
Gesellschaft und Politik Deutschland-Monitor: Unterschiedliche Ansichten in Ost und West
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28. Januar 2025, 17:30 Uhr
In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Dieser Schlüsselfrage geht der aktuelle Deutschland-Monitor auf den Grund. Die Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie ist dabei im Osten Deutschlands deutlich größer als im Westen, vor allem in strukturschwachen Regionen. Eine weitere Erkenntnis: Auf nationaler Ebene gibt es ein viel geringer ausgeprägtes Wir-Gefühl als im lokalen Umfeld.
Wenn es nach der deutschen Bevölkerung geht, dann ist die Demokratie als Staatsform nicht in Gefahr. Knapp 99 Prozent halten die Idee der Demokratie für sehr gut oder eher gut. Das geht aus dem 164 Seiten starken "Deutschland-Monitor 2024" hervor, einer Zusammenarbeit zwischen dem Zentrum für Sozialforschung Halle (ZSH), dem Institut für Politikwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie dem GESIS Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften in Mannheim. Die Befragungszeiträume lagen dabei in April, Mai und Juni 2024. Jetzt wurden die ausgewerteten Ergebnisse vorgestellt.
Unzufriedener als mit der Demokratie-Idee an sich ist man in Deutschland allerdings mit der Umsetzung. So sinkt die Zufriedenheit schon ein wenig, wenn es um die deutsche Verfassungsordnung geht – im Osten mehr als im Westen. Und noch stärker wird dieser Trend bei der Frage nach dem tatsächlichen praktischen Funktionieren der Demokratie hierzulande. In Ostdeutschland ist da eine Mehrheit (53 Prozent) sehr unzufrieden oder eher unzufrieden. In Westdeutschland beträgt diese Quote 36 Prozent.
Im Osten überwiegen auch die Menschen, die im Deutschland-Monitor als "politikkritische Demokraten" oder gar als "systemkritische Demokraten" deklariert werden. Von beiden Gruppen gibt es zusammen mehr als "zufriedene Demokraten". Letztere sind aber im Westen mit 62 Prozent in der recht klaren Mehrheit.
"Politik- und Systemkritische Demokraten" stehen dabei parteipolitisch deutschlandweit am ehesten der AfD und dem BSW nahe, am wenigsten den Grünen und der SPD, dort finden sich die meisten "zufriedenen Demokraten".
Prosperität als Maß für Strukturstärke und -schwäche, allerdings getrennt nach Ost und West
"Der Osten" ist dabei natürlich keineswegs homogen, genauso wenig wie "der Westen". Um das zu untersuchen und Unterschiede aufzuzeigen, wurde im Deutschland-Monitor das Maß der "Prosperität" verwendet. Man könnte das auch mit Strukturstärke bezeichnen. Ein aus mehreren Parametern berechneter Wert (der sogenannte ILTIS-Indikator) gibt an, wie es um Arbeitsmarkt, Infrastruktur, Bevölkerungsentwicklung, Bildungsabschlüsse, Wertschöpfung und das Einkommen der Menschen in einer Region bestellt ist. 397 deutsche Kreise (außer Berlin, Hamburg und Bremen) wurden so im Deutschland-Monitor kategorisiert, bewertet und vergleichbar gemacht.
Allerdings nicht bundesweit einheitlich, denn "rund 34 Jahre nach der Wiedervereinigung", schreiben die Autoren des Deutschland-Monitors, "unterscheiden sich Ost- und Westdeutschland nach diesen ILTIS-Indikatoren zum Teil immer noch deutlich. Zur Einordnung von Kreisen hoher, mittlerer und niedrigerer Prosperität wurde daher die Verteilung dieses Gesamtindex getrennt nach Ost- und Westdeutschland betrachtet."
Die Kreise in Ost und West aus den jeweils oberen 20 Prozent der Wertespanne erhielten den Status "hohe Prosperität", die aus den jeweils unteren 20 Prozent den Status "geringe Prosperität", alle Kreise mit Werten dazwischen bekamen eine "mittlere Prosperität" bescheinigt. Aber wie gesagt, getrennt nach Ost und West.
Nach der ersten repräsentativen gesamtdeutschen Befragung gab es dann eine zweite, die diese Einteilung zugrunde legte. Wieder wurden insgesamt etwa 4.000 Menschen befragt, die gleichmäßig Ost und West sowie die hohe und geringe Prosperität repräsentierten. Im Osten waren das je 333 Menschen aus den Kreisen Dahme-Spreewald, Weimar und Potsdam-Mittelmark (hohe Prosperität) sowie Prignitz, Wittenberg und dem Salzlandkreis (geringe Prosperität).
In strukturschwachen Ost-Regionen herrscht anderes Empfinden als in strukturstarken
Und dabei zeigte sich, dass in strukturschwachen Regionen des Ostens zum Teil deutlich andere Wünsche und ein anderes Ungerechtigkeitsempfinden vorliegen als in Regionen, die strukturstärker sind. Beispielsweise ist in Kreisen mit geringer Prosperität der Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit als Teilaspekt einer gerechten Gesellschaft deutlich stärker ausgeprägt. Aber auch der Wunsch nach dem, was im Deutschland-Monitor "Etabliertenvorrechte" genannt wird – dass die alteingesessene Bevölkerung mehr Rechte haben soll als Hinzugezogene. Die Autoren schreiben, das könne auch "als Erklärungsfaktor für migrationskritische Einstellungen gelten".
Deutliche Unterschiede gibt es innerhalb des Ostens auch beim Ungerechtigkeitsempfinden. Während in strukturstarken Regionen Diskriminierung und Ungleichbehandlung verstärkt als besonders ungerecht empfunden werden, sind es in strukturschwachen Regionen viel mehr finanzielle Dinge: Renten- und Altersarmut sowie hohe Steuern und Abgaben.
Insgesamt ist das subjektive Empfinden einer wirtschaftlichen oder finanziellen Benachteiligung im Osten deutlich stärker ausgeprägt als im Westen. 38 Prozent im Osten denken, dass sie weniger erhalten als gerecht wäre. Im Westen geht das "nur" 27 Prozent der Menschen so.
"Wo Menschen das Gefühl haben, nicht den gerechten Anteil zu bekommen oder Angst haben, ihren Status einzubüßen, schwindet auch die Unterstützung des politischen Systems und seiner Akteure", sagt Jörg Hebenstreit, Politikwissenschaftler an der Universität Jena, einer der Autoren des Deutschland-Monitors. "Dies drückt sich etwa in Form einer geringen Demokratiezufriedenheit, eines schwachen Institutionenvertrauens und populistischen Einstellungen aus."
Unterschiede auch bei Wünschen, wohin sich die Gesellschaft entwickeln soll
Nicht gewaltig, aber doch signifikant sind die Unterschiede zwischen Ost und West bei einer der wichtigsten Fragen überhaupt: In was für einer Gesellschaft wollen Sie leben? Soll Deutschland Teil eines vereinigten Europas sein? Soll es ein klimaneutrales Leben sein? Und soll Zuwanderung als Chance gesehen werden? Zwar wird im Osten nichts davon mehrheitlich abgelehnt, aber die Skepsis ist jeweils spürbar größer als im Westen.
Güterabwägung zwischen Freiheit, Gleichheit und Sicherheit
Bemerkenswert ist die Erkenntnis, welches der drei Güter Freiheit, Gleichheit und Sicherheit nach Ansicht der Menschen am stärksten wiegt. Gleichheit hat in dieser Abwägung gegen die Freiheit keine Chance (deutschlandweit durchschnittlich 23 zu 73 Prozent). Sicherheit hingegen halten die Menschen für noch wichtiger als Freiheit (deutschlandweit durchschnittlich 54 zu 40 Prozent).
Zwei Dinge fallen dabei auf: Erstens erhält die Freiheit in besonders strukturschwachen Ost-Regionen jeweils die wenigsten Stimmen, während sie in besonders strukturstarken West-Regionen am höchsten gehalten wird. Und zweitens scheint, zumindest in diesen Fragen, der vergleichsweise strukturstarke Osten ähnlich zu ticken wie der vergleichsweise strukturschwache Westen.
Wir-Gefühl ist im Großen kaum vorhanden, im Kleinen aber schon
Eine Tendenz gilt in ganz Deutschland, wenn auch im Osten etwa stärker. Es ist derzeit schlecht bestellt um Vertrauen, Mitgefühl und Zusammenhalt in der Gesellschaft. Gerade bei Letzterem sagen 56 Prozent im Osten, der sei überhaupt nicht oder zumindest eher nicht vorhanden, nur sieben Prozent sehen einen gesellschaftlichen Zusammenhalt, im Westen sind es 13 Prozent.
Das ist insofern bemerkenswert, als dieses Wir-Gefühl auf lokaler Ebene (also nicht gesamtgesellschaftlich) sehr stark ausgeprägt ist – oder zumindest ein Jahr zuvor war. Denn im Deutschland-Monitor 2023, der andere Fragen als diesmal beinhaltete, gab eine Mehrheit der Menschen an, dass sich die Leute gegenseitig helfen und dass man den Leuten vor Ort ganz allgemein vertrauen kann.
An dieser Einstellung wird sich ein Jahr später vermutlich wenig geändert haben. Die Autoren des Deutschland-Monitors schlussfolgern daraus: "Demzufolge bietet Deutschland gegenwärtig das Erscheinungsbild einer vertikal gespaltenen Gesellschaft der besonderen Art: Die Erfahrungen und Wahrnehmungen, die die Menschen einerseits mit der lokalen und andererseits mit der überlokalen sozialen Welt machen, sind weitgehend entkoppelt."
Sterben die Unterschiede zwischen Ost und West irgendwann aus?
Im Deutschland-Monitor finden sich Ost-West-Unterschiede vorwiegend bei älteren Personen, die in der ehemaligen DDR beziehungsweise alten Bundesrepublik geboren und sozialisiert wurden. Hingegen würden jüngere Menschen, die im wiedervereinigten Deutschland aufgewachsen sind, in Ost wie West mehrheitlich die gleichen Gesellschaftsbilder teilen. Dies, wie auch der Befund, dass in strukturstarken Ost- und strukturschwachen Westkreisen die Einstellungen nahe beieinander liegen, stützt nach Ansicht von Reinhard Pollak, Soziologe am GESIS Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften Mannheim, die These des Deutschland-Monitors, dass die Annahme einer generellen Ost-West-Differenz nicht mehr der Realität entspricht.
Und tatsächlich sieht man diese Angleichung im Laufe der verschiedenen Generationen, zum Beispiel bei der oben schon thematisierten Abwägung zwischen Freiheit, Gleichheit und Sicherheit. Die größten Unterschiede zwischen Ost und West gibt es da innerhalb der ältesten Generationen.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 24. Januar 2025 | 17:13 Uhr
part vor 5 Wochen
Die einen haben ihre gesellschaftspolitische Bildung nur über die Medien erfahren, die anderen zusätzlich in der POS und EOS. Keine Angst, diese Jahrgänge sterben langsam aus, dann sind wieder alle gleich.
AlexLeipzig vor 5 Wochen
"dass die Annahme einer generellen Ost-West-Differenz nicht mehr der Realität entspricht" - das ist die gute Nachricht. Auch, daß die Demokratie weiterhin als wichtig und erstrebenswert erachtet wird. Bei allen Herausforderungen und Problemen, vor denen unsere Gesellschaft steht, scheint das Wertegerüst stabil zu sein und nicht grundlegend von Ängsten und populistischen Strömungen demontiert.