Sonnabend, 01.08.2020: Den Menschen wahrnehmen
Bei Dresdens ältestem erhaltenem Denkmal muss man genau hinschauen um der Kurfürstenwitwe Agnes von Hessen ins Gesicht blicken zu können. Auf dem Moritzmonument an der Außenmauer der Jungfernbastei steht sie hinter einer Säule. Ihr Gesicht ist halb durch einen hochgezogenen Kinnschleier verdeckt. Diese sogenannte Klagebinde war im späten Mittelalter Sinnbild für das Verstummen während der Trauerzeit. Adlige Witwen trugen sie. Für sie war das zugleich eine Art Schutz. So erkannten andere die besondere Situation und konnten Rücksicht nehmen.
Ob den trauernden Edelfrauen damals an warmen Sommertagen auch Schweißperlen unter der Nase standen, so wie mir heute unter meinem Mund- Nasen-Schutz? Ehrlich gesagt kann ich mich noch immer schwer dran gewöhnen. Aber ich verstehe, dass auch dieses Stück Stoff dazu beiträgt uns gegenseitig zu schützen. Während den Frauen im Mittelalter durch den Kinnschleier zu Gute kam, nicht so viel reden zu müssen, ist es heute auch das, was die Gesichtsmaske leider behindert: Kommunizieren, gegenseitiges Verstehen.
Man erkennt schwer, ob hinter dem Mund-Nasen-Schutz jemand traurig ist. Kann selbst kaum Anteilnahme zeigen. Der Stoff verhüllt das halbe Gesicht. Wir müssen dahinter schauen, vielleicht die Stimme des Gegenübers hören, um zu verstehen, was der andere braucht. Und das ist letztlich genauso wie vor 500 Jahren. Ob mit oder ohne Stoff im Gesicht. Es geht darum, den Menschen wahrzunehmen. Auch und gerade dann, wenn er traurig ist, einsam, unsicher. Ob Maske oder nicht: Die Augen lächeln das Gegenüber an. Man kann etwas Freundliches sagen. Etwas schreiben. Hilfe anbieten.
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