Der Zentrale Busbahnhof in Berlin ist leer
Keine Passagiere am zentralen Busbahnhof in Berlin wegen der Corona-Krise. Bildrechte: picture alliance/dpa

Kritik an Wolfgang Wodarg Faktencheck: Sind die Maßnahmen gegen Corona übertrieben?

19. März 2020, 14:38 Uhr

Im Internet zirkuliert ein Video mit dem früheren Amtsarzt und SPD-Bundestagsabgeordneten Wolfgang Wodarg. Darin nennt er die Einschränkung des öffentlichen Lebens völlig übertrieben. Hat er recht?

Coronaviren gab es schon immer bei Tieren und bei Menschen. "Es ist also nichts Besonderes, dass es jetzt neue Coronaviren gibt. Das heißt aber nicht, dass diese gefährlicher sind als andere", sagt der Mediziner und frühere Gesundheitspolitiker Wolfgang Wodarg im ZDF-Magazin Frontal21.

Zugleich kursiert bei Youtube ein Videointerview mit ihm, in dem Wodarg die jetzigen Reaktionen in Deutschland auf das neue Sars-Corona-Virus-2 als Panikmache bezeichnet. Gäbe es keinen Test, würde niemandem auffallen, das ein neues Virus kursiert. Die Sterblichkeitsrate habe sich in Europa bislang nicht wirklich erhöht, schreibt der Mediziner auf seiner eigenen Webseite.

Sind die Gegenmaßnahmen gegen Corona übertrieben?

Im MDR-aktuell Podcast diskutiert der Medizinprofessor Alexander Kekulé die Aussagen Wodargs. Darin räumt er grundsätzlich ein: Es sei richtig, die Frage zu stellen, ob die Gegenmaßnahmen nicht zu scharf seien und ob die dadurch verursachten Kollateralschäden größer seien, als die Schäden durch das Virus. Trotzdem sagt Kekulé, Wodarg verwechsele Tatsachen.

Die meisten Coronaviren sind zwar harmlos, aber bei diesem Sars-Corona-Virus-2 haben wir relativ früh erkannt, dass die Sterblichkeit etwa zehnmal so hoch ist wie bei einer normalen Grippe. Herr Wodarg argumentiert, wie das Robert-Koch-Institut noch vor einigen Wochen, nach dem Motto: Die Grippe ist viel schlimmer, jetzt regt euch nicht auf über ein paar Fälle Corona. Es ist aber so: Wenn Sie eine Infektion haben mit Sars-CoV-2, dann ist ihre Chance, daran zu sterben, viel viel höher als bei der Grippe. Und wir können unser medizinisches Personal nicht vor einer Ansteckung schützen. Wodargs Argumente gehen also ins Leere.

Professor Alexander Kekulé

Wie hoch ist die Sterblichkeit durch Corona wirklich?

Wodarg behauptet, dass in diesem Jahr nicht mehr Menschen sterben werden, als in anderen Jahren. Zum Beleg verweist er auf das Mortality Monitoring, die Statistik der Todesfälle in Europa. Die liegt allerdings aktuell nur bis zum 8. März vor und zeigt keine erhöhte Sterblichkeit in Europa. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt nur Italien stärker betroffen, der Ausbruch hier hatte gerade erst begonnen. Wir wissen also wirklich noch nicht, ob in diesem Jahr durch das neuen Coronavirus insgesamt mehr Menschen sterben werden, weder in China noch in Deutschland. Vielleicht sterben etwa in China aufgrund der Luftverbesserungen durch den Corona-Stillstand 2020 sogar weniger Menschen. Das ist Spekulation. Aber was wir wissen ist, dass es jetzt passiert, dass die Ansteckung exponentiell erfolgt, die Todesfälle steigen und die reale Gefahr besteht, dass das Gesundheitswesen dem nicht mehr gewachsen ist.

Verursacht das neue Coronavirus die gleichen Symptome wie andere Erkältungsviren?

Das Sars-Coronavirus-2 vermehrt sich im oberen Rachen. Dadurch ist es ansteckender, als das Sars-1-Virus. Sars-CoV-2- befällt dafür nicht oft die Lunge. Wenn das aber passiert, kommt es meist zu einem schweren Verlauf der Krankheit.

Das Hauptproblem am neuen Erreger ist: Weil noch kaum Menschen an dem neuen Virus erkranken konnten, gibt es keine Grundimmunität in der Bevölkerung. Dadurch kommt es zur schnellen Ansteckung, wenn die sozialen Kontakte nicht unterbunden werden. Etwa jeder Fünfte erkrankt so schwer an Covid-19, dass er in einem Krankenhaus behandelt werden muss.

Auch bei der gewöhnlichen Grippe gibt es so schwere Verläufe, dass eine Behandlung in Kliniken nötig wird. Dass ist eine der wirklich großen Gefahren: Die Grippewelle hält nach wie vor an. Kommt jetzt noch Corona dazu, könnten die Krankenhäuser sehr schnell an ihre Grenzen kommen. Bei ungehinderter Ausbreitung des neuen Virus seien bis Ende April etwa 350.000 Infizierte zu erwarten, schreibt Lars Fischer im Wissenschaftsblog bei spektrum.de. 20 Prozent davon wären 70.000 Patienten, die zusätzlich in Kliniken behandelt werden müssen. Die 30.000 vor kurzem noch freien Betten in den Intensivstationen würden also nicht ausreichen. Das Gesundheitssystem wäre überlastet. Das aber bedeute auch, dass behandelbare Herzinfarktpatieten, Diabetiker oder "Kinder, die vom Fahrrad fallen" nicht mehr behandelt werden können.

Wenn man viele Todesfälle in kürzester Zeit hat, kommt es ja zu Sekundäreffekten: Menschen, die eigentlich behandelt werden könnten, können nicht behandelt werden, weil die Krankenhäuser überfüllt werden. Die sterben dann mangels Behandlungsplätzen. Deshalb ist es richtig, sich gegen das Virus zur Wehr zu setzen.

Professor Alexander Kekulé

Ist das neue Coronavirus gar nicht neu, sondern lang bekannt und eigentlich harmlos?

Wodarg behauptet auch, das neuartige Coronavirus Sars-CoV-2 sei erst durch die Tests sichtbar geworden. Ohne diese Nachweise wäre es niemandem aufgefallen. Kekulé entgegnet, es stimme zwar, das es jede Menge bekannte Corona-Viren bei Tieren und Menschen gebe. Aber die seien grundsätzlich verschieden von dem jetzt neu aufgetretenen Erreger. Deshalb sei es auch nicht möglich, einen Impfstoff gegen alle Arten von Corona zu entwickeln.

Gewinnen Sie einen Impfstoff gegen ein Coronavirus, würde das gegen andere Coronaviren gar nicht wirken. Die verschiedenen Typen sind auch unterschiedlich aggressiv. Man kann sich das wie bei Hunden vorstellen. Es gibt tausende Hunde, das sind süße Schmusetierchen. Aber dann gibt es einen, der ist tollwütig und beißt alles, was er kriegen kann. Nur, weil sie mit den Schoßhündchen klarkommen, heißt das nicht, dass sie den tollwütigen Hund an die Leine bekommen.

Wurde der Virentest ausreichend überprüft, testet er wirklich Sars-CoV-2?

Wodarg behauptet auch, der Test für das neue Coronavirus sei nicht ausreichend validiert - also möglicherweise gar nicht aussagekräftig, mit anderen Worten unwissenschaftlich. Darauf antwortet Prof. Christian Drosten in seinem Podcast beim NDR. Der Test basiert auf einem nahe verwandten SARS-Coronavirus, so Drosten, der ihn bereits im Januar 2020 an der Charité entwickelt hat. Ob er auch das neue Sars-CoV-2 zuverlässig nachweist und nicht versehentlich harmlose Erkältungs-Corona-Viren, wurde in einer aufwendigen Studie mit der Universität Hong Kong, der Universität Rotterdam, der nationalen Public Health Organisation in London und Patienten an der Berliner Charité getestet. Insgesamt sei der Test an mehreren hundert Proben durchgeführt worden und habe kein einziges Mal ein falsch positives Ergebnis angezeigt.

Verdient Christian Drosten am Einsatz der Coronatests?

Ein weiterer Vorwurf von Kritikern lautet, der Virologe Christian Drosten verdiene am Test auf das neuartige Sars-Corona-Virus-2. Im Podcast beim Norddeutschen Rundfunk widerspricht der Chefarzt an der Berliner Charité entscheiden.

Die Tests wurden innerhalb eines weltweiten Netzwerks beteiligter Universitäten entwickelt. Die Forschung wurde aus öffentlichen Geldern bezahlt. Eine Stelle innerhalb des Forschungsprojekts wird von der Europäischen Union bezahlt. So werde ermöglicht, dass die Erbinformation des Virus, das RNA-Material, unter den beteiligten Laboren ausgetauscht werden könne, sagt Drosten. "Dieses Projekt wird an der Universität in Marseille koordiniert. Wer ein Paket bestellt, muss sich an den Kosten für den Transport beteiligen". An diesem Austausch sei seit kurzem auch die Bill-and-Melinda-Gates-Foundation beteiligt.

Die Labore, die die Tests durchführen, rechnen diese als medizinische Leistungen ab. Bei den meisten Patienten übernehmen das die Krankenversicherungen. Bei einigen privat Versicherten stünde Drostens Name auf der Rechnung. "Davon sehe ich keinen Cent, diese Beträge gehen alle an die Mitarbeiter der Testlabore", sagt Drosten.

(ens)

Korrektur 19.03.2020

In einer ersten Fassung hatten wir geschrieben, dass in China die Sterblichkeit durch COVID-19 im Jahr 2020 bereits erhöht ist. Diese Zahlen beruhten jedoch auf Projektionen.

42 Kommentare

MDR-Team am 19.03.2020

Lieber Matthias Wald,
nach Ansicht vieler Experten und der Bundesregierung gab und gibt es keine Zeit für lange Diskussionen. Der überwiegende Teil der Wissenschaft sprach sich für die getroffenen Maßnahmen aus, da Modelle zeigten, dass wir aufgrund der exponentiellen Verbreitung des Virus in kurzer Zeit mit Millionen Erkrankten hätten rechnen müssen. Dies hätte bzw. würde unser Gesundheitssystem nicht verkraften. Italien ist das beste Beispiel dafür. Dort liegt die Sterblichkeitsrate um ein vielfaches höher als in den Ländern, die rasch drastische Schutzmaßnahmen ergriffen haben.

Mit der Kritik an Herrn Wodarg haben auch nicht nur wir uns beschäftigt: https://www.tagesschau.de/faktenfinder/corona-wodarg-101.html

Was nützt es uns, dass das Virus für die Mehrheit "ungefährlich" ist, wenn die Minderheit in großer Menge stirbt? In einer solidarischen Gesellschaft versucht man alle Mitglieder zu schützen.
Freundliche Grüße aus der MDR-Wissen-Redaktion

MDR-Team am 19.03.2020

Lieber Frank Mueller,
wir haben dazu hier bereits einiges geschrieben. Herr Kekulé bezieht sich wohl darauf, dass die Sterblichkeitsrate der Grippe im Allgemeinen mit 0,1 bis 0,2 Prozent angegeben wird und es eine Untersuchung in China gibt, dass dort rund 2,3 Prozent der mit Sars-CoV-2 Infizierten starben. Die WHO dagegen schätzt beim Coronavirus eine Sterberate von 0,7 Prozent.
Gesichterte Zahlen kann es zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht geben. Die Experten sind sich allerdings zum Großteil einig, dass die Sterberate beim Coronavirus deutlich höher ist, als bei der Grippe.
Freundliche Grüße aus der MDR-Wissen-Redaktion

CrizzleMyNizzle am 19.03.2020

"Dann braucht sich diese Generation auch nicht ärgern wenn das Rentenalter auf 70 und mehr herauf gesetzt wird damit der Staat seine Steuern bekommt, die er braucht, um zu existieren."
wenn man böse sein will, könnte man meinen die Jungen legen es drauf an nicht bis 70 zu arbeiten... denn sie selbst sind ja nicht betroffen von den schweren Folgen, andere schon und diese "vielen" machen ja erst die 70 notwendig...