Wissenschaft zur Fußball-WM Vom Rasenschach zum Tempo-Fußball

26. Juni 2018, 13:38 Uhr

Heutiger Fußball ist ein rasantes Spiel - ganz im Gegensatz zum "Standfußball" früher. Wie sich die Sportart entwickelt hat, können Wissenschaftler mithilfe von Daten über Siege, Tore und Schnelligkeit erklären.

In den 1960er- und 70er-Jahren hat man Fußball-Stars wie Franz Beckenbauer nachgesagt, den Aktionsradius eines Bierdeckels zu haben. Ganz im Gegensatz zu heute. Seit wann hat sich das Rasenschachspiel zum Tempofußball entwickelt und welche Rolle spielt die Fitness dabei? Die starke Entwicklung, die der Fußball genommen hat, erklärt der Sportwissenschaftler und Leistungsdiagnostiker Professor René Schwesig vom Universitätsklinikum Halle so:

Statistiken dazu datieren von 2013/14 bis heute. Weiter zurück geht es leider nicht, weil damals die Technik noch nicht da war. Wir nutzen heute zum Beispiel das PolarPro-System. Da können wir Strecke, Geschwindigkeiten, Beschleunigung und Herzfrequenzen messen. Das war früher nicht möglich.

René Schwesig, Universitätsklinikum Halle
Kopfball von Joachim Streich bei der Weltmeisterschaft 1974 im Spiel gegen Australien
Joachim Streichs Kopfball bei der Weltmeisterschaft 1974 im Spiel gegen Australien. Bildrechte: imago/Werner Schulze

Trotzdem können Statistiker und Datenexperten die Zahlen für Beckenbauer und Co. ausrechnen. Und der Eindruck täuscht nicht: Beckenbauer & Co. liefen früher gerade mal 3 bis 4 Kilometer pro Spiel. Heute liegt der Schnitt in der 1. Bundesliga bei 11 Kilometern pro Spiel. Selbst Manuel Neuer kommt als Torwart in den 90 Minuten auf 4,5 Kilometer. Damit hätte er früher locker als Mittelfeldspieler durchgehen können. Durch das steigende Spieltempo und die Laufstrecke hat sich auch das Anforderungsprofil der einzelnen Spielpositionen verändert. So muss ein Spieler nicht nur Ausdauer haben, sondern auch lange und sehr schnell sprinten können. Antreten, stoppen, springen, Körpereinsatz - mehr als 1.000 Meter sind Fußballer pro Spiel mit Höchstgeschwindigkeit unterwegs. Schussstärke, Zweikampfverhalten, Kopfbälle hängen zum großen Teil von optimal trainierter Körpermuskulatur ab - nicht nur von den Fußballerbeinen.

Für Professor Schwesig sind nicht nur die Ausdauer oder die Schnelligkeit besonders wichtig, sondern auch eine gewisse Rumpfstabilität. Diese braucht jeder Spieler, wenn es um eine hohe Schussgeschwindigkeit geht. Allgemein ist mit einem guten Fitnesstraining die halbe Miete getan.

Auch wenn oftmals behauptet und propagiert wird 'Ja, wir wissen, wie wichtig Fitnesstraining ist!' - am Ende des Tages stellt die Mannschaft lieber den 24. Spieler ein, aber nicht den Fitnesstrainer. Das ist dann natürlich sehr kurzsichtig.

René Schwesig, Universitätsklinikum Halle

Denn es gibt Statistiken, die belegen: Wenn eine Mannschaft in der 2. Halbzeit in puncto Schnelligkeit weniger abbaut, steigen bei dieser Mannschaft die Tor- und damit auch die Siegwahrscheinlichkeit. Wie wichtig Fitness im Fußball ist, wurde für die Öffentlichkeit spätestens deutlich als Jürgen Klinsmann 2004 den US-Amerikaner Mark Verstegen als Fitnesstrainer für die Nationalmannschaft engagierte. Schwesig sagt, Klinsmann zeige damit, dass es für das Trainieren einer Profi-Mannschaft mehr brauche als nur Fußballkompetenz.

Wenn ich meine Spieler, die ja das wertvollste Kapital sind, was ich habe, hegen und pflegen will, dann muss ich die in allen Bereichen besser machen. Und das geht gerade im Hochleistungsbereich nur noch um ein paar Prozente. Aber um genau diese paar Prozente raus zu kitzeln, brauche ich dann den absoluten Spezialisten.

René Schwesig, Universitätsklinikum Halle

Dabei gehe es nicht um Fitness und Kondition an der Maximal-Grenze, sondern um ein konstant hohes Niveau, um die 90 Minuten durchzuspielen, sagt Schwesig. Auch mache Fitness allein keinen guten Fußballer. Sie sei aber Voraussetzung, um auch bis Spielende das fußballerische Können ohne Abstriche umsetzen zu können.

Ich hab noch nie die Schlagzeile gelesen: Mannschaft verlor, weil sie zu fit war. Ich habe schon oft die Schlagzeile gelesen: Mannschaft brach in der 75. Minute ein und verlor das Spiel noch mit 4:3.

René Schwesig, Universitätsklinikum Halle

Fitness und fußballerisches Können: das eine nützt ohne das andere heutzutage nichts mehr. Deshalb ist Laufen bis zur 90. Minute keine Garantie für einen Sieg. Ein Beispiel dafür sind die Bayern, sagt Schwesig. Bayern München ist eine Mannschaft mit einer vergleichsweise geringen Laufleistung, werden aber Serienmeister, auch - weil sie die anderen laufen lassen.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 16. Juni 2018 | 17:47 Uhr