Dienstag, 08.06.2021: Der Ehrlicher
Der Ehrlicher war der Typ Mensch, den alle in unserer Kleinstadt kannten. Ein echtes Original. Schwarzes, strubbeliges Haar. Dichter Vollbart. Baskenmütze auf dem Kopf. Sommers wie winters sah man ihn im immer gleichen, abgewetzten Sommermantel. Ein Schaltuch um den Hals. Gut gelaunt, immer zu einem Plausch aufgelegt.
Ich kann mich nicht erinnern, dass ich ihn jemals habe arbeiten sehen. Was ihm wichtiger war: seine Bücher, die stets aus den weiten Taschen seines Trenchcoats herausragten. Er hatte Grips, das wussten alle im Ort. Doch was sein Leben genau aus dem Gleis geworfen hatte, konnten wohl nicht einmal mehr die Alten so ganz genau sagen.
Der Ehrlicher war ganz einfach da. Saß auf einer Bank. Las. Und trank. Und das war auch das Problem. Der Ehrlicher trank mehr, als ihm guttat. Ich weiß noch, dass er einmal auf einer der hinteren Kirchenbänke seinen Rausch ausschlief. Die Leute hatten Mitleid mit ihm. Und die Leute sahen weg.
"Morgen, fang ich ein neues Leben an", hörte man den Ehrlicher dann sagen. Doch aus dem Morgen wurde ein Übermorgen. Auf dem Weg durch den Supermarkt war er beim nächsten Mal wieder nicht am Schnapsregal vorbeigekommen, ohne eine Flasche Hochprozentigen einzukaufen. "Morgen, ganz bestimmt morgen, fang ich ein neues Leben an."
Eines Tages war der Ehrlicher dann ganz einfach weg. Verschwunden. Niemand hatte mehr etwas von ihm gehört. Was aus ihm geworden ist? Keine Ahnung.
"Morgen fang ich ein neues Leben an." Ob er es geschafft hat, aus dem morgen, ein heute werden zu lassen? Ich weiß es nicht. Aber ich würde es ihm wünschen.