Rabbiner Elischa M. Portnoy
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MDR Kultur | 23.06.2022 Elischa M. Portnoy: "Schlach Lecha" – Der G’ttliche Plan

23. Dezember 2021, 14:49 Uhr

Geistiges Wachstum und spirituelle Reife sind nicht fern der Welt zu erlangen. Im Gegenteil: Gott erwartet von uns, dass wir uns den Herausforderungen der Welt stellen – und uns so weiterentwickeln, meint Rabbiner Elischa Portnoy in seiner Auslegung des Wochenabschnitts.

In unserem Wochenabschnitt "Schlach Lecha" ("Sende dir") lesen wir, wie G’tt Mosche befiehlt, Kundschafter zum Land Kenaan zu senden, um seine Eroberung vorzubereiten. Mosche ruft die Fürsten aller zwölf Stämmen zu sich und beauftragt sie mit dieser Aufgabe. Leider läuft dieses Unternehmen gewaltig schief: als die Kundschafter nach vierzigtägiger Reise zurückkehren, verkünden zehn der zwölf Gesandten, dass es unmöglich sei, das Land zu erobern. Die Bewohner seien zu stark, die Städte gut geschützt und außerdem liefen Riesen dort herum.

Wieso zweifeln die erfahrensten Männer?

Obwohl zwei der Kundschafter versuchten, das Volk zu überzeugen, dass mit G’ttes Hilfe alles möglich sei, hat das jüdische Volk den zehn zweifelnden Spionen geglaubt und sich gegen die Eroberung des Landes ausgesprochen. Das war ein unglaublicher Affront gegen G’tt, denn: Er selbst hatte versprochen, die Juden ins Heilige Land zu führen und bei der Eroberung zu helfen. Infolge dieser Sünde wurde das Volk zur vierzigjährigen Wanderung in der Wüste verdammt, und alle Erwachsenen über 20 Jahre sollten in dieser Wüste sterben. Erst ihre Kinder würden das gelobte Land betreten. Es stellt sich sofort die Frage, wie diese zehn Kundschafter, die die Besten und Würdigsten ihrer Stämme waren, dazu kamen, an G’tt und seinem Versprechen zu zweifeln?! Denn es waren die Männer, die mit eigenen Augen einmalige Wunder wie die zehn Plagen in Ägypten, die Spaltung des Roten Meeres und das G’ttliche Brot Man gesehen hatten.

Der 7. Ljubawitscher Rebbe, Rabbi Menachem Mendel Schneerson, gibt eine erstaunliche Antwort auf diese Frage. Gerade weil die Kundschafter so gut waren und mit besten Absichten handelten, haben sie diesen Fehler gemacht. Die Fürsten haben gemeinsam überlegt, dass das Volk in der Wüste perfekte Bedingungen für spirituelles Wachstum hat: Menschen müssen nicht arbeiten, nicht kochen, sogar die Kleider wurden von wunderbaren Wolken gewaschen. Alles, was sie machen müssen, war das Lernen der Thora, die das Volk von G’tt bei der Offenbarung auf dem Berg Sinai bekommen hatte.

Im Alltag ein gerechter Mensch bleiben

Sollte das Volk aber das gelobte Land tatsächlich erobern, würden die Menschen mit Bauen, Handeln, Landwirtschaft treiben so beschäftigt sein, dass ihnen keine Zeit für das Lernen und für Gebete bleiben würde. Deshalb haben die zehn Kundschafter entschieden, mit einer Lüge das Volk in der Wüste zu belassen, um das hohe geistige Level, die es bisher erreicht hatte, nicht zu verlieren. Auch wenn diese Idee plausibel ist, war sie ein fürchterlicher Fehler. Denn der Plan G’ttes war, dass die Juden das versprochene Land erobern und trotz Bau, Handel und Landwirtschaft spirituell nicht fallen, sondern weiter steigen. Sogar mehr: All diese Tätigkeiten sollten die Juden dabei nicht stören, sondern ihnen umgekehrt helfen! Es gibt zahlreiche Gebote, die mit dem Land und der Wirtschaft verbunden sind. Und mit Hilfe dieser Gebote sollte sich das Volk geistig steigern und nicht fallen. Es ist leicht, als Tzaddik (Gerechter) in Askese, abgeschottet, fern von Herausforderungen und Versuchungen zu leben. Jedoch mitten in der Gesellschaft zu leben, zu studieren, zu promovieren, zu arbeiten und dabei ein Gerechter zu bleiben – das ist die echte Herausforderung.

Und das ist genau das, was G’tt von uns möchte. Er hat uns nicht zu Engeln gemacht, G’tt hat genug Engel in Seinen Hohen Welten. G’tt hat uns als Menschen erschaffen und in diese materielle Welt hineinversetzt. Und Er erwartet von uns, dass wir in einer Gesellschaft leben und uns mit dieser Welt beschäftigen. Das soll uns jedoch nicht davon abhalten spirituell zu wachsen, sondern umgekehrt: durch die Beschäftigung mit dieser Welt sollen wir die Herausforderungen überwinden und dabei gerecht leben, handeln und arbeiten und auch die Zeit für G’tt finden. Das war der Plan G’ttes, den die Gesandten leider nicht verstanden haben. Diesen Plan sollen wir jetzt in unserem Leben umsetzen.

Schabbat Schalom!

Zur Person: Elischa M. Portnoy Rabbiner Elischa M. Portnoy wurde 1977 in Nikolaew in der Ukraine geboren. Seit 1997 lebt er in Deutschland. 2007 erwarb er das Diploms im Fach Ingenieur-Elektrotechnik an der TU Berlin. 2012 schloss er seine Ausbildung am Rabbinerseminar zu Berlin ab und erhielt die Smicha. Seit 2014 ist er als Gemeinderabbiner in Dessau-Roßlau tätig, seit 2018 fungiert er auch als Gemeinderabbiner in Halle / Saale. Rabbiner Elischa M. Portnoy ist Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschlands (ORD).

Schabbat Schalom bei MDR KULTUR Die Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.

Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.

"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR | 24. Juni 2022 | 15:45 Uhr