Bildung Tschechien: Abschied vom Lernen wie in sozialistischen Zeiten?

Warum immer mehr tschechische Eltern ihre Kinder so früh wie möglich aufs Gymnasium schicken wollen

04. September 2020, 19:08 Uhr

Anders als in Deutschland setzt das tschechische Schulsystem vor allem auf gemeinsames Lernen. Doch immer mehr Eltern versuchen, ihre Kinder auf Elitegymnasien zu schicken, die bereits ab der sechsten Klasse beginnen.

Tschechischer Schuljunge
Geschafft: Ein tschechischer Schüler darf aufs Gymnasium Bildrechte: imago images/CTK Photo

Vergangenen Dienstag hat auch in Tschechien die Schule angefangen. Für Adam bedeutet das einen Neuanfang. Denn seit diesem Schuljahr geht der 11-Jährige auf eines der prestigeträchtigen achtjährigen Gymnasien des Landes. Dafür hat er das gesamte letzte Schuljahr hart gearbeitet: Denn der Weg dorthin führt über eine schwierige Aufnahmeprüfung in den Fächern Mathematik und Tschechisch, in manchen Fällen wird noch die erste Fremdsprache geprüft. Die Fragen werden von einer zentralen staatlichen Stelle ausgearbeitet und ausgewertet. Ohne monatelanges Lernen und spezielle Vorbereitung gibt es kaum eine Chance auf Erfolg.

Ein Junge steht vor einem Schultor, hinter ihm gehen Kinder und Erwachsene vorbei.
Nur ein bisschen aufgeregt, weil er gut vorbereitet ist: Adam vor seiner Prüfung. Bildrechte: MDR

Einen Platz findet im landesweiten Schnitt ohnehin nur einer von drei Bewerbern, im bildungsbewussten Prag und an begehrten Schulen in anderen Landesteilen steigt die Quote auch mal auf eins zu zehn. Wegen Corona hatten die Kinder zudem in diesem Jahr nur einen statt der regulären zwei Versuche. Die Folge: Der Druck war immens. Adam gibt sich tapfer: "Ich vertrage das gut – ich bin aus der Schule daran gewöhnt. Ich muss die ganzen Tests machen. In der Schule machen wir auch Tests, aber andere. Also, es geht schon".  Weil er sich gut vorbereitet fühlt, ist er direkt vor der Prüfung nur ein bisschen nervös:  Hinterher sagt er: "Es war gut – aber ich bin froh, dass ich das jetzt hinter mir habe!"  

Für die Kinder ist es die erste große Bewährungsprobe – und für einen großen Teil von ihnen auch die erste große Erfahrung des Scheiterns. Adams Mutter Pavla erklärt, warum sich der Stress für Ihren Sohn auszahlen wird: "Die normalen Schulen sind nicht so gut wie das Gymnasium. Das Niveau ist schlechter – und für mich ist die Ausbildung wichtig. Sehr wichtig."

Der Staat setzt auf neun Jahre gemeinsames Lernen

Dabei setzt Tschechien eigentlich auf ein langes gemeisames Lernen, auf ein egalitäres Schulsystem, wie man es beispielsweise noch aus der DDR kennt. Die normale Grundschulzeit beträgt neun Jahre – schwache und starke Kinder sollen hier zusammenbleiben. Erst mit 15 Jahren entscheiden sich die Kinder dann im Normalfall für eine weiterführende Schule. Vielleicht ist das auch mit einer der Gründe, warum es in Tschechien vergleichsweise wenige Schulabbrecher gibt. Im EU-Vergleich liegt das Land auf einem guten achten Platz - die wenigsten gibt es in Kroatien.

Die Spanne der weiterführenden Schulen ist vielfältig. Zur Wahl stehen einerseits Lehranstalten, die direkt eine praktische Berufsausbildung bieten, etwa für Fräser oder Friseure, dann gibt es noch spezialisierte Fachschulen mit mittlerem Bildungsniveau, etwa für Verwaltung oder IT. Dazu kommen Konservatorien und Kunstschulen oder auch das klassische – in diesem Falle noch vierjährige – Gymnasium. Auch hier gibt es eine zentrale, staatliche Aufnahmeprüfung, auch hier gilt es, gut zu überlegen, an welchen Schulen man die möglichen zwei Bewerbungen abgibt und wie die eigenen Chancen stehen, um nicht am Ende ohne Schulplatz dazustehen.

Was ist besser für die Kinder? Auch in Tschechien gehen die Meinungen darüber auseinander

Ähnlich wie in Deutschland haben auch bei unseren Nachbarn die Eltern unterschiedliche Vorstellungen, was richtig für ihr Kind ist. Viele sind davon überzeugt, dass langes gemeinsames Lernen gut ist: "Ich glaube das Kind muss reif sein, bevor es auf eine weiterführende Schule geht – damit es weiß, in welche Richtung es eigentlich will", sagt die Mutter einer Schülerin, die gerade die neunte Klasse auf der Grundschule absolviert hat. "Ich kenne viele Kinder, die von ihren Eltern jeden Tag zum Büffeln angetrieben werden, um auf eine sogenannte gute Schule zu kommen – und dann sind die Kinder da unglücklich."

Frau mit zwei kleinen Jungs sitzt vor einem Laptop. Alle schauen auf den Bildschirm.
Die Spannung steigt: Adam und seine Familie rufen die Prüfungsergebnisse im Internet ab. Bildrechte: MDR

Doch immer mehr Eltern halten nichts von der neunjährigen Grundschule. Während die Pädagogen von Inklusion und gemeinsamem Lernen reden, hat sich ein gegenläufiger Trend herausgebildet. In der Absicht, ihren Kindern die besten Chancen und die beste Bildung zu sichern, wenden sich die Eltern ab von der aus ihrer Sicht gleichmachenden Grundschule. Das tschechische Schulsystem sieht gleich zwei Abzweigungen vor, die sogenannten mehrjährigen Gymnasien. Start - wie bei Adam - ab der sechsten Klasse, oder als sechsjähriges Gymnasium zwei Jahre später. Beide Schulformen waren einst gedacht als Eliteinstitute, als Spezialschulen für die besten zehn oder 15 Prozent eines Jahrgangs - wie die erweiterten Oberschulen in der DDR.

Vor allem unter den bildungsbewussten Großstädtern wird der Zustrom inzwischen aber immer größer. So bewerben sich inzwischen landesweit 16 Prozent eines Jahrgangs auf das achtjährige Gymnasium, in der Hauptstadt Prag sind es gar 31 Prozent. Damit einher geht der Abstieg der Grundschule zur  Verwahranstalt für die Übriggebliebenen. Hier haben viele Kinder nach dem Weggang der frisch gebackenen Gymnasiasten das Gefühl, nur übriggeblieben zu sein. Die chronische Unterfinanzierung des tschechischen Schulwesens und der Mangel an qualifizierten Lehrern trägt noch weiter dazu bei, dass die unattraktiveren Schulen abgehängt werden.

Die Herkunft bestimmt den Bildungserfolg

Ob das tschechische System mit neun Jahren Grundschule oder das deutsche mit mehrheitlich vier Jahren besser ist, lässt sich zumindest anhand der Pisa-Ergebisse der beiden Länder nicht ablesen. Beide liegen im vorderen Mittelfeld der OECD-Länder, Tschechien wird nur wenig schlechter bewertet als Deutschland. Die Schulsysteme der beiden Nachbarländer haben auch dieselbe Schwachstelle: Bei der Bildungsgerechtigkeit schneiden beide um einiges schlechter ab als der OECD-Durchchnitt, d.h. in beiden Ländern hat die soziale Herkunft maßgeblichen Einfluss darauf, welchen Bildungsabschluss ein Kind erreicht. Zwar steht Tschechien in diesem Bereich etwas besser da als Deutschland - aber die Studien zeigen auch, dass sich die Situation im Land eher verschlechtert. Grundsätzlich zeigen die Pisa-Studien aber auch, dass es in Ländern, die Kinder nach Leistungsniveau getrennt in verschiedenen Schulen unterrichten, eher mehr Schüler mit unterdurchschnittlicher Lesekompetenz gibt.

Bemerkenswert ist auch die spiegelverkehrte Entwicklung in den Nachbarländern: Während in Tschechien viele Eltern versuchen, ihre Kinder frühzeitig auf getrennte Schulen zu bringen, wurde in Sachsen im Juli ein Gesetz verabschiedet, dass die Gemeinschaftsschule als zusätzliche Schulform einführt – auf Wunsch vieler Eltern.

Die Politik will die Chancengleichheit fördern

Schulminister Robert Plaga (ANO) hält derweil am längeren gemeinsamen Lernen fest, um so für mehr Chancengleichheit zu sorgen. Deshalb will er die neunjährige Grundschule stärken. In seinem jüngst vorgelegten Entwurf zur Bildungskonzeption 2030+ plant er deshalb eine Reduzierung der derzeit so beliebten mehrjährigen Gymnasien. Die bisherigen Erfahrungen zeigten, dass eine vorzeitige Selektierung die Ungleichheit stärke, so Plaga. Zugleich räumte er ein, dass der der erste Schritt die deutliche qualitative Anhebung der Grundschulen sein müsse. Die kritische Haltung gegenüber Eliteschulen kommt aber nicht bei allen tschechischen Eltern gut an – viele fühlen sich an die Gleichmacherei aus sozialistischen Zeiten erinnert. Sie betonen, dass Bildung der wichtigste Rohstoff der Landes sei – und der einzige Weg, um nicht auf ewig das Billiglohnland im Osten Europas zu bleiben. Die Gymnasiasten sollen auf diesem Weg die Vorhut sein.

Adam hat es geschafft, er hat seine Prüfungen bestanden. Sein bester Freund Maxim hingegen hat bei den Tests nicht so gut abgeschnitten, er wird wohl weiter auf die Grundschule gehen, und ist traurig: "Ich habe so viel geübt und gebüffelt, ich habe so viel versucht, ich habe alles gegeben – so viel Mühe – und dann hat es nicht geklappt", sagt er. Adam hat da wenig Tröstliches zu sagen: "Ja - so ist das bei der Aufnahmeprüfung. Das gehört auch dazu. Das ist eben so eine Entscheidung fürs Leben. Eine ganz wichtige." Die Wege der beiden 11-Jährigen werden sich jetzt trennen.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL RADIO | 15. Juli 2020 | 16:00 Uhr

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