Unterschätzte Diagnose Alle sieben Minuten stirbt ein Mensch an Sepsis

16. Februar 2021, 18:00 Uhr

Sterblichkeitsraten sind mit der Corona-Pandemie in den öffentlichen Fokus gerückt. Was viele nicht wissen: Sepsis – auch als Blutvergiftung bekannt – gehört zu den dritthäufigsten Todesursachen in Deutschland. Jährlich sterben in Deutschland etwa 75.000 Menschen an einer Sepsis. Etwa 20.000 Todesfälle davon sind vermeidbar.

Menscheliches Herz mit Herzkranzgefäßen, Lungen, Bronchien und Schnitt durch den Brustkorb
Lungenentzündigungen lösen am häufigsten eine Sepsis aus - deswegen kann schon eine Pneumokokken-Impfung bei der Vorsorge helfen. Bildrechte: imago images / Panthermedia

Arne Trumann kann sich noch genau erinnern. Er war 44 Jahre alt, als er zusammenbrach. Eigentlich hatte er nur einen grippalen Effekt. Nach kurzer Pause schleppt sich der Alleinverdiener und dreifache Vater dennoch wieder zur Arbeit. Doch es läuft nicht wie sonst, keine Genesung, kein Abklingen der Symptome. Am Freitag fühlt er sich so krank, dass er nur noch nach Hause will. Auch die Couch und Ruhe helfen nicht, ihm ist unheimlich elend zumute. Schließlich ruft seine Frau den ärztlichen Notdienst. Nach 45 Minuten kommt ein Arzt, lässt sich die Symptome erklären, winkt ab, fasst Trumann nicht einmal an. Weder Fieber, noch Blutdruck noch den Puls misst der Arzt. Stattdessen die Ansage: "Einen Krankenwagen rufen können Sie ja wohl selber." Trumann hat sie nicht vergessen, diese Worte. Der Arzt fährt, Trumann kämpft weiter, sein Zustand verschlechtert sich.

Vier Wochen künstliches Koma – Fingerkuppen sterben ab

Schließlich ruft seine Frau den Rettungswagen. Der Notarzt erkennt die Situation: "Ich vermute, Sie haben eine septischen Schock und stehen kurz vor dem multiplen Organversagen." Blaulicht, 50 Kilometer bis zum nächsten Krankenhaus. Dort wird Trumann sofort in künstliches Koma versetzt. Seine Fingerkuppen sind schon tot, müssen amputiert werden. Ein Drama für einen Klavierspieler. Doch Trumann überlebt. Nach vier Wochen erwacht er aus dem Koma.

Jede Minute zählt: Sepsis ist ein Notfall wie Herzinfarkt und Schlaganfall

"Sepsis ist ein lebensbedrohlicher Notfall wie Schlaganfall oder Herzinfarkt, der jeden treffen kann und oft zu spät erkannt wird", erklärt Ruth Hecker, Vorsitzende des Aktionsbündnisses Patientensicherheit (APS). Zusammen mit der Sepsis Stiftung, der Deutschen Sepsis-Hilfe sowie dem Verband der Ersatzkassen und dem Projekt "Sepsisdialog" der Universität Greifswald hat das Bündnis am Dienstag die Aufklärungskampagne "Deutschland erkennt Sepsis" gestartet. Sepsis sei in Deutschland die Todesursache Nummer drei, die Sterblichkeitsrate im Vergleich zu anderen Ländern hoch. Bei der Behandlung zähle oft jede Minute. "Umso wichtiger ist es, eine Sepsis rechtzeitig zu erkennen", sagte Hecker. Im Vergleich zu anderen Ländern sei in Deutschland beim Absenken der Sterblichkeit "noch viel Luft nach oben".

Auch Covid-19 kann eine Sepsis auslösen

Die Sepsis, landläufig auch Blutvergiftung genannt, wird durch Infektionen, häufig durch Lungenentzündungen ausgelöst. Doch auch Covid-19 kann zu einer Sepsis führen: "Viele Patienten, die sich mit einer scheinbar unkomplizierten Covid-19-Erkrankung zu Hause kurieren wollen, erkennen nicht rechtzeitig, wenn diese in eine Sepsis übergeht", sagte Hecker. "Ein plötzliches extremes Krankheitsgefühl, hoher Puls, Fieber, Verwirrtheit oder Schüttelfrost sind ein Fall für das Krankenhaus oder den Notarzt.“

Etwa 20.000 Todesfälle können jährlich vermieden werden

Etwa 20.000 Todesfälle können nach Angaben der Sepsis-Stiftung pro Jahr in Deutschland vermieden werden. "Überlebende erleiden zudem oft schwere Folgeschäden von Amputationen bis zur chronischen Erschöpfung und Depressionen", erklärte Hecker. "Auch diese gelten als vermeidbar." Besonders herausfordernd sei die Diagnose Skepsis, weil sie oft im Alltag auftrete. Somit sei neben der ärztlichen Expertise ein breites Gesundheitswissen von Privatpersonen und auch Pflegepersonal wichtig. "Jeder zweiter Sepsis-Fall tritt außerhalb des Krankenhauses auf. Es ist daher insbesondere vor dem Hintergrund der Coronavirus-Pandemie notwendig, das Bewusstsein für die Sepsis und ihre Warnzeichen in der Bevölkerung, aber auch beim medizinischen Fachpersonal zu schärfen", erklärte Professorin Claudia Schmidtke, Patientenbeauftragte der Bundesregierung.

Weltweit mehr Tote als bei Krebs

Professor Konrad Reinhart, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Sepsis Stiftung, begrüßte die Aufklärungskampagne. "Für die Menschen in Deutschland ist heute ein guter Tag", erklärte Reinhart. "Deutschland kann es wirklich besser." Bei dem Umgang mit Aids und Krebs habe sich gezeigt, wie man Krankheiten erfolgreich begegnen könne.  

Wir müssen das, was wir bei Krebs und Aids erreicht haben, auch für die Sepsis erreichen. Jeder weiß, dass Krebs eine Zellentartung und Aids eine Immunschwäche ist. Nur wenige hingegen wissen, dass Sepsis eine Überreaktion des Immunsystems darstellt, was zum Organversagen und zum Verlust von Gliedmaßen führt.

Professor Konrad Reinhart Vorstandsvorsitzender der Deutschen Sepsis Stiftung

Durch Vorbeugen von Infektionen, durch Impfungen, zum Beispiel gegen Grippe, bessere Hygiene sowie Früherkennung und Notfallbehandlungen könnten dem Arzt zufolge viele Menschenleben gerettet werden.

Aufklärung über Sepsis

Fast jeder Erreger kann zu Sepsis führen

Weltweit sterben Reinhart zufolge jährlich mehr als elf Millionen Menschen an Sepsis. Das seien mehr als mit der Diagnose Krebs (9,6 Millionen Tote). Der Mediziner warnte davor, schwer verlaufende Infektionen auf die leichte Schulter zu nehmen: "Nahezu jede Infektionskrankheit und fast jeder Krankheitserreger kann zur Sepsis führen, das gilt auch für Grippe oder Covid-19. In den USA und Großbritannien hätten Aufklärungskampagnen zu großen Erfolgen geführt. So erhielten junge britische Familien nach der Geburt ihres Kindes automatisch eine Infobroschüre. "Die Sterblichkeit bei Kindern bis 17 Jahren liegt bei 17 Prozent", erklärte Reingart.

Was passiert bei Sepsis im Körper?

Die Sepsis ist auch landläufig als Blutvergiftung bekannt. Ausgelöst durch eine Infektion und einen hohen Befall an Krankheitserregern kommt es dabei zu einer überschießenden und unkontrollierten Abwehrreaktion des Immunsystems. Die körpereigene Abwehrreaktion entwickelt sich so heftig, dass eigenes Gewebe und die eigenen Organe geschädigt werden. Werde die Reaktion nicht rechtzeitig durch Antibiotika gestoppt, kann sie zum Ausfall einiger Organe sowie schließlich zum multiplen Organversagen und zum Tod führen.

Die Erkrankung wird oft zu spät erkannt

Das Problem: Die Erkrankung wird von den Betroffenen und selbst von medizinischem Personal oft zu spät erkannt und nicht adäquat behandelt. "Die Symptome sind oft sehr unspezifisch, das erschwert die Erkennung zusätzlich", erklärt Matthias Gründling vom Uniklinikum Greifswald. Ein Zeichen sei "ein schweres Krankheitsgefühl", was es noch nie gab".  Wenn Verwirrtheit und schlechte Urinausschreidung hinzukommen, seien dies schon Zeichen des multiplen Organversagens.

Blutkulturdiagnostik soll Standard werden

Gründling leitet mit dem "Sepsisdialog" am Uniklinikum Greifswald ein Projekt mit umfangreichen Maßnahmen zur Sepsis-Früherkennung. Der Arzt forderte eine kontinuierliche Sepsis-Schulung des medizinischen Personals in allen Sektoren des Gesundheitswesens sowie Standards in den Krankenhäusern. "Das regelmäßige Screening von Risikopatienten ist sehr hilfreich", sagte Gründling. "Wir halten eine rund um die Uhr verfügbare Blutkulturdiagnostik für unverzichtbar." Eine entsprechende Diagnostik sowie Notfallexpertise in der Fläche forderte auch Ulrike Elsner vom Verband der Ersatzkassen (VDEK), der die Kampagne unterstützt.

Ärzte und Krankenhäuser können Aufklärungskampagne mit nutzen

Für die Aufklärungskampagne haben APS, die Sepsis Stiftung, die Sepsis-Hilfe und der Sepsisdialog der Universitätsmedizin Greifswald die Webseite deutschland-erkennt-sepsis.de eingerichtet. Dort sind Informationsmaterialien zur Sepsis sowie zu typischen Warnzeichen und Notfall-Verhaltensregeln zu finden. "Mit der Initiative wollen wir so viele Menschen wie möglich über das Thema aufklären", erklärte APS-Vorsitzende Hecker. Sie rief Ärzte und Krankenhäuser auf, sich an der Kampagne zu beteiligen. Sämtliches Infomaterial könne genutzt und auch verteilt werden. Unter dem Hashthg #deutschlanderkenntsepsis würden die Informationen digital verbreitet.

Quelle: MDR/kt

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