Experiment Demokratie: Wie erforscht man Mitbestimmung?

03. November 2020, 09:59 Uhr

Wie bindet man Menschen effektiv in Entscheidungsprozesse ein? Ein Potsdamer Forschungsinstitut und MDR Wissen haben das in Magdeburg in einem bislang einmaligen Experiment getestet.

Eine Frau mit Megaphone 44 min
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MDR Wissen So 25.08.2019 22:20Uhr 44:24 min

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Warum hadern so viele Leute mit der Demokratie? Passt sie noch in unsere Zeit, in der die Gesellschaft sich ganz anders informiert und organisiert als noch vor wenigen Jahren? Wollen Menschen überhaupt mitbestimmen und Verantwortung für gesellschaftliche Belange übernehmen? Und wenn ja, welche Methoden funktionieren dabei und so, dass durch mehr bürgerliche Mitbestimmung Demokratie anders gelebt wird als jetzt? Politikwissenschaftler Gary S. Schaal sagt beispielsweise:

Demokratie ist kein Regierungssystem, das für die Komplexität der heutigen Gesellschaft gemacht wurde. Wir brauchen eine Vorstellung davon, wie Demokratie heute aussehen soll.

Gary S. Schaal, Helmut-Schmidt-Universität

Dahinter steht eine der großen Fragen überhaupt: Wer sollte überhaupt über die Politik und Geschicke einer Gesellschaft entscheiden? Eine genauso steinalte wie radikale These vertritt US-Politikwissenchaftler Jason Brennan. Seine Theorie: Die Leute wissen nicht, was gut für alle ist, da sie die komplexen Probleme unserer Zeit nicht verstehen:

Politikwissenschaftler Gary S. Schaal
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Die größte Bedrohung der Demokratie ist die Ahnungslosigkeit der Wähler, deshalb wählen sie schlechte Regierungen. Wenn ich zu einem Klempner sagen würde: 'Ich weiß nichts über das Klempnern, aber meine Meinung darüber ist genau so viel wert wie deine!', der würde mich auslachen. In Sachen Politik aber tun wir oft so, als wüssten alle gleich viel. Deshalb bevorzuge ich Korrekturen an der Demokratie, die manchen Positionen mehr Gewicht geben, die die Weisheit der Masse besser rausarbeiten als die Demokratie das vermag.

Prof. Jason Brennan, Georgetown University

Uralte These, die auch schon die alten Griechen kannten - und ablehnten. Weil?

Brennan ist natürlich nicht der erste mit dieser Forderung: Schon der griechische Philosoph Platon hielt eine Herrschaft der Wissenden, eine sogenannte Epistokratie, für besser als die Demokratie, die Herrschaft des Volkes. Allerdings erkannten die alten Griechen auch schon damals, dass die Bevorzugung einzelner Personengruppen die Gesellschaft spalten würde. Deshalb hat sich der Gleichheitsgrundsatz - ein Mensch, eine Stimme - als tragfähiges Prinzip einer Gesellschaft erwiesen. Es geht nicht nur um die besten Entscheidungen, sondern auch um die Stabilität einer Gesellschaft.

Diskutiert: Wünsche und Wissen von Magdeburgern für ihr Stadtzentrum

Wie man Bürgerinnen und Bürger effektiv in Entscheidungsprozesse einbindet, haben MDR Wissen und ein Team des Potsdamer Instituts für Transformative Nachhaltigkeitsforschung e.V. in einem bislang einmaligen Experiment getestet: Zufällig ausgewählte Menschen aus Magdeburg haben verschiedene Formen von Bürgerbeteiligung ausprobiert. In sechs Gruppen sollten sie eine Empfehlung über die Gestaltung der Magdeburger Innenstadt erarbeiten. Die Forscher wollten herausfinden: Welche Rolle spielt dabei die Art der Diskussionsgestaltung, und welche Schlüsse kann man daraus ziehen, wie Bürger effektiv in Entscheidungsfindungsprozesse einbezogen werden können?

Wie erforscht man Demokratieprozesse?

Getestet wurde an drei Tagen mit jeweils verschiedener Diskussionsform: Die erste Gruppe diskutierte komplett selbst organisiert. Die beiden anderen Gruppen bekamen eine Moderatorin zur Seite gestellt. Alle drei Gruppen sollen nach drei Stunden dem Stadtrat eine Empfehlung geben. In der Gruppe ohne Moderation schrieben die fünf Teilnehmer erst einzeln für sich ihre Ideen auf, dann tauschten sie sich aus, ohne dass sich einzelne als Wortführer hervortun und die anderen dominieren.

In der zweiten Gruppe mit einer professionellen Moderatorin wurden von ihr Vorschläge, Ideen und Meinungen der Gruppe geordnet, sortiert auf vier Flipcharts gesammelt: Nach Ideen, Herausforderungen, Fakten und Einwänden.  

Die dritte Gruppe diskutierte - ebenfalls moderiert - in einer Kombination aus Gespräch, Gruppenarbeit und kreativen Übungen, zum Beispiel, indem die Teilnehmer per Smartphone den Diskussionskreis erweitern durften und Meinungen und Ideen von Freunden einholen konnten. 

Und die Forscher?

Jetzt werten die Forscher die Videoaufzeichnungen der Diskussionsrunden auf mehreren Ebenen aus, untersuchen, wie verschieden oder ähnlich die Diskussionen verlaufen sind und erfragen auch die Sicht der Teilnehmenden. Die ersten Ergebnisse der Auswertung soll es noch in diesem Jahr geben.

Unabhängig davon zeigte das Experiment eins sehr direkt: Bürgerbeteiligung funktioniert und kann Spaß machen. Die Empfehlungen, die in den drei Tagen erarbeitet wurden, versanden im Übrigen nicht in der Welt der Wissenschaft. Im Rathaus, im Stadtplanungsamt, ist man gespannt auf die Vorschläge aus den Gruppen. Baustadtrat Matthias Lerm sagt:

Wir setzen große Hoffnungen in dieses Experiment, weil wir ganz frisch und ohne großes Einwirken eine unmittelbare Meinung, eine unmittelbare Haltung zur Weiterentwicklung der Bürgerinnen und Bürger in Bezug auf das Stadtzentrum erwarten.

Dieses Thema im Programm: MDR Wissen | Mehr Bürger an die Macht | 25. August 2019 | 22:30 Uhr