Das Altpapier am 28. Juni 2019 Eine Frage der Zeit

Die norwegische Insel Sommarøy will die Zeit abschaffen, diese Nachricht verbreitet sich auf der ganzen Welt. Ein Fake, wie sich herausstellt, finanziert von einer norwegischen Behörde. Wie geht man um mit PR, die gezielt Falschinformationen verbreitet? Außerdem: Kevin Kühnert vs. Philipp Amthor in der "Diskuthek" und Nachrufe auf Willie Tanner aus "Alf". Ein Altpapier von Kathrin Hollmer.

Bis vor gut einem Monat dürfte die norwegische Insel Sommarøy international, sagen wir, eher unterdurchschnittlich bekannt gewesen sein. Eine Nachricht hat das schlagartig geändert: Wenn dort im Sommer die Sonne nicht untergeht und deswegen Tag und Nacht verschwimmen, wollen die Inselbewohner die Zeit einfach ganz abschaffen. Die Meldung über die Unterschriftenaktion, mit der die Insel zur ersten zeitfreien Zone der Welt werden soll, breitete sich Ende Juni rasend schnell aus. In einem Video befestigen die Inselbewohner ihre Armbanduhren auf einem Brückengeländer, weil sie sie nicht mehr brauchen. "Norwegische Insel will als erster Ort der Welt die Zeit abschaffen", titelte Welt Online, "Einfach mal die Zeit vergessen? Eine Insel möchte zeitfrei werden" der Stern und "Norwegische Insel will erste zeitfreie Zone der Erde werden" Süddeutsche.de, auch in der Streiflicht-Glosse der SZ war die Aktion Thema, jeweils auf Basis einer dpa-Meldung. Zuvor hatten bereits norwegische und internationale Medien berichtet.

Am Donnerstagabend, nachdem die Nachricht schon mehr als vier Wochen kursiert ist, stellte sich heraus, dass die Petition eine PR-Aktion ist, initiiert ausgerechnet von Innovation Norway, der staatlichen Behörde für Innovation und Wirtschaftsentwicklung.

Bei Spiegel Online wird einer der Verantwortlichen zitiert, der zugibt, dass seine Behörde hinter der Aktion steckt:

"'Das Ziel war, mit einer unkonventionellen Kampagne Aufmerksamkeit für Norwegen als Reiseland zu erregen', sagt Kjetil Svorkmo Bergmann von Innovation Norway. Traditionelle Werbung sei nicht mehr effektiv, darum wolle man neue Wege der Vermarktung testen. 'Wir entschuldigen uns, es ist nie unsere Absicht gewesen, einen falschen Eindruck entstehen zu lassen.'"

Innerhalb einer Woche, heißt es bei der taz, seien "1.471 Medien weltweit hereingelegt" worden. Die Richtigstellung allerdings sei von den Medien erst einmal "übersehen" worden. "Erst als immer mehr Norweger 'Innovasjon Norge' aufforderten, sich offiziell zu entschuldigen, reagierten die ersten Medien", schreibt Skandinavien-Korrespondent Reinhard Wolff.

Einige Medien haben die ursprüngliche Meldung inzwischen als Falschnachricht gekennzeichnet. Beim Stern heißt es, die Geschichte habe sich "inzwischen als PR-Stunt der norwegischen Innovationsbehörde herausgestellt", bei Spiegel Online, dass sich die Meldung "im Nachhinein als in wesentlichen Teilen falsch und als gezielt platzierte Werbeaktion herausgestellt" hat. Bei der Welt und der SZ gibt es keine entsprechenden Hinweise. (Stand: Freitag, 28.6.2019, 8 Uhr) Die Richtigstellung ist wohl nicht so interessant. Mit der Schlagzeile "Norwegische Insel will die Zeit nicht abschaffen" verkauft man aber auch keine Zeitungen.

Jetzt könnte man das Ganze als Ente abtun, als Agenturmeldung, die ungenügend nachrecherchiert weiterverbreitet worden ist, in Norwegen und danach international. Es ist komplizierter. Reinhard Wolff schreibt für die taz über die Reaktionen vor Ort:

"Norwegische Medien reagierten entrüstet: 'Steuergelder für Fake News? Nein danke!', schrieb der digitale Mediendienst Medier24. Ähnlich sieht das Harald Klungtveit von Filter Nyheter: Am meisten Sorge müsse die anscheinend völlig fehlende Bereitschaft vieler Medien zur Faktenkontrolle machen. Selbst die Ministerpräsidentin Erna Solberg nahm Stellung: 'Niemand soll falsche Nachrichten verbreiten, weder Medien noch 'Innovasjon Norge''."

Doch was ist, wenn die Faktenkontrolle nichts bringt? Journalisten, kommentiert Annika Schneider im Deutschlandfunk (auch Deutschlandfunk Nova berichtete über die Aktion, der Artikel ist inzwischen offline), hätten diese PR-Aktion gar nicht entlarven können. Annika Schneider dazu:

"Nun könnte man der dpa natürlich mangelnde Sorgfalt vorwerfen. Das wirft aber die Frage auf, wie viel Recherche notwendig gewesen wäre. Der zuständige dpa-Korrespondent hatte mit dem Initiator der Petition persönlich telefoniert und bekam von der Innovationsbehörde ein Foto von der Unterschriftenübergabe. Hätte er selbst auf die Insel fahren sollen, über 2.000 Kilometer weit? Die knappen journalistischen Ressourcen lassen sich sicherlich besser einsetzen."

Auch bei der NZZ sieht man die Aktion kritisch. Rudolf Hermann kommentiert:

"Tatsächlich ist der Werbegag nicht unproblematisch in einer Welt, in der echte News und 'gute Storys' nicht immer einfach auseinanderzuhalten sind. Kristine Foss, Rechtsberaterin der Norwegischen Pressevereinigung, räumte zwar ein, dass Medien Pressemitteilungen auf ihre Richtigkeit überprüfen sollten. Doch könne man ihnen keinen Strick daraus drehen, dass sie Innovation Norway als glaubwürdig eingestuft hätten."

Das ist nämlich das Problem: Auf die Auskunft einer Behörde sollte, müsste, nein, muss man sich verlassen können, als Journalist, als Bürger, überhaupt eben. In diesem Fall sind die Falschnachrichten, pardon, die "neuen Wege der Vermarktung", auch noch steuerfinanziert verbreitet worden. Bergmann zufolge habe die Kampagne 50.000 Euro gekostet.

"Echte News" und "gute Storys", wie Rudolf Hermann in der NZZ schreibt, müssen sich allerdings nicht ausschließen, nur Journalismus – und auch PR übrigens – ist es halt nur, wenn Ersteres auf jeden Fall erfüllt ist. Annika Schneider zitiert im Deutschlandfunk dazu aus dem Kommunikationskodex:

"(...) Nicht nur Journalisten, auch PR-Leute haben Pflichten. Im deutschen Kommunikationskodex heißt es: 'PR- und Kommunikationsfachleute verbreiten keine falschen und irreführenden Informationen.'

Daran hätten sich besser auch die norwegischen Marketingleute gehalten – und transparent gemacht, dass die Petitionsidee von ihnen kam. Das Traurige ist: Erfolg hatten die PR-Leute mit ihrer Idee trotzdem."

Vielleicht auch in der Sache selbst, wie es in der taz heißt. Angeblich hätten "einige Insel-Bewohner Gefallen an der Idee gefunden". Falls dem so sein sollte, hätten die PR-Genies von Innovation Norway besser mal erst mit den betroffenen Inselbewohner gesprochen.


Altpapierkorb (Deniz Yücel, Diskuthek mit Philipp Amthor und Kevin Kühnert, E. Jean Carroll, Willie Tanner und der Theodor-Wolff-Preis)

+++ Deniz Yücel geht für die Welt als Reporter nach Sachsen. "Das passt", kommentiert Peter Weissenburger in der taz. Heute Morgen hat das türkische Verfassungsgericht entschieden, dass er zu Unrecht in Untersuchungshaft saß, mehr dazu gibt es bei der Welt.

+++ Die Öffentlich-Rechtlichen fordern in der Anmeldung ihres Finanzbedarfs mehr Geld. Was das mit der – womöglich – geplanten Indexierung der Gebühren zu tun hat, fasst Michael Hanfeld auf der FAZ-Medienseite zusammen. (Blendle)

+++ Das neue Debattenformat vom Stern mit dem Namen Diskuthek wurde an dieser Stelle bereits angekündigt (hier und hier), gestern war es so weit, in der ersten Ausgabe trafen gleich Philipp Amthor und Kevin Kühnert aufeinander, "konservative Allzweckwaffe der Union" und der "wohl mächtigste Juso-Vorsitzende aller Zeiten". "Die Frage ist erlaubt, ob Diskursdeutschland einen weiteren Er-sagt-sie-sagt-Halbstünder wirklich nötig hat. Erlaubt ist aber auch die Antwort, dass zumindest der Auftakt mit Kevin Kühnert und dem CDU-Bundestagsabgeordneten Philipp Amthor durchaus gelungen ist", schreibt Cornelius Pollmer in seiner Kritik in der Süddeutschen Zeitung.

+++ E. Jean Carroll ist die 22. (in Worten: zweiundzwanzigste) Frau, die US-Präsident Donald Trump des sexuellen Übergriffs beschuldigt. In den US-Medien ging das allerdings unter. Ist eine allgemeine Abstumpfung schuld? Beim Deutschlandfunk gibt es eine Zusammenfassung mit Erklärungsversuch.

+++ Max Wright ist am Mittwoch gestorben, und wenn Sie sich jetzt fragen, wer das ist, liegt das daran, dass man den Schauspieler vor allem in einer Rolle kennt: als Papa Willie Tanner aus der Serie "Alf". Da ist es nur konsequent, dass die Nachrufe eher Nachrufe auf die Serienfigur geworden sind als auf den Schauspieler selbst. Bei Spiegel Online thematisiert Anja Rützel, dass man Willie erst zu schätzen lernt, wenn man älter ist ("Man fragt sich ja manchmal, ab welchem Zeitpunkt man wirklich erwachsen ist: Ist es der erste Job, das erste Kind, der erste Nervenzusammenbruch? Womöglich ist es der Moment, in dem man von Team Alf ins Team Willie wechselt."). Freuds Strukturmodell der Psyche kommt auch vor (was wohl nur Anja Rützel so elegant mit "Alf" verbinden kann).

Bei Zeit Online schreibt Carolin Ströbele über das neue Männerbild, dass Willie Tanner ins Fernsehen brachte – und auch darüber, wer Max Wright sonst noch war und was er noch in seinem Leben gemacht hat, außer einen zotteligen Außerirdischen zu bändigen.

+++ Ein Interview mit den Erfindern der – manche sagen pessimistischen, die anderen realistischen –  Sci-Fi-Anthologieserie "Black Mirror", Charlie Brooker und Annabel Jones, gibt es im SZ-Magazin von Freitag. Brooker sagt zum Beispiel: "Wer weiß, ob wir in zwanzig Jahren nicht unsere Kinder aus der Virtual-Reality-Maschine rauszerren und anschreien, jetzt nimm doch endlich mal wieder ein gutes altes Handy in die Hand! Hach, der Sohn von den Nachbarn ist so ein guter Junge, der verbringt Stunden mit seinem Telefon!"

+++ Bereits am Mittwoch wurde der Theodor-Wolff-Preis vergeben, unter anderem an Michael Jürgs, früher Chefredakteur von Stern und Tempo, der für sein Lebenswerk ausgezeichnet worden ist, seinen Preis aber nicht persönlich entgegennehmen konnte. Um die Laudatio gab es im Vorfeld Ärger, schreibt Ulrike Simon bei Horizont.

+++ Die Entscheidung des Journalistinnenbunds, Franziska Becker mit der Hedwig-Dohm-Urkunde für ihr Lebenswerk auszuzeichnen hat eine Diskussion um ihre Cartoons und Karikaturen ausgelöst. Der Vorwurf, geäußert unter anderem von der Journalistin Sibel Schick: Sie sei "hauptsächlich mit ihren islamfeindlich-rassistischen Comics bekannt" (Twitter) geworden. Susan Vahabzadeh gibt auf der SZ-Medienseite eine Zusammenfassung.

+++ Heidi Klum soll bald Germany’s Next Top Dragqueen suchen, nach dem Vorbild der US-amerikanischen Kultsendung "RuPaul's Drag Race". Der Moderator des Originals, RuPaul, ist Schauspieler und eine der bekanntesten Dragqueens. Dass die deutsche Version ausgerechnet die Moderatorin der mit am frauenfeindlichsten Sendung im deutschen Fernsehen, "Germany's Next Topmodel", moderieren soll, erzürnt Frederik Schindler in der taz. Und dabei, schreibt er, gehe es "nicht darum, dass sie eine heterosexuelle Frau und keine Dragqueen ist."

Neues Altpapier gibt’s wieder am Montag. Schönes Wochenende!