bekommen. Niemand, keine Mutter und kein Vater haben sich beklagt. Nur Frau Henfling und Frau Güngör beklagen sich jämmerlich, um hier so ein Podium zu bekommen. Niemand zwingt Abgeordnete Eltern zu werden. Und ein Mandat ist nicht auf Dauer angelegt. Das sollten sich die beiden Frauen mal vergegenwärtigen, bevor sie in ihrer ohnehin schon höchst privilegierten Position immer noch weitere Privilegien fordern. Es gibt eben Berufe, die Höchstpersönlichkeit fordern. Wer dazu zeitweise nicht bereit sein will, soll ausscheiden und wieder einsteigen, so wie es jetzt wohl Frau Muhsal versucht. Wer das nicht will, soll es gleich lassen.

Sozialberuflerin vor 6 Wochen

Mütter müssen sich mit Reihe von Paradoxen auseinander setzen, z.B.
1. Auf der einen Seite erfährt Mutterschaft als soziale Rolle nur wenig gesellschaftliche Wertschätzung. Auf der anderen Seite hat sie aber für die Mutter selbst eine sehr große persönliche Bedeutung und moralischen Wert.
2.Kindererziehung wird einerseits als etwas "Instinktives" und "Intuitives" bezeichnet; Mütter wüssten von Natur aus, wie sie sich Kindern gegenüber zu verhalten hätten. Andererseits wird behauptet, dass Mütter viele Fehler im Umgang mit ihren Kindern machen würden und sich deshalb an wissenschaftlich fundierten Erziehungsratgebern orientieren sollten.
3. Müttern wird einerseits ein großer erzieherischer Einfluss zugesprochen; andererseits gelten Kinder als durch ihr Erbgut bzw. als durch die Gesellschaft (Kindergarten, Schule, Gleichaltrigengruppe, Medien usw.) geprägt.

Das verrät aber nicht, daß neben Müttern, auch Väter, Großeltern etc. und päd. Fachkräfte zur Erziehung betragen sollten!!

Sozialberuflerin vor 6 Wochen

In der DDR versuchte man ja die Gleichstellung der Geschlechter zu forcieren!
Zumindest wollte man diesen Schein nach außen wahren.
Kostenfreie, bedarfsgerechte Kinderbetreuung ließen Beruf und Mutterschaft vereinbaren.
Ob das für die emotionale Entwicklung förderlich war, bleibt diakutabel und gehört nicht zum Thema!
Mutterschaft UND Beruf waren also Identität der Ostrau!
Nach der Wende waren jedoch die Ost-Frauenrechte passé. Soziale Sicherheit und finanzielle Unabhängigkeit waren "über Nacht", vorallem für Frauen nicht mehr gegeben.
Dementsprechend sanken die Geburtenraten. Heute bleibt in der Bundesrepublik Deutschland rund ein Drittel der Frauen kinderlos - die Mutterschaft spielt für sie keine Rolle.

Warum?

Heute ist der "Stress", der gesellschaftliche Druck, die Gleichberechtigung und die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf ein ganz anderes Level!
Nicht schwerer, nicht einfacher, aber anders und definitiv nicht Familienfreundlich!!!

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