Ein Mbendjele-Lager im Regenwald des Kongo
Viele indigene Dorfgemeinschaften ziehen ihre Kinder gemeinsam groß. Hier ein Mbendjele-Lager im Regenwald des Kongo, das von dem britischen Anthropologen Nikhil Chaudhary untersucht wurde. Bildrechte: Dr Nikhil Chaudhary

Kinderbetreuung Wie viele Bezugspersonen braucht ein Kind?

27. November 2023, 13:11 Uhr

"Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf." Nach diesem Credo leben noch heute Jäger- und Sammlergesellschaften auf dem afrikanischen Kontinent. Eine neue Studie aus Cambridge hat untersucht, wie sich die Fürsorge vieler auf das Wohlergehen von Mutter und Kind auswirkt und was wir davon vielleicht lernen können.

Welche Fürsorge ist für unser Kind die Beste? Diese Frage bewegt Eltern überall auf der Welt. Die Bindungsforschung habe dazu jedoch bislang Familien der westlichen Länder untersucht, kritisieren die Evolutionsanthropologen Nikhil Chaudhary und Gul Deniz Salali von der Universität Cambridge. Schließlich hätten wir mehr als 95 Prozent unserer Evolutionsgeschichte als Jäger und Sammler gelebt, in großen Gemeinschaften und nicht in der sogenannten Kernfamilie aus Mutter, Vater und Kindern. Ist der Nachwuchs psychologisch deshalb vielleicht eher auf eine ganz andere Fürsorge eingestellt? Auf die mehrerer Bezugspersonen?

Um das herauszufinden, besuchten Chaudhary, Salali und ihr Team die Mdendjele Bayaka in der Republik Kongo, die noch heute als Jäger und Sammler leben. Sie begleiteten dort den Alltag von 18 Babys und Kleinkindern bis zum Alter von vier Jahren. Sie konnten miterleben, dass diese etwa neun Stunden am Tag die aufmerksame Fürsorge und den Körperkontakt von bis zu 10 bis 20 verschiedenen Bezugspersonen bekommen. Wenn die Kinder weinen, werden sie schnell getröstet, nicht ausgeschimpft. Die Mutter muss also die Schreiepisoden ihres Babys nicht allein bewältigen, was eine besonders schwierige Aufgabe in den ersten Lebensmonaten sein kann. Die leiblichen Mütter dort erhielten also weit mehr Unterstützung als derzeit in westlichen Ländern. "Allomothering" nennen die Wissenschaftler diese Form der Fürsorge.

Sind Babys eher auf mehrere Bezugspersonen eingestellt?

Um diese Frage zu beantworten, zogen Chaudhary und Salali die Kinderpsychiaterin Annie Swanepoel hinzu, die an der Auswertung der Daten beteiligt war. Möglicherweise seine Kinder tatsächlich evolutionär auf ein außergewöhnlich hohes Maß an körperlichem Kontakt und Fürsorge sowie persönlicher Aufmerksamkeit von mehreren Betreuern vorbereitet, zusätzlich zu ihren leiblichen Eltern. Allerdings müsse man auch davon ausgehen, dass unsere Psyche in der Lage sei, sich an bestimmte Lebensweisen anzupassen.

Inwiefern das auch auf die Kindererziehung zuträfe, sei noch umstritten. Was man aber sicher sagen könne, sei, dass die Unterstützung der Mütter zahlreiche Vorteile für die Kinder habe, so Swanepoel: "Sie verringert das Risiko von Vernachlässigung und Missbrauch, federt familiäre Probleme ab und verbessert das mütterliche Wohlbefinden, was wiederum die mütterliche Fürsorge verbessert."

Die Unterstützung der Mütter verringert das Risiko von Vernachlässigung und Missbrauch.

Annie Swanepoel, Kinderpsychiaterin

Darüber hinaus ergab die Studie, dass ältere Kinder und Jugendliche der Mdendjele häufig stark in die Betreuung von Säuglingen eingebunden sind. Die Mütter unterstützen sie dabei und vermitteln so wertvolle Erfahrungen. Die Forscher nehmen an, dass dies ihr Selbstvertrauen als Fürsorgende stärken und möglicherweise einen gewissen Schutz vor den Ängsten bieten könnte, die Ersteltern oft erleben.

Wie viel Allomothering passt in unseren westlichen Alltag?

Die Erziehung durch ein "ganzes Dorf" hat also offenbar viele Vorteile. Doch wie viel davon lässt sich auf unsere Lebenswirklichkeit übertragen? Wenn wir in Großstädten die Nachbarn kaum kennen und die Großeltern weit weg leben? "Das Kernfamiliensystem im Westen ist weit entfernt von den gemeinschaftlichen Lebensformen von Jäger- und Sammlergesellschaften wie den Mbendjele", bestätigt Chaudhary. Er sieht jedoch in der Änderung der Kinderbetreuungspolitik einen wichtigen Schritt: Er kritisiert bereits den Ansatz, Kita-Plätze nur zur Verfügung zu stellen, um den Eltern die Erwerbsarbeit zu ermöglichen und nicht zu berücksichtigen, dass alle Mütter und Väter auch eine Pause bräuchten.

Kinderbetreuung muss Eltern auch eine Pause geben.

Nikhil Chaudhary, Evolutionsanthropologe

Eltern hätten in der gesamten Menschheits- und Vorgeschichte noch nie so unter dem Druck gestanden wie heute, was mangelnde Unterstützung betrifft, so das Fazit der Autoren. Auch zur Betreuungsqualität liefere die Studie wichtige Hinweise. So ergebe sich bei den Mdendjele-Gemeinden ein Schlüssel von fünf Betreuern auf ein Kind und trotz der Vielzahl von Fürsorgenden ein stabiler Kern von Hauptbezugspersonen. Auch davon würden die Kinder in ihrer Entwicklung profitieren.

Das können unsere Kitas von den Dorfgemeinschaften der Jäger und Sammler lernen

Ein Verhältnis von fünf Erziehern auf ein Kleinkind ist für Kindertagesstätten sicher illusorisch und es gibt keine wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse dazu, welcher Betreuungsschlüssel je nach Alter optimal ist. Experten der Bertelsmannstiftung kommen auf drei Kinder pro Erzieher. Das tatsächliche Verhältnis ist regional sehr verschieden ist. Zu den Schlusslichtern gehören nach Daten von 2019 Sachsen mit 5,4 und Sachsen-Anhalt mit 5,8 Kindern im Alter von ein bis drei Jahren, nur noch gefolgt von Mecklenburg-Vorpommern mit 6 Kindern pro Erzieher.

Generell sind die Kitas im Hinblick auf den Betreuungsschlüssel in Ostdeutschland mit 5,7 deutlich schlechter aufgestellt als im Westen, wo sich ein Erzieher im Durchschnitt um 3,6 Kleinkinder kümmert. Zwar habe sich bis 2021 die Situation mancherorts geringfügig gebessert, jedoch fanden 2023 384.000 Familien überhaupt keinen Betreuungsplatz für ihr Kind, so die aktuelle Studie der Bertelsmannstiftung. Dabei gilt dafür seit nunmehr 10 Jahren ein Rechtsanspruch darauf.

Die größte Hürde auf dem Weg zu genügend Plätzen und mehr Qualität in der frühkindlichen Bildung ist und bleibt der enorme Fachkräftemangel.

Annette Stein, Expertin für frühkindliche Bildung

Das betont Annette Stein, Expertin für frühkindliche Bildung der Bertelsmannstiftung. Es müsse jetzt sehr schnell gelingen, viel mehr Personen für das Berufsfeld zu gewinnen. Dabei verweist sie auf die Wechselwirkung im Kita-Alltag: "Mit mehr Personal verbessern sich die Arbeitsbedingungen für alle. Damit steigen die Chancen, dass sich mehr Menschen für die Arbeit in einer Kita entscheiden, und zugleich die vorhandenen Fachkräfte im Beruf verbleiben." Dazu brauche es eine verbindliche Strategie, Stufenpläne. Ansonsten verlören die Kitas ihre Attraktivität als Arbeitsplatz und könnten ihren Bildungsauftrag nicht mehr erfüllen.

Es werde Zeit beanspruchen, die benötigten Fachkräfte zu gewinnen und vor allem zu qualifizieren, so die Expertin. Dennoch müsse das vorhandene Personal schon jetzt entlastet werden, zum Beispiel durch zusätzliche Hilfs- und Hauswirtschaftskräfte. Denn die Anforderungen an das Kita-Personal sind sehr vielfältig und lassen sich mit der aktuellen Zahl an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht mehr umsetzen. Es braucht also auch bei uns ein Dorf, eine Gemeinschaft, um dem Recht der Kinder auf gesundes Aufwachsen und Bildung zu entsprechen.

Links/Studien

Bertelsmann-Studie zur aktuellen Situation der Kinderbetreuung in Deutschland

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3 Kommentare

Vreni vor 25 Wochen

Ich arbeite als Erzieherin und möchte dazu sagen, wenn sich ein/e Erzieher/in um durchschnittlich 3,6 Kinder kümmert, dann sind es in der Realität oft doppelt so viele. Weil erfahrungsgemäß fast immer jemand Urlaub oder Fortbildung hat, krank ist oder Vorbereitungszeit hat. Ab und zu wird natürlich auch eine Kollegin schwanger und fällt gleich komplett aus. Personal zu finden ist extrem schwierig, vor allem gutes. Die Kita mag für die Eltern eine Entlastung sein, für die Kinder jedoch nicht immer. Es ist ein großer Unterschied, ob ein Kind sechs Stunden oder bis zu elf Stunden pro Tag in der Kita ist. Es ist laut und die Kinder müssen oft funktionieren. Mir ist klar, dass viele keine Wahl haben, weil sie arbeiten müssen, um finanziell zu überleben oder Hilfe und Auszeiten brauchen, aber ich möchte appellieren an alle Eltern, hört auf euer Bauchgefühl und meldet euer Kind unter drei nicht in einer Kita an, wenn ihr nicht wollt und lasst euch von der Gesellschaft keinen Druck machen.

Anni22 vor 25 Wochen

Also bei solchen Gruppen, die noch in Stämmen zusammenleben, kann man davon ausgehen, dass die Mütter überhaupt nicht "auswärts" arbeiten. Die gesamte weibliche Verwandtschaft steht also ständig zur Betreuung bereit, bzw werden die Kinder eben immer mitgenommen zu allen Tätigkeiten. Das kann man mit KITA und Betreuung durch Familienfremde mal gar nicht vergleichen.

Entropie vor 24 Wochen

Das spätromantische Bildnis vom edlen Wilden. Wers glaubt tut mir leid.