Der polnische Wirtschaftswissenschaftler Leszek Balcerowicz, ehemaliger Vizepremierminister von Polen.
Der polnische Ökonom und Vize-Premier Leszek Balcerowicz im Jahr 2016. Bildrechte: imago/Ukrainian News

Privatisierung von Volkseigentum- Polen: Marktwirtschaft schon vor der Wende eingeführt

15. März 2020, 11:28 Uhr

Nach dem Ende der DDR wurde die Treuhand-Anstalt gegründet, um volkseigene Betriebe zu privatisieren. Bis heute ist das Ergebnis umstritten. Anders in Polen: Hier wird die radikale Privatisierung kaum in Frage gestellt.

Einige deutsche Experten staunten nach 1989 nicht schlecht: Polen hatte bereits unter der kommunistischen Regierung die Grundsteine für das neue kapitalistische System in ihrem Land geschaffen – viele Unternehmen wurden bereits vor der politischen Wende privatisiert und Hunderttausende wurden schon vor dem Systemwechsel auf eine Selbstständigkeit vorbereitet. Grundstein dafür legte das "Wilczka-Gesetz" vom 1. Januar 1989, benannt nach dem damaligen Industrieminister Mieczysław Wilczka. Es legalisierte die private Wirtschaftstätigkeit und handelte nach den Grundsätzen "Was nicht verboten ist, ist erlaubt".

"Balcerowicz-Plan" galt als Schocktherapie

Schnell folgten weitere Gesetze, die das Land radikal umbauten: Der damalige Finanzminister Leszek Balcerowicz stellte bereits im Herbst 1989 zehn Wirtschaftsgesetze vor. Sein "Balcerowicz-Plan" sah vor, Subventionen für Nahrungsmittel, Energie und Wohnen abzuschaffen, unrentable Großbetriebe zu privatisieren und ausländische Investoren ins Land zu lassen.

Balcerowicz war so der Annahme, dass es nur eine kurze Eingewöhnungsphase geben würde und die polnische Wirtschaft danach stetig wachsen würde. Zunächst wurden kleinere staatliche Betriebe besonders aus dem Einzelhandel- und Dienstleistungssektor in Privatunternehmen umgewandelt. Oftmals entschiedenen die Kommunen selbst, wem sie die Pacht auch in Hinblick auf das Gemeinwohl erlaubte. Ab 1993 kam es dann zur Massenprivatisierung, weil der Strukturwandel sich nicht schnell genug vollzog.

Ärmel hochkrempeln und zum Westen aufschließen

Der polnische Staat verfolgte von Anfang an eine unerschütterliche Politik der wirtschaftlichen Liberalisierung. "Die Ärmel hochkrempeln und zum Westen aufschließen“, galt als die Lösung. Doch der Plan ging nicht vollends auf: Polen startete mit denkbar ungünstigen Voraussetzungen in die Marktwirtschaft. Der Staat war hoch verschuldet und die Inflation erreichte Anfang der 1990er Jahre einen Negativrekord. Das Bruttoinlandsprodukt sank 1990 und 1991 um 18 Prozent und die Industrieproduktion um fast ein Drittel. 1992 waren bereits 2,3 Millionen Polen arbeitslos.

Und hier lag auch eines der Hauptprobleme der Privatisierung großer Unternehmen in Polen, sagt der Historiker Witold Orłowski. Polen hatten zu wenig Kapital, um es selbst zu kaufen. Viele ehemalige Staatsbetriebe gingen an Unternehmen im Ausland. Es gab wenig Ressourcen des inländischen Kapitals. Viele der Betriebe wurden deshalb an ausländisches Kapital verkauft.
Zudem wurden einige Sektoren trotz der ursprünglichen Pläne nicht privatisiert. Viele gelten als unrentabel, wie beispielsweise der Bergbau. Sie liegen dem Staatshaushalt bis heute auf der Tasche.

Immerhin gelang es seit der Wende auf diese Weise tatsächlich, Wirtschaftsleistung und Lebensstandard enorm zu heben. Doch um diejenigen, die in der neuen Realität nicht klar kamen, kümmerte sich der Staat kaum. Polen baute nach 1989 eine Marktwirtschaft nach US-amerikanischem Vorbild auf – mit vielen Freiheiten für die Unternehmen und wenig staatlicher Regulierung, keine "soziale Marktwirtschaft" nach deutschem Vorbild.

Trotzdem habe statistisch gesehen praktisch jeder Pole gewonnen, sagt der Historiker Witold Orłowski: "Was bei einem dreifachen Anstieg des BIP seit 1991 nicht überraschend sein sollte." In Polen sei es schwierig, wirklich über die Gewinner und Verlierer des Privatisierungsprozesses zu sprechen. Es gehe vielmehr um Gewinner und Verlierer der Transformation: Junge, gut Ausgebildete sind glücklich in großen Städten; Ältere, weniger gebildete Menschen aus kleineren Städten und Dörfern betrachten sich bis heute als Verlierer.

Wie viele Betriebe wurden privatisiert?

Bis heute ist nicht festzustellen, wie viele Staatsbetriebe in Polen privatisiert worden sind. Das Statistische Zentralamt, die Regierung oder die lokalen Behörden wissen bis heute nicht, wie viele Unternehmen verkauft wurden, geschweige denn für wie viel. Das ergab eine Studie des GRAPE-Forschungszentrums und der Universität Warschau. "Unser Staat hatte ab Anfang der 1990er Jahre kein verlässliches Vermögensregister", sagt Wissenschaftler Piotr Szewczyk. Rückblickend seien die Prozesse zur Eigentümertransformation jedoch recht erfolgreich gewesen.

Die Wissenschaftler haben ebenfalls herausgefunden, dass viele negative Mythen, die über die Privatisierung in Polen kursierten heute widerlegt werden können: So stimmen Geschichten über den Diebstahl von Vermögenswerten und große Insolvenzen in den ersten Jahren der Transformation nicht mit den Daten der Forscher überein. "Unsere kollektive Wahrnehmung von Privatisierungsprozessen in den ersten Jahren der Transformation wird nicht durch Daten bestätigt", sagt Joanna Tyrowicz aus dem Forschungsprojekt.

Die Privatisierung ist Gegenstand heftiger Kritik von anti-liberalen Politikern, insbesondere von rechten Politikern. Im Allgemeinen denken die Polen, dass es entweder ein Fehler war ("Verkauf für so gut wie nichts") oder dass es besser hätte gemacht werden können. Dies ist jedoch eher ein ideologischer als ein praktischer Streit, sagt der Historiker Witold Orłowski.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Der große Preis - Die Treuhand und der Osten | 01. März 2020 | 20:15 Uhr

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