Europawahl Tschechien: Man mag die EU - aber nicht übermäßig

30. April 2019, 21:55 Uhr

Vom 23. bis 26. Mai wird das Europäische Parlament neu gewählt. Auch die Tschechen sind an die Wahlurnen gerufen. Das Land war der Gemeinschaft vor 15 Jahren beigetreten. Mittlerweile sind die Tschechen große EU-Skeptiker und das Schimpfen über die EU hat sich zu einer Art Volkssport entwickelt. Was bedeutet also die EU für eine Tschechin und wie hat sich ihr Land seit dem Beitritt verändert? Eine persönliche Betrachtung unserer Ostbloggerin Helena Šulcová.

Ich reise oft und gerne nach Berlin. Die Strecke mit dem Zug von Prag, über Ústí nad Labem, Bad Schandau und Dresden kenne ich auswendig. Als Tschechien noch nicht zur EU gehörte, ist immer ab Děčín bis nach Bad Schandau die Grenzkontrolle mitgefahren. Man musste seinen Reisepass zeigen. Oft wurde man auch gefragt, was man im Koffer hat, wie lange man in Deutschland bleiben will und was man da vorhat. Dies hat sich verändert: Jetzt kommt nur der Schaffner mit dem typisch sächsischen "Daach!" und fragt nach dem Fahrschein. Wenn man etwas der Europäischen Union zugute halten kann, dann sind es aus meiner Sicht die abgeschafften Grenzkontrollen. 

Zugang zum Arbeitsmarkt 

Von Vorteil sind sicher auch der Zugang zum Arbeitsmarkt in einem anderen EU-Staat oder die Anerkennung von Schulabschlüssen. Vor dem EU-Beitritt musste man eine Arbeitserlaubnis haben, um in der EU arbeiten zu können. Allerdings muss ich aus eigener Erfahrung sagen: Eine gute Arbeitsstelle oder einen Studienplatz in einem anderen EU-Staat bekommt man trotzdem nur dann, wenn man selber Gas gibt und wenn man die Sprache des gewünschten Landes sehr gut beherrscht. Es ist also sowohl ein individueller Erfolg, als auch ein Erfolg der Europäischen Union. 

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Tschechien ist reicher

Tschechien ist in den letzten Jahren reicher geworden. Das Land gehörte immer zu den reichsten des damaligen Ostblocks, jetzt aber nähert sich Tschechien wirtschaftlich den westlichen Ländern an. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist in den letzten 15 Jahren um 20 Prozent gestiegen. Tschechien liegt inzwischen sogar vor Portugal oder Griechenland - zwei Länder, die schon seit den 1980er-Jahren in der EU sind. Wenn man Regionen vergleicht, dann ist die Hauptstadt Prag die siebtreichste Region in der Europäischen Union.

Ist Tschechien aber reich dank der Europäischen Union? Es ist kein Geheimnis, dass Tschechien viele EU-Gelder bekommt, was das Wirtschaftswachstum vor Ort ankurbelt. Die Statistiken der Europäischen Kommission zeigen, dass Tschechien die Hälfte der öffentlichen Investitionen - Straßen oder Forschungszentren - ohne EU-Gelder nicht finanzieren könnte.

EU-Geld ist Lachgeld! 

Obwohl Tschechien mehr Geld von der EU bekommt als es einzahlt, hat dieses Geld einen sehr schlechten Ruf in der Bevölkerung. In Tschechien gab es zahlreiche Korruptionsskandale: Auch wenn natürlich das Geld selbst nicht schuld ist, sondern die Menschen, die sich bereichern wollen, denken viele Tschechen, dass EU-Gelder nur Probleme bringen. Auch meinen die Tschechen, dass damit viele unwichtige Sachen finanziert werden - zum Beispiel Aussichtstürme, die keine Aussicht bieten. In Tschechien spöttelt man: Kann man von dem Aussichtsturm nichts sehen? Dann ist er bestimmt mit EU-Geld finanziert! 

Niedrigste Arbeitslosigkeit in der EU!

Vor dem EU-Beitritt hat man sich in Deutschland Sorgen gemacht, dass die Menschen aus den neuen EU-Ländern wie Tschechien den Arbeitsmarkt in Deutschland überfluten und den Deutschen die Jobs wegnehmen würden. Deutschland und Österreich waren diejenigen Länder, die sehr spät ihren Arbeitsmarkt für uns Osteuropäer geöffnet haben. Erst seit Mai 2011 können die Tschechen ohne Einschränkungen in Deutschland arbeiten.

Für die Tschechen lohnt sich ein Job in Deutschland zwar noch, aber nur wenn man die gleiche oder sogar bessere Position inne hat, als die, die man in Tschechien bekommen kann. In unserem Land sind die Löhne deutlich gestiegen. Ein Grund dafür ist auch, dass Tschechien die niedrigste Arbeitslosenquote in der Europäischen Union hat. Deshalb ist Tschechien heute ein Zielland nicht nur für die Wirtschaftsmigranten aus der Ukraine, Rumänien oder Bulgarien - es lockt auch Arbeitskräfte aus alten EU-Staaten wie Italien oder Spanien.

Rum darf nicht Rum heißen

Wir Tschechen mögen es nicht, wenn sich jemand in "unsere", rein tschechischen Angelegenheiten einmischt. Ein Beispiel: Seit Jahren haben wir ein Alkoholgetränk, das vor dem EU-Beitritt Inländer-Rum hieß ("Tuzemský rum"). Nach den EU-Regeln ist aber unser Rum kein Rum und darf deshalb nicht mehr so genannt werden. So nennt man das Getränk heute nur noch Inländer (Tuzemák).

Auch der traditionelle Butter-Aufstrich ("pomazánkové máslo") darf nicht mehr Butter genannt werden. So heißt diese Aufstrichsorte jetzt nur noch "traditioneller Aufstrich"! Das ist keine große Sache, aber man fragt sich schon, ob die EU nichts besseres zu tun hat, als die Länder mit solchen Vorschriften zu bevormunden. In Tschechien sagt man: Die Zehn Gebote haben nur 179 Wörter, aber die EU-Richtlinie über den Verkauf von Kraut hat unglaubliche 26.911 Wörter. 

Finger weg von unserem Gulasch! 

Um fair zu sein: Es wurden auch viele Fake-News über die EU verbreitet. So haben wir Tschechen uns zum Beispiel vor dem EU-Beitritt Sorgen um unser Gulasch gemacht. Es hatte sich die Nachricht verbreitet, dass eine EU-Richtlinie den typischen Gulasch-Geschmack verändern will. Um den zu bekommen, muss man nämlich das Gulasch nicht nur gut kochen, sondern es dann auch noch auf dem Herd bei Zimmertemperatur lange stehen lassen. Das Gulasch schmeckt nämlich aufgewärmt noch viel besser als am ersten Tag.

Gulasch
Vor dem EU-Beitritt schenkten viele Tschechen einem Gerücht Glauben, wonach die traditionelle Art der Gulaschzubereitung in der EU verboten sei. Bildrechte: Colourbox

Die EU-Richtlinie, so lautete das Gerücht, würde dies nicht mehr erlauben: Spätestens drei Stunden nach dem Kochen müsse das Gulasch serviert oder gekühlt werden, hieß es. Das war aber falsch. Die EU-Vorschriften enthalten keine Deadline, die vorschreibt, bis wann das fertige Gulasch verspeist werden muss. Mehr noch: Die Drei-Stunden-Frist war eigentlich eine einheimische Hygiene-Anordnung, die schon seit den achtziger Jahren galt! 

Kein Czexit

Die Tschechen sind inzwischen nicht mehr die armen Verwandten aus dem Osten. Tschechien ist ein reiches, selbstbewusstes Land - auch dank der Vorteile, die die EU-Mitgliedschaft uns bringt. Trotzdem werden wir noch weiter über die EU meckern. Wir sind eben Skeptiker, skeptisch gegenüber allem, nicht nur gegenüber der EU! Ein Czexit kommt aber meiner Meinung nach nicht in Frage. Dafür sind wir Tschechen wiederum viel zu pragmatisch.


Über dieses Thema berichtete der MDR auch in der HIO-Reportage "Die "Neuen" – So geht’s Europas Osten" im TV: 27.04.2019 | 18:00 Uhr

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