Besondere Sinneswahrnehmung Synästhesie: Farben hören, Töne schmecken

20. Januar 2020, 11:44 Uhr

Manche Menschen hören Töne und sehen gleichzeitig Farben. Oder sie sehen Farben und haben einen besonderen Geschmack im Mund. Was sich merkwürdig anhört, ist Synästhesie. Eine wissenschaftlich anerkanntes Phänomen. Über die Entstehung und Ausprägung gibt es verschiedene Theorien.

Logo MDR 4 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Als Lisa-Marie Leuteritz ein Kind war, waren ihre Wochentage farbig und mit Bildern versehen. Montags trug die Kirche ihres Heimatdorfes eine Schleife, der Mittwoch war rot, der Freitag grün. Klingt verrückt, ist es aber nicht. Denn Lisa-Marie Leuteritz hat Synästhesie - ein neurologisches Phänomen, was bei rund vier Prozent aller Menschen auftritt. Leuteritz hat erst mit Mitte 20 herausgefunden, was Synästhesie eigentlich ist.

Synästhesie wird in den meisten Fällen vererbt

"Irgendwann bei einem Familientreffen fragte mich mein Papa: 'Welche Farbe hat bei Dir eigentlich die 1?' Ich sagte: 'Weiß.' Und meine Tante sagte: 'Bei mir ist sie gelb'", erinnert sich die 29jährige. "Alle anderen am Tisch schauten uns völlig entgeistert an: 'Was? Wovon redet Ihr?' Sie konnten überhaupt nicht verstehen, das Zahlen eine Farbe haben."

Alle anderen am Tisch schauten uns völlig entgeistert an: 'Was? Wovon redet Ihr?'

Lisa-Marie Leuteritz

Bei Lisa-Marie Leuteritz ist die Synästhesie vererbt. Ihr Vater und deren Schwester haben es. Laut Neurophysiologin Marie-Luise Schreiter vom Universitätsklinikum Dresden ist die vererbte Synästhesie gar nicht so selten. "Eine Mutter kann einen Buchstaben sehen und das Kind dann ein Geräusch", erklärt Schreiter. "Das Gen transportiert die Synästhesie - aber nicht die Art."

Ein anerkanntes, nachweisbares Phänomen

Aber was ist Synästhesie eigentlich genau? Die Wissenschaftlerin Schreiter erklärt das so: "Synästhesie ist die Kopplung von zwei Sinneswahrnehmungen, die normalerweise getrennt voneinander fungieren. Das bedeutet, dass Leute mit Synästhesie eine normale Wahrnehmung haben - sie hören was oder riechen was - und zeitgleich, immer automatisch, haben sie noch eine Erfahrung in einem zweiten Sinn." Genau diese Gleichzeitigkeit von zwei aktivierten Sinnen ist auch die Grundvoraussetzung, dass man von Synästhesie spricht. Im Magnetresonanztomographen (MRT) kann man übrigens deutlich erkennen, wie zwei unterschiedliche Gehirnregionen - beispielsweise das Hörzentrum und die Region für Geschmack - bei Synästhetikern zeitgleich aktiviert werden.

Synästhesie ist zeitgleich, konsistent und automatisch ist. Das macht es auch anders als eine Vorstellung oder Imagination. Das ist Unwillentlich.

Marie-Luise Schreiter Universitätsklinikum Dresden

Bereits seit 2013 beschäftigt sich die heute 30jährige mit dem Thema, schrieb darüber ihre Bachelorarbeit in Sussex und forscht aktuell dazu. Mehr als 80 Formen der Synästhesie soll es laut Schreiter geben. Am häufigsten ist das "farbige Hören". Dabei führen Musik, Stimmen, ausgesprochene Buchstaben oder Zahlen zur Wahrnehmung bewegter Farben - manchmal auch Formen. Ein Ton kann einem Synästheten also rosa, eine Stimme türkis, ein A rot erscheinen.

"Kann das nicht verstehen, dass es in anderen Köpfen nicht so aussieht."

1866 benutzte der Neuropsychologe Alfred Vulpian das erste Mal das Wort "Synästhesie", welches sich aus den griechischen Wörtern syn - zusammen und aisthesis - Empfindung ableitet. Menschen mit dieser Fähigkeit empfinden sie als allgegenwärtig und bemerken sie erst im Austausch mit Nichtsynästhetikern als etwas Besonderes. So auch Lisa-Marie Leuteritz aus dem sächsischen Schmiedeberg. "Die Reaktionen sind oft so, als wäre man verrückt. Ich erkläre dann immer, wie ich meine Tage oder meine Zahlen sehe. Und finde es erstaunlich, dass andere Leute keine Vorstellung davon haben. Ich kann das gar nicht verstehen, dass das in anderen Köpfen nicht so aussieht."

Farben hören ... und Gefühle sehen

Doch nicht nur da sieht es anders auch. Auch bei der Synästhesie existiert keine Einheitlichkeit. Kein synästhetisches System gleicht dem anderen - selbst wenn die gleiche Form vorliegt. Neben dem "Farb-Hören" können auch geometrische Formen geschmeckt werden oder Emotionen visualisiert werden. Letztere Art der Synästhesie ist noch recht unerforscht. Denn wie soll das gehen: Gefühle sehen? Eine die das weiß, ist Hannah Ewald aus Leipzig.

Ich sehe Gefühle richtig in Bezug auf die Person. Also zum Beispiel sehe ich, dass gewisse Erinnerungen, die die Menschen beschäftigen, über denen sind. In Form einer Wolke, die sich bewegt oder die einen Raum einnimmt. Und die sind für mich ein Sinnbild für die Präsenz, die diese Gefühle einnehmen. Und wenn sich die Gefühle verändern in der Person, ändert sich natürlich auch das Bild.

Hannah Ewald Chorleiterin aus Leipzig

Hannah Ewald hat erst vor zwei Jahren entdeckt, dass sie Synästhetin ist - mit Ende 20. Dabei war sie es bereits seit ihrer Kindheit. Doch weil die Chorleiterin nicht als "anders" gelten wollte, unterdrückte sie ihre Synästhesie. Erst als sie darüber las und merkte: "Das ist nicht komisch. Das ist sogar richtig offiziell und anerkannt" hat sie sich selber die Erlaubnis gegeben, diese zuzulassen. Seitdem nimmt sie nicht nur Gefühle und Berührungen, sondern auch Musik, Klänge und Geräusche als Farb-Form-Struktur-Textur-Bild wahr.

Dreidimensionale geometrische Neonformen
Bildrechte: imago images/Ikon Images

Theorie: Alle Menschen als Synästhetiker geboren

Über die Bildung von Synästhesie gibt es verschiedene Theorien. Eine besagt, dass wir als Babys alle Synästheten sind. Neurophysiologin Schreiter erklärt: "Babys bis zu einem halben Jahr können ihre Sinne nicht so gut separieren und müssen das erst lernen: 'Was ist eine Stimme, wo ist der Unterschied zum Anfassen, was ist Geruch?'." 

Diese Theorie stammt vom amerikanischen Neurologen Richard Cytowic. Er meint, dass jeder Mensch mit Nervenverbindungen geboren wird, die für eine Verknüpfung der eigentlich separaten Hirnareale sorgen. So ist anfangs beispielsweise das Sehzentrum mit einem Teil des Hörzentrums verbunden. Später lösen sich diese Querverbindungen bei Nichtsynästhetikern auf. Bei Hannah Ewald haben sich diese Verbindung nie gelöst - obwohl sie ihre Synästhesie unterdrückte. Doch sie fühlte sich jahrelang unvollständig. Heute gibt ihr Synästhesie Halt und Orientierung - im wahrsten Sinne. 

"Ich tanze sehr viel und ich hatte immer Probleme mit Drehungen. Drehungen haben mich aus dem Konzept gebracht. Aber nachdem ich zum ersten Mal erlaubt habe: 'Ok, ich darf jetzt tanzen und ich darf diese Farben und Formen wahrnehmen' hatte ich plötzlich ein ganz ganz sicheres Raumgefühl. Plötzlich waren diese Drehungen kein Problem mehr, als wären die ganzen Koordinaten da", erzählt Ewald.

Berühmte Synästheten: Kandinsky, Lady Gaga, Tesler

Für Hannah Ewald ist Synästhesie Ausdruck für Kreativität und Intelligenz. Berühmtheiten mit Synästhesie - Physiker Nikola Tesla, Komponist Franz Liszt, Maler Wassily Kandinsky, Lady Gaga oder Chris Martin - untermauern diese Annahme. Und auch Neurophysiologin Schreiter aus Dresden ist bei ihren Forschungen zur Synästhesie etwas aufgefallen: 

"Zum Beispiel diese hochfunktionellen Autisten, die sich Pi bis zur 50. Kommastelle merken können, die reden oftmals davon, dass sie diese Stellen in einer räumlichen Anordnung wahrnehmen und dass dann einfach nur abgehen. Auch wenn man sich Autisten anschaut, da ist es um einiges wahrscheinlicher einen Synästheten zu finden, als in der normalen Population." Synästhesie ist also weit mehr als nur bunte Zahlen oder farbige Töne. Es ist riechen, schmecken, hören oder fühlen mit verknüpften Sinnen.

Was bewirkt Musik im Gehirn 2 min
Bildrechte: MDR Wissen
2 min

Unser Gehirn arbeitet hart, damit wir Musik genießen können. Sechs Gehirn-Regionen sind daran beteiligt.

Mo 28.10.2019 09:33Uhr 01:39 min

https://www.mdr.de/wissen/videos/aktuell/Was-bewirkt-musik-im-gehirn-100.html

Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Video

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 19. Januar 2020 | 09:20 Uhr

0 Kommentare