Teaserbild Altpapier-Spezial am 28. Mai 2019: Farben der EU-Flagge mit Sternen. Schriftzug EUWAHL
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Das Altpapier-Spezial am 28. Mai 2019 Korsett nationaler Kleinstfragen

Die europäische Dimension der EU-Wahlen wird teilweise verschluckt oder verkümmert zum Selbstgespräch. Surfen Medien mit dem Erklärungsversuch des "Rezo-Effekts" lediglich auf einer Aufmerksamkeitswelle und machen sich die Analyse zu einfach? Und was ist da genau im rechten Parteienspektrum passiert: Erfolg oder Misserfolg? Ein Altpapier zur Europawahl von Nora Frerichmann.

Vor allem in einem Punkt war die Berichterstattung über die Europawahl durchweg von Fanfaren, Pauken und Trompeten geprägt. Von einem klaren Bekenntnis zur EU ist in internationalen Medien seit Sonntagabend die Rede:

"So viel Europa war schon lange nicht mehr. Oder – im Gesamten gesehen – überhaupt noch nie. (…) Das Gemeinsame regt Europa auf: im Positiven wie im Negativen",

schreibt Thomas Mayer beim österreichischen Standard mit Blick auf die um fast zehn Prozent gestiegene Wahlbeteiligung. Auch Alberto Alemanno, Professor für EU-Recht an der Pariser HEC (Hautes Études Commerciales) Business School, bezeichnete die Europawahlen der vergangenen Woche als "absolut beispiellos" für den Status der EU als politischem Raum. Bei Euronews sagte er:

"Zweifellos haben die Bürger Europas diese Wahlen anders erlebt, und auch die Ergebnisse sind neu – ein sehr fragmentiertes Parlament. Diese Wahlen waren absolut beispiellos, und dies hat zu dem Ergebnis geführt, dass die Bedeutung der EU für das Leben der Menschen deutlich wird, dass die Bürger erwarten, dass sich die Europäische Union in ihrem nationalen, aber auch in ihrem europäischen politischen Leben positioniert. Das sah aus wie Wahlen auf nationaler Ebene - aber in Wahrheit war das mehr, etwas Tieferes – Europa ist als politischer Raum aufgetaucht. So wird man das in Erinnerung behalten (…)."

Von diesem Gemeinsamen und diesem politischen Raum Europa war aber zunächst mal in der Berichterstattung beim TV-Ereignis namens Wahlabend gar nicht so viel zu erkennen.

Europa im Hintergrund

Abseits von der Diskussion um die Postenverteilung, wie vor allem die Kommissionspräsidentschaft, wurde die europäische Dimension des Ereignisses von einer Fülle nationaler Kleinstfragen verschluckt. Den Wahlabend im Ersten z.B. (bestehend aus den Sondersendungen zur Wahl und "Anne Will") dominierten Fragen wie:

Schlappe für die SPD: Wer ist schuld? Andrea Nahles: Sollte sie jetzt zurücktreten? Was ist im Wahlkampf der "Volksparteien" schiefgelaufen? Die Grünen im Freudenrausch: Sind dafür "die Medien" verantwortlich – oder gar diese Youtuber? Wie geht’s jetzt weiter mit der großen Koalition in Deutschland? Stehen bald etwa wieder Neuwahlen an?

Dabei geriet (ähm, worum ging es nochmal? Ach ja) Europa teilweise doch arg in den Hintergrund. Eine Art europäische Öffentlichkeit existiert bisher so gut wie gar nicht, das zeigte der TV-Wahlabend zur Abstimmung über die neue Sitzverteilung im EU-Parlament auf’s Neue. Ähnlich sah das auch der Politikwissenschaftler und -berater Johannes Hillje. Bei Deutschlandfunk Kultur sagte er:

"In einer europäischen Demokratie ohne europäische Medien ist es gar nicht so einfach, eine europäische Perspektive auf die Wahlen zu bekommen. (…) Die Deutung und Analyse der europäischen Wahlen findet dann auch vor allem im nationalen Selbstgespräch statt und das wird einer wirklichen europäischen Demokratie noch nicht gerecht."

Bereits im März hatte Hillje dort über eine europäische Medienplattform gesprochen, die den übergreifenden europäischen Diskurs verbessern könnte. Denn eine europäische Demokratie brauche – wie jede andere auch – einen öffentlichen Raum, in dem Kritik geübt werden, in dem Willensbildung stattfinden und Politik legitimiert werden könne. Ebenbürtig zu den EU-Institutionen gebe es bisher keine Öffentlichkeit auf europäischer Ebene.

Dass eine ansatzweise europäische Perspektive auch am Wahlabend nicht zustande kam, ist sicherlich auch Folge dessen, dass die Wahlberichterstattung vor allem im TV meist akribischer durchritualisiert ist, als die Berichterstattung über royale Hochzeiten oder Geburten. Da wird also oft auf einen Stehsatz an Fragen und Erklärungsansätzen zurückgegriffen, die bei einer Europawahl aber nochmal deutlich weniger Sinn machen, als bei anderen Abstimmungen auf nationaler oder Länderebene. So zwängte sich das Erste, vor allem auch bei "Anne Will", ins Korsett der erwartbaren Personal- und Konsequenzen-Diskussion, mit Fokus auf’s eigene Land.

Klar, ein paar Schalten, z.B. in die EU-Krisenregion Großbritannien, zu den Nachbarn nach Frankreich oder Polen gab es auch. Wer aber mehr übergreifende europäische Trends, Probleme und Entwicklungen auf einen Blick wollte, musste sich zu Politico.eu, Europe Elects oder Euronews verkrümeln. Es lebe der second bzw. third screen.

Ein paar zaghafte Versuche, den Blick etwas Richtung europäische Öffentlichkeit zu lenken, fanden dann im Ersten allerdings doch statt: So gab es eine (kurze) Gesprächsrunde dreier Journalist:innen aus Polen, Frankreich und Österreich, die einen Hauch neuer Perspektiven in das Geschehen brachten.

Um den Blick ein wenig zu weiten, täte sicher auch eine verstärkte Zusammenarbeit mit europäischen Kolleg:innen gut. Nicht nur alibimäßig vor der Kamera, sondern auch was die Konzeption, das Hinterfragen der Inhalte und Einordnen der Informationen angeht. Für investigative Recherchen gibt es solche Netzwerke ja bereits. Warum dann nicht auch für Themen, denen Transnationalität – wie bei der Europawahl – in der DNA liegt?

Rezo-Effekt?

Eine Frage, die auf deutscher Ebene neben der Personaldiskussion ebenfalls viel Raum einnimmt, lässt sich mit dem Schlagwort "Rezo-Effekt" zusammenfassen. Der Ausgang der Wahl mit dem starken Zugewinn der Grünen, dem Verlust bei Union und SPD verlangt nach Erklärungen und Analysen.

Dabei ist der "Rezo-Effekt" allerdings erstmal nicht mehr als ein catchy Begriff, der zu Simplifizierungen verleitet und versucht, auf der Aufmerksamkeitswelle des vieldiskutierten Youtube-Videos weiter zu surfen. Die ist heute übrigens auch Thema im regulären Altpapier hier drüben.

Wenn die Wiener Zeitung schreibt: "In Deutschland schlug offenbar der Rezo-Effekt zu" oder SpOn und AFP Rezos Aussagen unkommentiert neben die Wahlergebnisse der 18- bis 24-Jährigen stellt, wird eine fragwürdige Kausalitätskette in Gang gesetzt.

Damit nehmen Journalist:innen junge Menschen genauso wenig ernst, wie sie es bei den "Volksparteien" kritisieren. Denn sie unterstellen ihnen, weitgehend unreflektiert der Aufforderung eines Youtubers hinterherzulaufen und sprechen ihnen ein. Dass eine solche Stimmung, wie sie nun im Wahlergebnis Ausdruck gefunden hat, aber viel tiefere Wurzeln hat, in einem grundlegend anderen Politikverständnis, anderen Prioritäten und anderen Kommunikationswegen begründet liegt, wird mit der Reduzierung auf den "Rezo-Effekt" weitgehend beiseitegeschoben.

Auf die Frage, ob junge Menschen (wie auch immer man diese genau definieren mag) mittlerweile politischer seien, als noch vor ein paar Jahren, erklärt Wolfgang Merkel, Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Zeit Campus:

"Wir sehen schon länger eine Zunahme an konventioneller und nicht konventioneller Partizipation. Wir leben in einer stärker polarisierten Gesellschaft, in der die alten konsensorientierten Akteure an Kraft verloren haben und neue Akteure, die Rechten, aber auch die Grünen und Protestbewegungen aus der Zivilgesellschaft, gleichsam die alten Volksparteien als Blutspender für ihr eigenes Aufleben benutzen."

Rezo wird mit dem ständigen Heranziehen eines nach ihm benannten Effekts gewissermaßen zum Meinungsmacher einer ganzen Generation überhöht, statt ihn andersherum lediglich als Symptom dieser ohnehin schon dagewesenen politischen Einstellung einzuordnen. Und Verschwörungstheorien (hier von Correctiv gecheckt) ist das Ganze auch noch zuträglich. Zwar heißt es bei ZDF Heute etwas differenzierter:

"Es ist der Rezo-Effekt, mit dem die beiden großen Volksparteien zu kämpfen haben. Die Demonstrationen gegen Klimaschutz, gegen das Urheberrecht und der Aufruf der Youtuber, bloß nicht die Volksparteien zu wählen, zeigt vor allem, dass sich eine ganze Generation nicht mehr verstanden fühlt. Und dass die Parteien bislang unfähig sind, damit umzugehen."

Aber auch hier sind die Aufmerksamkeits-Verheißungen des Begriffs Rezo-Effekt scheinbar zu verführerisch, um darauf zu verzichten. Dass das CDU und SPD zudem eine äußerst gelegen kommende Möglichkeit gibt, das eigene Versagen auf diesen Youtuber mit der blauen Haartolle zu schieben und die eigenen Patzer in den Hintergrund zu schieben, kommt noch hinzu.

Erfolg oder Misserfolg?

Um den Blick nochmal mehr auf eine europäische Ebene zu lenken: Länderübergreifend wurde in der Berichterstattung vor allem über die Deutung des Ergebnisses der Parteien aus dem rechtspopulistischen und rechtsextremen Lager diskutiert. War das jetzt ein Erfolg? Oder ist das Ergebnis doch nicht so bedeutend und kann sogar als Eindämmung des Aufwärtstrends im rechten Parteienspektrum bezeichnet werden?

Im ORF war bei "ZiB2" zunächst die Rede von einem deutlichen Erfolg der rechten Parteien. Alles eine Frage des Blickwinkels. Denn in Deutschland z.B. hat die AfD mit mehr als zehn Prozent ein Plus im Vergleich zur Europawahl 2014 (sieben Prozent) verzeichnet. Musste im Vergleich zur Bundestagswahl (mehr als 12 Prozent) und den eigenen Zielen (15 Prozent) allerdings ein Minus einstecken. Einen Überblick gibt’s z.B. bei T-Online:

"die österreichische FPÖ verlor wahrscheinlich wegen des Skandals um ihren Parteivorsitzenden Heinz-Christian Strache deutlich (17,2 Prozent), die Dänische Volkspartei (10,8 Prozent) hat nur noch halb so viele Stimmen wie 2014, in Spanien blieb Vox (6,2 Prozent) deutlich unter dem Ergebnis der nationalen Wahl vor wenigen Wochen. In den Niederlanden verschwand der PVV von Geert Wilders (4,1 Prozent, kein Sitz mehr) – dafür holte die FvD von Thierry Baudet auf Anhieb 11 Prozent. In der Summe änderte sich dort nicht viel. Zugleich wurden Matteo Salvinis Lega in Italien (28,7 Prozent) und Marine Le Pens Rassemblement National (23,7 Prozent) in Frankreich jeweils stärkste Kraft, wobei Le Pen sogar Stimmen verloren hat. Viktor Orbans Fidesz (52,1 Prozent) und PiS in Polen (42,4 Prozent) ebenfalls."

Bei der taz schätzt man die Entwicklung mittlerweile so ein (dort ist die Berichterstattung übrigens sehr international, denn es steuern verschiedene europäische Kolleg:innen aus dem Rechercheverbund Europe's Far Right einen Teil zur Berichterstattung bei):

"Die starke, einheitliche Fraktion, die die Rechten bräuchten, um ihre EU-feindlichen Programme umsetzen zu können, wird wohl ein Wunschtraum von Salvini und seinesgleichen bleiben – zu groß sind die Unterschiede selbst dort, wo das gemeinsame Feindbild steht."

Für einen Aufreger sorgte gestern schließlich noch die Nachricht, dass Österreichs ehemaliger Vize-Kanzler Heinz-Christian Strache durch sogenannte Vorzugsstimmen Anspruch auf einen Sitz im EU-Parlament hätte (Kleine Zeitung). Trotz oder vielleicht sogar gerade wegen des Ibiza-Videos?

Es bleibt also vieles eine Frage des Blickwinkels – und der Selbstvermarktung.

Ein neues, reguläres Altpapier gibt’s wieder am Mittwoch.