MDR Kultur | 06.05.2022 Schabbat Schalom mit Ruth Röcher: "Liebe Deinen Nächsten"

23. Dezember 2021, 14:49 Uhr

Wo ein gutes Miteinander gelingt, denken Menschen nicht nur an sich selbst. Sie arbeiten auch an guten Beziehungen – zu anderen und zu Gott. Das meint die Aufforderung "Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst", die in diesem Wochenabschnitt – Kedoschim Tiheiu – an zentraler Stelle steht. Übersetzt heißt das: "Heilig sollt ihr sein". Ruth Röcher, Religionspädagogin und Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Chemnitz, hat sich darüber Gedanken gemacht für "Schabbat Schalom" bei MDR Kultur.

Unser Wochenabschnitt aus dem 3. Buch Mose, Kapitel 19 und 20, hat einen ganz besonderen Namen: "Kedoschim Tiheiu", das heißt übersetzt: "Heilig sollt ihr sein" oder auch "Heilig werdet ihr sein".

Ich möchte den ersten Vers aus Kapitel 19 in der Übersetzung von Leopold Zunz zitieren: "Und der Ewige redete zu Mosche also: 'Rede zu der ganzen Gemeinde der Kinder Jisrael und spricht zu ihnen: Heilig sollt ihr sein, denn heilig bin ich, der Ewige, euer G'tt.'"

Gebote für ganze Spektrum des Lebens

Nach diesem Vers folgt eine Auflistung von Geboten und Verboten, die ein großes Spektrum des Lebens abdecken: zwischenmenschlichen Beziehungen, Umgang mit den landwirtschaftlichen Erträgen und Beziehungen zwischen dem Ewigen und dem Einzelnen.

Zu zwischenmenschlichen Beziehungen finden wir unter anderem folgende Vorschriften: Verbot der Lüge, des Betrugs und Diebstahls, Gleichheit vor Gericht, Gebot des fairen Umgangs miteinander und Vereitelung sexueller Beziehungen in Familienstrukturen – und als Krone der zwischenmenschlichen Beziehungen das Gebot der Nächstenliebe.

Die Ernte von Feldern und Weinbergen soll so erfolgen, das etwas für die Armen übrigbleibt. Und die Früchte von Obstbäumen dürfen erst im fünften Jahr gegessen werden.

Der dritte Bereich umfasst die Beziehungen zwischen dem Ewigen und dem Einzelnen mit verschiedenen Reinheitsgeboten und dem Verbot des Götzendienstes. Der Bezug einiger dieser Vorschriften zu den Zehn Geboten ist sehr deutlich.

"Rede zu der ganzen Gemeinde der Kinder Israels"

An zentraler Stelle steht das Gebot "Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst": ואהבת לרעך כמוך . Dieser Gedanke der Tora, dessen Anwendung im täglichen Leben von jüdischen Gelehrten kontrovers diskutiert wurde, wurde auch zur zentralen Idee im Christentum und im Islam.

Unsere Gelehrten haben jedem Wort in der Tora Bedeutung zugemessen. Das 3. Buch Mose enthält immer wieder die Anweisung des Ewigen an Mose: "Rede zu den Kindern Israels", und dann folgen unterschiedliche Gebote oder Verbote. Nur in unserem Wochenabschnitt wird diese Anweisung durch das Wort "Kol", übersetzt "ganz", erweitert: "Rede zu der ganzen Gemeinde der Kinder Israels". דבר אל כל עדת בני ישראל. Moses wird hier ausdrücklich gefordert, zum gesamten jüdischen Volk zu reden.

Es geht auch um das Tun und die Geltung der Gebote für alle

Raschi, einer der bedeutendsten jüdischen Gelehrten des Mittelalters, der ab 1055 auch in den jüdischen Gemeinden in Worms und Mainz wirkte, begründet diese Aufforderung damit, dass sich alle wesentlichen Gedanken der Tora in diesem Wochenabschnitt befinden. Andere Rabbiner sind der Auffassung, dass hier die zehn Gebote mit anderen Worten wiedergegeben werden. Es war für den Ewigen besonders wichtig, dass alle, das ganze Volk Israel, diese Worte hörte und verstand. Aber es geht im Judentum nicht nur um das Hören und Wissen der Gebote und Verbote, sondern vielmehr um das Tun. Alle sollen die Gebote erfüllen und Verbote beachten, vom Gelehrten bis zum einfachen Volk, vom Reichen bis zum Armen, ob Jung oder Alt. Alle sind dazu verpflichtet.

Was bedeutet das, heilig zu sein?

Zurück zum ersten Vers und der Aussage "Heilig sollt ihr sein". Was bedeutet das, heilig zu sein? Der Begriff "Heiligkeit" wird in der Tora nicht genau definiert. Im jüdischen Kontext ist etwas heilig, wenn es im Rahmen der Beziehung zwischen dem Ewigen und Mensch gebraucht wird. Der Schabbat wird heilig, indem der Mensch ihn mit dem Sinn erfüllt, den der Ewige vorgeben hat. Wenn wir den heutigen Wochenabschnitt betrachten, wird deutlich, dass er sich auf Gerechtigkeit und soziales Miteinander fokussiert. Der Ewige erwartet von uns, dass wir uns nicht nur als Individuum betrachten, sondern als Teil einer Wertegemeinschaft, die soziale Gerechtigkeit und Frieden beinhaltet. Regeln dafür hat uns der Ewige im Form von Ge- und Verboten vorgegeben. In diesem Sinn verliert Heiligkeit ihren abstrakten Charakter und rückt in die Mitte unseres Handelns.

Schabbat Schalom!

Zur Person: Ruth Röcher Geboren 1954 in Israel. Seit 1976 in Deutschland. Studium der Pädagogik und Judaistik an der GHS Siegen und GHS Duisburg. Promotion zum Thema "Die jüdische Schule im nationalsozialistischen Deutschland 1933–1942". Von 1994 bis 2019 Religionspädagogin für den Landesverband Sachsen der Jüdischen Gemeinden, der die Gemeinden in Chemnitz, Dresden und Leipzig umfasst. Seit 2006 Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Chemnitz. Mutter von zwei Kindern.

Schabbat Schalom bei MDR KULTUR Die Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.

Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.

"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR | 06. Mai 2022 | 15:45 Uhr