Teasergrafik Altpapier vom 21. April 2020: Porträt Autor René Martens
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Das Altpapier am 21. April 2020 Jamaika, du hast es besser!

21. April 2020, 12:14 Uhr

In welchen Ländern ist die Presse freier als in Deutschland? Warum berichtet die "Tagesschau" zur besten Sendezeit über eine Demo von Verschwörungstheoretikern, ohne sie einzuordnen? Kann Gabor Steingart nicht googlen? Warum tun Jakob Augstein und Jan Fleischhauer so, als wären sie doof? Ein Altpapier von René Martens.

Deutschland klettert auf Platz 11!

Die von Reporter ohne Grenzen zusammengestellte Rangliste der Pressefreiheit ist auch in Pandemie-Zeiten ein wichtiger Berichterstattungsanlass für Medienjournalisten. Heute hat die Organisation die aktuelle Liste vorgelegt.

"Singapur und Benin gehören zu den Staaten, die den berechtigten Kampf gegen Desinformation und Online-Kriminalität missbrauchen, um mit repressiven Gesetzen gegen "Fake News" die Medienfreiheit einzuschränken. In anderen Ländern wie Russland, Indien, den Philippinen und Vietnam setzen Troll-Armeen im Dienste der Regierenden selbst auf Desinformation, um die öffentliche Meinung zu lenken und kritische Journalistinnen und Journalisten zu diskreditieren",

heißt es dazu auf deren Website. Doris Priesching weist in einem sehr ausführlichen Text für den Standard darauf hin, dass die Pressefreiheit nicht nur durch "repressive Gesetzen" eingeschränkt wird:

"Die Wirtschaftskrise hat auch die Phänomene der Eigentumskonzentration und noch mehr die Interessenkonflikte verschärft, die den journalistischen Pluralismus und die Unabhängigkeit bedrohen. Die Übernahme der Central European Media Enterprises (CME) durch den reichsten Milliardär der Tschechischen Republik habe mehrere osteuropäische Länder, in denen CME einflussreiche Fernsehsender kontrolliert, alarmiert."

Das sich für Teaser und Headline am stärksten aufdrängende Zitat stammt von Katja Gloger, der Vorstandssprecherin von Reporter ohne Grenzen:

"Die Corona-Pandemie bündelt bestehende repressive Tendenzen weltweit wie ein Brennglas."

"Deutschland gehört seit Jahren zu den Ländern mit einer guten Situation für Medien, wenn es auch nie für einen Spitzenplatz reicht. Aktuell hat sich die Bundesrepublik um zwei Plätze auf Rang 11 verbessert."

Andererseits, und um das Ganze sportjournalistisch noch ein bisschen zuzuspitzen: Diese Platzierung reicht ja nicht einmal für die Teilnahme an der Europa League. Dass Deutschland nun zwei Plätze besser da stehen als zuletzt, liegt laut BR24

"vor allem an deutlich weniger Gewaltangriffen auf Journalisten aus dem rechten politischen Spektrum (…) Hat (Reporter ohne Grenzen) 2018 mit den Ausschreitungen in Chemnitz und Köthen noch 22 tätliche Angriffe verzeichnet, so waren es 2019 nur 13 dokumentierte Fälle."

Drollig: Bei den grenzenlosen Reportern nennen sie die hier erwähnten Nazi-Aufmärsche "rechtspopulistische Proteste". Zu den Ländern, in denen die Presse freier ist als in Deutschland, gehören laut der vollständigen Rangliste Jamaika (Platz sechs) und Costa Rica (Platz sieben) - dies als kleine Serviceleistung für Leserinnen und Leser, die aufgrund von Entwicklungen wie diesen übers Auswandern nachdenken.

Am Rande einer gestrigen NPD-/Pro-Chemnitz-Aufmarsch in Chemnitz, dessen Begleitererscheinungen dann möglicherweise in der Reporter-ohne-Grenzen-Wertung von 2021 Niederschlag finden werden, äußerte eine Polizistin gegenüber einer Journalistin übrigens wenig Pressefreiheitsfreundliches:

"Es ist scheißegal, ob Sie Presse sind. Es hat hier keine Freiheit mehr."

Dokumentiert hat dies die Organisation democ (hier ab 0:55).

Jörg Schönenborns kalter Rücken

Ein zumindest teilweise ähnliches Milieu wie am Montag in Chemnitz marschierte auch am Samstag bei einer "Hygiene-Demo" in Berlin auf. Über diese Demo gab es einen im unguten Sinne bemerkenswerten Beitrag in der 20-Uhr-Ausgabe der "Tagesschau", den Matthias Meisner im Tagesspiegel heftig kritisiert:

"Demonstriert wird nun seit Wochen Samstag für Samstag gegen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus (…) Am Samstag kamen etwa 500 Leute. Als Video-Reporter zugegen waren beispielsweise der Antisemit und ehemalige Journalist Martin Lejeune und der selbsternannte "Volkslehrer" Nikolai Nerling, der wegen seiner rechtsextremen Aktivitäten aus dem Berliner Schuldienst entlassen wurde. Beworben wurden die Proteste unter anderem auf Ken FM (…)"

Und was brachte die "Tagesschau" dazu in ihrer Hauptausgabe?

"Über die kruden Hintergründe von Organisatoren und Teilnehmern ist nichts zu erfahren. Die Rede ist lediglich davon, dass die Polizei mit einer Hundertschaft die Proteste von Menschen aufgelöst habe, die "unerlaubterweise gegen die Einschränkung ihrer Rechte während der Corona-Pandemie demonstriert" hätten."

Zu hören ist das hier ab Minute 8:15. Der ARD-Hierarch Jörg Schönenborn bekommt von Meisner dann auch noch einen auf die Mütze - und zwar wegen folgender Äußerung im "Presseclub" am Tag nach der Demo:

"Ich habe gestern in der 'Tagesschau' Bilder gesehen von Demonstranten in Berlin, die abgeschleppt wurden, weil sie gegen die Corona-Beschränkungen demonstrieren. Da läuft's mir schon ein bisschen kalt den Rücken runter."

Das bereits am Samstag bei Twitter viral gegangene, tendenziell ikonographische Reuters-Foto, das zum Beispiel der Tagesspiegel veröffentlichte, kannte Schönenborn zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht. Zu sehen sind hier im Bildvordergrund zwei, nett formuliert: durchgeknallte Personen, die einen Polizisten mit ihren Viren (welcher Art auch immer) zu infizieren versuchen. Vielleicht sollte Schönenborn mal seine Twitter-Timeline optimieren.

Meisner zitiert außerdem "eine Sprecherin" von "ARD aktuell", die zur Kritik an dem "Tagesschau"-Beitrag anmerkt:

"Innerhalb von 25 Sekunden ist es leider nicht möglich, den Hintergrund, die Motive und die Zusammensetzung der Demonstrierenden umfassend darzustellen."

Was natürlich eine irre Reaktion ist. Entweder hält man es für relevant, dass 500 gemeingefährliche Spinner aufmarschieren - dann muss man auch benennen, welche Gefahr von ihnen ausgeht. Hält man die Gefahr, die von ihnen ausgeht, dagegen für nicht sonderlich relevant, muss man sie an einer derart prominenten Stelle gar nicht erst erwähnen. Anders gesagt: Wenn die "Tagesschau" um acht Minuten nach acht vor einem Millionenpublikum über eine 500-Leute-Demo berichtet, dann sollte schon klar werden, warum sie das tut.

Eine weitere Einordnung liefert Julius Geiler, ebenfalls Tagesspiegel-Autor, in einem Thread. Hier erfährt man unter anderem, dass zum Demo-Milieu auch der von linken Medien gern gebuchte Wortschmied Peter Nowak gehört. Zumindest hat dieser einen Beitrag für die Zeitung der Demo-Organisatoren verfasst.

Sie wollen doch nur fragen

Ich stell’ mich jetzt mal doof und find das geil - das ist eine Geschäftsidee, die im Journalismus immer noch zu funktionieren scheint, zumindest unter aufmerksamkeitsökonomischen Gesichtspunkten. Übermedien widmet sich aktuell in zwei Texten drei Journalisten, die man dieser Kategorie zurechnen kann. Jürn Kruse etwa setzt sich mit einer neuen, tja, These Gabor Steingarts auseinander. Dieser behauptet nämlich:

"Es gibt zu den Eurobonds, also zu der auf ewig verbrieften Mithaftung der deutsche Steuerzahler für die südeuropäischen Schuldensandburgen, keine zwei Meinungen mehr."

Steingart findet Eurobonds nicht so knorke, und um diese Meinung als besonders herauszustellen, tut er so, als wäre er der einzige Medienmensch, der das so sieht. Nun braucht es, wie Kruse zeigt, nur ein paar Handgriffe, um eine Liste mit Artikeln namhafter Medien zusammenzustellen, die gegen Eurobonds sind, und die das dann auch noch sehr ausführlich begründen. Kruse greift in dem Zusammenhang einen Thread von Zeit-Redakteur Mark Schieritz auf, der die Lage folgendermaßen zusammenfasst:

"Die Debatte über Eurobonds ist pluralistisch wie wenige andere."

Schieritz ist dann immerhin so freundlich, den Illusionstheaterregisseur Steingart als "renommierten Journalisten" zu bezeichnen:

"Vielleicht geht es nicht um die Inhalte – sondern darum, ein vermeintliches Tabu zu konstruieren, an dem dann heldenhaft gerüttelt wird. Das ist eine neurechte Diskursstrategie, die ein renommierter Journalist @gaborsteingart wirklich nicht nötig hat. Oder doch?"

Erstaunlich ist ja auch: Wenn Steingart "noch nie was von Google gehört hat" (Kruse), dann müsste das ja eigentlich für einen großen Teil seiner Jünger zutreffen. Sonst könnt Steingart nicht so schreiben, wie er schreibt.

Stefan Niggemeier wiederum widmet sich dagegen zwei Herren, die unter anderem in einem neuen gemeinsamen Podcast ihre "Begriffsstutzigkeit" zur Schau stellen bzw. nach dem Motto "Ich raune, also bin ich" performen: Jakob Augstein und Jan Fleischhauer. Niggemeier schreibt:

"(E)s (ist) selbstverständlich die Aufgabe von Journalisten, Fragen zu stellen. Nur stellt man sie halt idealerweise jemandem, der Antworten haben könnte. Augstein und Fleischhauer fragen stattdessen jeweils jemanden, der dieselben Fragen hat. Sie zeigen einander ihre Fragen und wundern sich zusammen. Das kann man machen; es wird halt nur niemand klüger dadurch – und man würde es klassischerweise nicht für Journalismus halten."

Ihr "aktuelles Haupt-Wunderobjekt" sei die "Reproduktionszahl". Warum stehe die "plötzlich im Mittelpunkt?", fragte zum Beispiel Augstein kürzlich bei Twitter. Darauf geht Niggemeier näher ein:

"Unter den Tweets von Augstein findet sich viel Spott und Häme. Ich fürchte nur, dass der Publizist sich durch den Gegenwind nur bestärkt fühlt, ungefähr nach der Logik: Wenn dir so viele Leute widersprechen, kannst du nicht falsch liegen. Was sich unter den Tweets aber auch findet: eine erstaunliche Zahl an hilfreichen Hinweisen. Immer wieder empfohlen wird ihm das Video von Mai Thi Nguyen-Kim, das schon über fünf Millionen Mal angeklickt wurde (und das man natürlich auch nicht kritiklos für die Wahrheit halten muss, aber viele Dinge so erklärt, dass sie auch Augstein verstehen könnte). Es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass Augstein diese Antworten zur Kenntnis nimmt."

Mit der von Niggemeier genannten Mai Thi Nguyen-Kim saß Augstein am Sonntag in dem eben schon erwähnten "Presseclub", das heißt, man kann darauf hoffen, dass er deren Video, das ja durchaus als Debatten-Markstein gelten kann (siehe auch Altpapier), mittlerweile gesehen hat. Dass jedoch, sagen wir mal: Armin Laschet jemals dieses Video wahrgenommen hat - oder Nguyen-Kims Kommentar in den "Tagesthemen" vor zwei Wochen, ihren Auftritt am vergangenen Donnerstag bei "Markus Lanz" oder eben jenen Im "Presseclub" -, ist nicht zu erwarten. Offenbar mit Blick auf die Laschets dieser Welt hat Nguyen-Kim gerade einen resignativen Tweet formuliert:

"Liebe Epidemiologen, es sind frustrierende Tage. Doch schon bald werden sich alle wünschen, man hätte euch im April besser zugehört."

Wie Corona das Pöbel-Milieu verändert hat - darauf geht wiederum Nguyen-Kims Wissenschaftsjournalistenkollege Harald Lesch (ZDF) in einem von Focus Online veröffentlichten Interview mit der Teleschau ein:

"Ich dachte ja schon bei den Klimaskeptikern, dass das der Gipfel der Unverschämtheit sei. Aber beim Coronavirus hat sich zum Teil wirklich der Pöbel entladen - mit Klarnamen! Wie beim Klima wird es dann irgendwann emotional. Meine Redaktion und der Sender schützen mich aber - gerade, wenn es um Verunglimpfungen im Netz geht. Ich appelliere daher auch: Schützt die Wissenschaftler aus den Instituten davor!"


Altpapierkorb (Subventionsbetrugsrisiko Kurzarbeit, Videokonferenzen kunsthistorisch betrachtet, Vergewaltigungen im "Tatort")

+++ Zum Thema umstrittene Kurzarbeit in Redaktionen (Altpapier, Altpapier) sind weitere Beiträge erschienen: Anne Fromm kritisiert in der taz: "Wer JournalistInnen in Kurzarbeit schickt, senkt die Qualität. Und riskiert Subventionsbetrug. Wenn bei Kurzarbeit die JournalistInnen weiter 100 Prozent arbeiten, ist das illegal." Bei Handelsblatt und Wirtschaftswoche müssten die Journalisten seit Beginn der Kurzarbeit "ihre Arbeitszeiten genau protokollieren, um keinen Subventionsbetrug zu begehen", schreibt Meedia. @mediasres zitiert unter anderem den DJV, der darauf verweist, dass "viele Kolleginnen und Kollegen derzeit mehr arbeiten als vor Corona, weil die digitalen Angebote erheblich ausgeweitet wurden und gewohnte Abläufe umgestellt werden mussten".

+++ Thomas Negele, Präsident des Dachverbands der Berufsverbände der Film-, Fernseh- und Videowirtschaft, vertritt in einem Interview mit der FAZ (€) die Ansicht, dass die bisherigen Hilfsankündigungen der öffentlich-rechtlichen Sender nicht ausreichten, um nach der Pandemie "die Filmwirtschaft wieder anzukurbeln": "Die Sender sind in der Pflicht. Bei den Produktionsmehrkosten haben sich die Öffentlich-Rechtlichen verpflichtet, 50 Prozent der Mehrkosten zu übernehmen. Das wird nicht ausreichen, denn viele, vor allem kleinere Produzenten, werden die andere Hälfte nicht aufbringen können. Eine Aufstockung müsste auch im eigenen Interesse der Sender liegen. Sie benötigen weiterhin gute Inhalte und sind auf eine vielfältige Produzentenlandschaft angewiesen, um mit Streaming-Portalen mithalten zu können. Deshalb sollten ARD und ZDF alle Mittel, die in diesem Jahr durch den Wegfall von Sportevents frei werden, für neue Projekte nutzen."

+++ "Videokonferenzen, Webinare oder Online-Vorlesungen sind nichts anderes als digital zum Leben erweckte Porträts", schreibt Georg Leisten im Neuen Deutschland unter Rückgriff auf den Kunsthistoriker Horst Bredekamp, "der sich schon ein halbes Wissenschaftlerleben lang mit der Frage (beschäftigt), wie und warum Porträts eine künstliche Lebendigkeit zugesprochen wird". Eine Warnung hat Leisten dann auch noch im Köcher: "So wie dem an Fertignahrung gewohnten Gaumen das frisch Zubereitete unnatürlich vorkommt, drohen wir über den praktischen Vorteilen von Videochats und Livekonferenzen zu vergessen, dass visuelle Stellvertreter niemals die Originale sind."

+++ Anlässlich des "Tatort"-Films von vergangenem Sonntag kritisiert Sophie Charlotte Rieger aka Filmlöwin in einem Twitter-Thread die Darstellungen von Vergewaltigungen in der Krimireihe: "Das Perfide (…) ist, dass es in den allerseltensten Fällen tatsächlich um Vergewaltigung als Symptom einer Vergewaltigungskultur geht, sondern um obskure Einzelfälle, die wiederum oft dazu dienen, eine ganz andere Geschichte zu erzählen." Außerdem "Warum werden Vergewaltigungsopfer immer nackt unter der Dusche gezeigt? Tut es wirklich Not, diese Körper voyeuristisch auszustellen? Der Film interessiert sich einen Scheiß für die Figur, außer wenn er sie als Schauwert missbraucht, also erneut vergewaltigt."

+++ Wie geht’s denn den auf Sport spezialisierten Pay-TV-Sendern gerade so? Alina Schwermer berichtet für die taz: "Dazn hat Zahlungen ausgesetzt und Kurzarbeit angemeldet, ebenso zahlen in Frankreich derzeit Canal Plus und der katarische Sender beIN Sports nicht mehr (…) Mehrere Sender sollen substanziell AbonnentInnen verlieren. Ist die Krise eine Zäsur für den überhitzten Markt für Sportmedienrechte? Mancher glaubt: eher eine Delle." Und eine kräftige Delle am Schädel haben offenbar einige Leutchen bei Sky.

Neues Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.

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