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Kinder und Jugendliche Lese-Rechtschreib-Störung oder einfach keine Lust: Wie erkenne ich das bei meinem Kind?

23. November 2024, 05:00 Uhr

Mitten im Buchstabenlabyrinth – Kinder mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche erleben beim Lesen und Schreiben unsichtbare Hürden. Warum eine Diagnose komplex sein kann und frühe Förderung so wichtig ist, erklärt PD Dr. Caroline Ligges, Forscherin am Universitätsklinikum Jena im Interview mit MDR WISSEN.

Frau Dr. Ligges, worum handelt es sich bei einer Lese-Rechtsschreibstörung konkret und wie viele Kinder- und Jugendliche sind betroffen?

Bei einer Lese-Rechtschreib-Störung (LRS) haben Kinder maßgebliche Probleme beim Erwerb der Lese und Rechtschreibfertigkeiten. Sie erlernen Lesen und Schreiben nicht in dem Tempo wie gleichaltrige Kinder und bleiben weit in ihren Leistungen zurück. Weltweit – unabhängig von den jeweiligen Sprachen – sind etwa sieben Prozent aller Kinder betroffen. Das ist das Ergebnis einer neuen Übersichtsstudie, in der Forschende verschiedene Schriftsprachsysteme miteinander verglichen haben.

Warum ist es wichtig, die Lese-Rechtschreibstörung so früh wie möglich zu diagnostizieren?

Lese- und Schreiben ist ein wesentliches Kulturgut. Unser Alltag basiert darauf, dass wir mit Schriftsprache umgehen können. Wenn wir Wissen erwerben wollen, auch in Fächern wie Biologie, Geschichte oder Physik müssen wir mit Texten umgehen können. Gelingt uns das nicht, ist der Bildungserwerb in allen Bereichen des Lebens beeinträchtigt. Das wirkt sich auf unsere Bildungsbiografie aus und somit die gesamten Möglichkeiten, unser Leben zu gestalten. Je früher wir auf die Idee kommen, dass es sich um eine Lese-Rechtsschreibstörung handelt, desto eher kann man entgegenwirken und Kinder gezielt fördern. Sie müssen sich das vorstellen wie ein Zug, der den Bahnhof verlässt, am Anfang sehr langsam ist und dann immer schneller wird. Je früher eine Diagnose erfolgt, desto eher kann man die Weichen stellen, damit Kinder positiv ins Lernen kommen und die Leistungsdefizite zu Gleichaltrigen nicht größer werden.

Wie wird eine Lese-Rechtschreib-Störung diagnostiziert?

Die Medizin nutzt weltweit Klassifikationssysteme. Im aktuell noch gültigen ICD10 wird die LRS als maßgebliche Beeinträchtigung beim Lesen definiert, die von Rechtschreibproblemen begleitet werden. Zusätzlich müssen gewisse Kriterien erfüllt sein.

Welche Kriterien zum Beispiel?

Wenn Kinder Buchstaben und Worte verwechseln, ihre Lesegeschwindigkeit sehr niedrig ist, Wörter im Satz vertauscht werden oder einfach nur als Skelette aufgeschrieben werden, könnte das ein Hinweis sein.

Wortskelette – was meinen Sie genau?

Nehmen wir das Wort Katze. Es ist ganz normal, dass Kinder am Anfang dieses Wort nur mit k, t und z wiedergeben, es also nur bruchstückhaft aufschreiben. Bleibt, neben weiteren gehäuften Rechtschreibfehlern, eine solche Schreibweise bis in die 2. Klasse bestehen, kann das auf eine LRS hindeuten. Eine Diagnose muss zwei Anforderungen genügen. Einerseits der Diskrepanz-Anforderung, nach der Fähigkeiten weit unter dem Niveau liegen müssen, das wir aufgrund von Intelligenz, Alter oder Beschulung erwarten. Gleichzeitig darf die LRS nach der Normalitätsanforderung nicht durch intellektuelle Probleme oder eine inadäquate Beschulung bedingt sein. Das Kind muss die Chance auf normalen Unterricht gehabt haben. Hör- und Sehprobleme müssen ebenso ausgeschlossen sein, wie neurologische Komponenten und soziokulturelle Besonderheiten. Ein Kind mit Migrationshintergrund kann die neue Sprache noch nicht komplett gelernt haben – hier muss bei falscher Schreibweise nicht zwingend eine LRS vorliegen.

Doch wie gelingt jetzt eine Diagnose?

In der Regel wird LRS über einen Lesetest und einen Rechtschreibtest festgestellt. Über Normtabellen lassen sich die Testergebnisse im Vergleich zu Gleichaltrigen einordnen.

Es gibt aber auch einen Intelligenztest?

Ja, gemäß ICD-10 muss ein Kind für die Diagnose LRS mindestens durchschnittlich begabt sein und seine Lese- und Rechtschreibleistungen müssen maßgeblich von diesem Begabungsniveau abweichen. Ob zur Diagnose Intelligenztests herangezogen werden sollen, ist jedoch umstritten. Es gibt eine große Diskussion darüber. Verkürzt formuliert: Vertreter der Intelligenztests sind der Meinung, dass bei LRS die unterdurchschnittlichen Fähigkeiten vom Intelligenz-Niveau abweichen müssen. Die anderen argumentieren, es genüge zu erkennen, dass die Fähigkeiten beim Lesen und Schreiben im Vergleich zu Gleichaltrigen unterdurchschnittlich sind.

Und Sie, was sagen Sie?

Ich argumentiere als Wissenschaftlerin. Es gibt viele Studien die zeigen, dass der Zusammenhang zwischen Lese-Rechtschreibleistungen und Intelligenz nicht ausreichend hoch ist, um dieses Diagnosekriterium zu rechtfertigen.

Was macht die Diagnosestellung bei der LRS so schwer?

Das lässt sich auch mit dem Flickenteppich an Zuständigkeiten erklären. Wir haben ein medizinisches System und ein Schulsystem – diese beiden Systeme bewegen sich leider oft nebeneinander her. Gleichzeitig gibt es die Kultushoheit der Länder. In Thüringen erlaubt die Schulordnung Pädagoginnen und Pädagogen, Kinder mit LRS in der Schule per Nachteilsausgleich einfach zu unterstützen. Die Schulordnung in Bayern hingegen verlangt ein fachärztliches Attest. Dieser Flickenteppich ist sehr verwirrend. Leider geht für die Diagnose viel Zeit ins Land bis Entscheidungen getroffen werden.

Die Diagnose ist also eine komplexe Angelegenheit?

Das hängt davon ab, nach welchem System wir diagnostizieren. Ich würde es begrüßen, wenn zum Beispiel in Thüringen die Schulen mehr Mut hätten, einer guten qualitativen Fehleranalyse durch erfahrene Pädagogen zu vertrauen und die Förderung an der Schule sofort einzuleiten. So verstreicht keine wertvolle Zeit. Auch ein Nachteilsausgleich kann Kindern schon immens helfen. Wenn Lehrende beispielsweise Textaufgaben in Mathe vorlesen oder Deutsch-Testate mündlich abgelegt werden dürfen, können betroffene Kinder unter Beweis stellen, dass sie ihre Lernziele erreicht haben.

Eine medizinische Diagnose durch einen Kinder- und Jugendpsychiater oder Psychologen beginnt mit einem Anamnesegespräch, um Besonderheiten in der Entwicklung des Kindes genau zu verstehen und eventuell kinderpsychiatrische Auffälligkeiten zu finden. Mit einer neurologischen Untersuchung und einem EEG schließt man körperliche Ursachen und eine Epilepsie aus. Schließlich folgt ein Lese- und Rechtsschreibtest sowie einen IQ-Test nach aktueller Leitlinie. Gerade bei Kindern, die neben einer LRS noch andere Probleme mit sich herumtragen, ist diese Vorgehensweise sehr wichtig, um sie bestmöglich zu unterstützen.

Wann lässt sich die LRS am frühesten diagnostizieren?

Schon in der Vorschule erkennen wir, wie Kinder Worte wie Blumentopferde in Silben zerlegen oder in Worten den Anlaut heraushören können. Hören sie das H bei Haus? Verstehen sie, dass ein Ball ohne B das All ist? Schon hier erkennen wir erste Risikofaktoren. Eine richtige Diagnose können wir heute am Ende der ersten Klasse stellen. Manche tun sich hier noch etwas schwer. Doch ein guter Pädagoge, der das Kind im Verlauf der ersten Klasse erlebt hat und weiß, wie es Buchstaben und Silben zusammenzieht, kann in Kombination mit normierten Lese- und Rechtschreibverfahren zum Ende der ersten Klasse deutliche Hinweise auf eine LRS erhalten und eine entsprechende Förderung für das Kind einleiten.

Woran merke ich, dass es sich um LRS handeln könnte und mein Kind nicht einfach nur keine Lust hat?

Lernprozesse hängen generell mit Motivation zusammen. Kinder sind grundsätzlich neugierig und wollen lernen. Wenn ein Kind eine Lese-Rechtschreib-Störung hat, merkt man das daran, dass es beim Schreiben maßgebliche Probleme im Umgang mit Sprachlauten, mit Silben und Worten hat. Natürlich kommt es immer wieder vor, dass Kinder Motivationsprobleme haben, nicht aufmerksam sind und nicht ins Lernen kommen, weil sie andere Probleme mitbringen. Wir müssen die Kinder in der Gesamtheit sehen, nicht nur im Fach Deutsch. Wie sieht es in anderen Fächern aus? Wie stellt sich das Kind generell im Umgang mit Gleichaltrigen und in der Familie dar? Welche Auffälligkeiten treten zutage? Wie bei einem Mosaik kommen wir hier sukzessive auf die Idee, ob es sich um eine Problematik beim Lesen und Schreiben handelt, oder das Kind andere Probleme mit trauriger Stimmung oder Ängsten hat. Hier sehen wir, wie wir dem Kind beim Lesen- und Schreiben helfen können oder ob es noch weitreichendere Unterstützungen braucht.

Wie erkennt man LRS in anderen Sprachen?

Dazu gibt es verschiedene Studien. Die Probleme in den Schriftsprachen unterscheiden sich tatsächlich. Im Deutschen haben wir den Vorteil einer relativ stringenten Buchstaben-Lautbeziehung. Im Englischen ist diese Beziehung sehr viel unklarer und aufgeweichter, hier werden Vokale oft ganz anders lautiert. In der Neurobiologie sehen wir, dass Lesen in einem Netzwerk funktioniert, hier analysieren wir die Buchstaben und verarbeiten den Sprachklang Aus der Forschung wissen wir, dass englische Kinder mit Netzwerken arbeiten, die auf visuelle Worterkennung gehen, Kinder aus Deutschland und Italien nutzen hingegen Netzwerkanteile, die stark in die Sprach-Klangverarbeitung gehen.

Lässt sich eine LRS auf konkrete Dysfunktionen im Gehirn zurückführen?

Es gibt zwei Erklärungsansätze für die Entstehung von LRS im Gehirn. Nach der phonologischen Defizithypothese kommt es auf genetischer Basis zu Fehlreifungsprozessen der Teile im Gehirn, die an der Sprachlautverarbeitung beteiligt sind. Der zweite Ansatz, die magnozelluläre Defizithypothese sieht in den visuellen und akustischen Systemen Fehlentwicklungen. Sie geht davon aus, dass die LRS durch Störungen der sensorischen Wahrnehmung, also beim Hören und Sehen entsteht. Hier tobt ein großer Streit, der den Therapieansatz maßgeblich beeinflusst. Während die einen mit Buchstaben, Lauten und Wortmaterial üben, machen die anderen beispielsweise Hörschwellentraining. Aktuelle Studien gehen von einer sehr individuellen Problemlage aus, mit deutlichem Fokus auf phonologischen Verarbeitungsproblemen. Bei einer eigenen Studie der Uni Jena haben wir herausgefunden, dass alle betroffenen Kinder phonologische Probleme hatten, ein Großteil – aber nicht alle – hatten tatsächlich auch Probleme bei der akustischen Wahrnehmung und ein kleiner Teil beim visuellen Erfassen. Kurzum: LRS sieht im Gehirn sehr unterschiedlich aus, weil die Ursachen sehr verschieden sind. Wir sprechen von einem multiplen Ursachengeschehen

An welchen Therapien arbeiten Sie? Wo liegt Ihre Hoffnung?

Es gibt sehr gut evaluierte Lese-Rechtschreib-Förderprogramme, die ich sehr empfehle. Es ist wichtig zu wissen, wo das Kind in seinem Entwicklungsprozess bei der Schriftsprache steht. Die Programme unterscheiden sehr gut, wie sie die Kinder abholen und wo gerade ihre Fehlerschwerpunkte sind. Weiter in die Ferne gedacht, forschen wir aktuell an der sogenannten Neurostimulation. Mittlerweile wissen wir, dass bei einer LRS Hirnareale in ihrer Funktion beeinträchtigt sein können. Mit der Neurostimulation wollen wir die Funktionen des Gehirns positiv unterstützen und die für das Lesen und Schreiben so wichtige Netzwerkaktivität stimulieren. Das kann, so unsere Hoffnung, die Defizite beim Lesen und Schreiben verbessern.

Der aktuell noch in Thüringen amtierende Ministerpräsident Bodo Ramelow hat seine hat Lese-Rechtschreib-Störung durch Auswendiglernen kompensiert. Klappt das bei allen?

Ich freue mich für Herrn Ramelow, dass er über sehr gute Gedächtnisfähigkeiten verfügt. Das ist eine große Ressource, die hoffentlich viele Betroffene haben. Eine gute Gedächtnisleistung kann ein Ausgleichsmechanismus sein, um den Defiziten in der Schriftsprache zu begegnen. Das ist gut und wichtig. Es ist aber nicht zwangsläufig bei allen so.

Definition der Weltgesundheitsorganisation Eine "umschriebene Lese-Rechtschreibstörung“ (LRS) liegt laut dem internationalen Klassifikationsschema ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor, wenn anhaltende und eindeutige Schwächen im Bereich der Lese- und Rechtschreibung NICHT auf folgende Kriterien zurückgeführt werden können:

* Entwicklungsalter
* Unterdurchschnittliche Intelligenz
* Fehlende Beschulung
* Psychische Erkrankung

Im ICD-10 der WHO wird unterschieden:

F81.0 - LESE- UND RECHTSCHREIBSTÖRUNG
Das Hauptmerkmal der Lese- und Rechtschreibstörung ist eine bedeutsame Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lesefähigkeiten. Dies zeigt sich durch Defizite beim Leseverständnis, der Fähigkeit, geschriebene Worte wiederzuerkennen und vorzulesen sowie generell in allen Bereichen, die Lesefähigkeiten erfordern. Zumeist tritt die Lesestörung gemeinsam mit einer Rechtschreibstörung auf.

F81.1 - ISOLIERTE RECHTSCHREIBSTÖRUNG
Eine isolierten Rechtschreibstörung zeigt sich anhand von Leistungsdefiziten im Buchstabieren sowie der korrekten Wortschreibung. Diese Form der Beeinträchtigung tritt isoliert auf, d.h. unabhängig und ohne beobachtbare Schwierigkeiten beim Lesen.
ISOLIERTE LESESTÖRUNG
Die isolierte Lesestörung ist von der WHO in der ICD-10 noch nicht definiert. Aktuelle Forschungen konnten jedoch zeigen, dass auch isolierte Lesestörungen auftreten, ohne dass massive Schwächen beim Rechtschreiben zu beobachten sind. In der neuen, aktuell in einer Entwurfsfassung vorliegenden ICD-Fassung (ICD-11) wird deshalb zusätzlich auch die Kategorie der isolierten Lesestörung aufgeführt.
Hirnschädigung

Links/Studien

Informationen zum Nachteilsausgleich in Sachsen-Anhalt finden sie hier.
Informationen zum Nachteilsausgleich in Sachsen finden Sie hier.
Informationen zum Nachteilsausgleich in Thüringen finden Sie hier.

(tomi)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT | 20. November 2024 | 14:40 Uhr

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