Uni Halle-Wittenberg Gift in Rohmilch durch Bergahorn auf der Weide
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12. Juni 2021, 10:00 Uhr
Hypoglycin A ist ein Giftstoff, den ein Forschungsteam aus Halle jetzt in Rohmilch nachgewiesen hat. Und zwar von Kühen, die auf ihrer Weide offenbar nicht nur gegrast, sondern auch Blätter, Sprösslinge oder Samen des Bergahorns verspeist haben. Wie giftig ist der Stoff für Mensch oder Tier? Und kann der in jeder Milch stecken?
Was haben Bergahorn, Akee-, Longanfrucht und Litschi gemeinsam? Zum einen zählen sie alle zur Familie der Seifenbaumgewächse Sapindaceae. Zum anderen enthalten sie den gleichen Giftstoff: Hypoglycin A. Man findet ihn im Fruchtfleisch reifer und unreifer Früchte in verschiedenen Konzentrationen, es gibt ihn in Frucht-Schalen, in Samen, Sprösslingen, oder Blättern. Geringe Mengen dieses Stoffs hat nun ein Forschungsteam der Universität Halle-Wittenberg erstmals auch in Rohmilch nachgewiesen. Genauer gesagt in Milchproben aus Milchtanks oder Abfüllstationen, die Betriebe in Norddeutschland zur Verfügung gestellt hatten. Dabei wurden Proben aus Sammeltanks untersucht und nicht die Milch einzelner Kühe, sagt Professorin Dr. Annette Zeyner vom Institut für Agrar- und Ernährungswissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Die Konzentration der Substanz lag den Messungen zufolge bei 17 und 69 Mikrogramm pro Liter Milch. "Das sind geringe und sehr unterschiedliche Konzentrationen. Wenn man aber bedenkt, dass auf der Weide nur ein einziger Baum stand und die Proben aus einem Sammeltank stammten, war es für uns überraschend, überhaupt etwas nachweisen zu können", sagt Zeyner. In Proben aus anderen Tanks wurde nämlich kein Hypoglycin A nachgewiesen.
Was macht Hypoglycin A im menschlichen Körper?
Wissenschaftlerin Zeyner erklärt die Wirkweise so: "Die Substanz stört den Energiestoffwechsel im Körper. Ein typisches Symptom beim Menschen ist ein sehr niedriger Blutzuckerspiegel." Wie extrem der Stoff sich auf den Körper auswirken kann, zeigen Erfahrungen aus Indien, mit einer auf den ersten Blick harmlosen Obst-Sorte: Litschi.
Im Bundesstaat Bihal im Norden des Landes sorgten ab 1995 rätselhafte Todesfälle von Kindern für Schlagzeilen, die immer zur selben Jahreszeit, zwischen Mitte Mai und Juni, in der Nähe von Litschi-Plantagen auftraten, bei Kindern, die statt Abendessen herabgefallene und unreife Früchte gegessen hatten und morgens unter Krampfanfällen und Bewusstseinsstörungen litten. Bei ihnen wurden ungewöhnlich niedrige Blutzuckerwerte festgestellt. 2017 wurde das Rätsel gelöst. Eine US-Studie zeigte den Zusammenhang der rätselhaften Todesfälle mit dem Verzehr von Litschis auf.
Tausende Kilometer entfernt, in Jamaica, kennt man die "Vomiting Sickness" oder "Akee-Vergiftung" schon lange. Sie wurde schon 1875 beschrieben und auf den Verzehr einer Frucht, der Akee-Pflaume, zurückgeführt. Der Akee-Baum ist ebenfalls ein Seifenbaumgewächs und stammt ursprünglich aus Afrika. Seine Frucht, die Akee-Pflaume, enthält ebenfalls das Toxin Hypoglycin A. Symptome der "Vomiting Sickness": Schwitzen, beschleunigte Atmung, Schwindel, Benommenheit, Flattern im Brustkorb und etwa 18 Stunden später Erbrechen, gefolgt von Krämpfen, Koma und Tod, wenn keine medizinische Hilfe erfolgt.
Was wenn Tiere Hypoglycin A aufnehmen?
In Europa kennt man ähnliche Schlagzeilen im Zusammenhang mit Hypoglycin A eher aus dem Herbst und dem Frühjahr, und zwar aus der Pferdehaltung, wenn Pferde an der atypischen Weidemyopathie verenden. Das ist eine Muskelerkrankung durch Vergiftung, bei der die meisten Tiere binnen 72 Stunden nach dem Auftreten erster Symptome eingehen. Erste Berichte darüber gab es bereits 1939 in England, erst in den 2000er-Jahren gab es Gewissheit. Stephanie Valberg, einer US-Spezialistin auf dem Gebiet der Pferdemuskeln, gelang 2012 der Nachweis von Hypoglyzin A als Auslöser für das rätselhafte Pferdesterben im Frühjahr und Herbst. Belgische Forschungen bestätigten diese Befunde für Europa. Heute werden an der Universität Lüttich/Belgien alle Fälle Atypischer Weidemyopathie zentral erfasst.
Die Dosis macht das Gift, nur welche ist es denn genau, wieviel Samen muss ein Pferd fressen, bis es an Bergahorn-Samen oder Sprösslingen verendet, oder welche Menge ist nicht tödlich? Darüber ist sich die Wissenschaft noch uneins. Die tolerierbare Dosis von Hypoglycin A wird in einer Studie aus den USA für ein Pferd auf minimal 26 und maximal 373 mg/kg Körpergewicht/Tag geschätzt, umgerechnet etwa 165 bis zu 8.000 Samen. Das Schweizer Institut für Veterinärpharmakologie und ‑toxikologie, spricht dagegen von 30 bis 40 Samen, die für ein Pferd toxisch sein können, sofern hohe, allerdings nicht näher benannte, Konzentrationen enthalten sind. Daten zu Kühen gibt es bislang offenbar nicht.
Toxin aus Bergahorn auch in der Milch?
Und was ist nun mit der Milch? Kann das Toxin aus der Milch dem Menschen schaden? Wie viel müssen Kühe davon aufnehmen, bis der Stoff nachgewiesen wird? Was passiert mit dem Stoff bei der Verarbeitung der Milch? Ab welcher Menge sind Bergahornsprösslinge oder -Samen giftig für die Kuh oder die Menschen, die die Milch trinken? Alles Fragen, die weitere Studien klären müssten, sagt die Hallenser Forscherin.
Das bestätigt auch die Giftnotrufzentrale Erfurt auf Anfrage von MDR WISSEN. Zu Vergiftungen mit Hypoglycin A durch Ahorn über Kuhmilch beim Menschen gebe es bislang keine Angaben, der Wissenstand zur Toxizität von Hypoglycin A sei derzeit noch zu dürftig. "Unseres Wissens gibt es hierzulande bisher keine saisonalen, massenhaft auftretenden und ungeklärten Enzephalopathien bei Kuhmilch-gefütterten Kindern, die mit Krampfanfällen und Hypoglykämien (Unterzuckerung) einhergehen", schreibt Mikrobiologin Dr. Bettina Plenert. "Ob bei einer solchen Symptomatik an Hypoglycin A gedacht würde, ist zum aktuellen Zeitpunkt sehr unwahrscheinlich." Auf der Homepage des Bundesinstituts für Risikobewertung ist das Toxin bislang erst in drei Veröffentlichungen erwähnt, bei denen es aber nicht um Milch und Menschen, sondern um Pferde und die Weidemyopathie geht, sowie um Fortbildungen zum Thema.
Die Pilotstudie der Uni Halle/Wittenberg lesen Sie hier im Original.
(lfw)