Das Altpapier am 1. November 2017 Gott stößt ab
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Hat der reale Kevin Spacey gerade in der Manier von Frank Underwood reagiert bzw. Homosexuelle "gleichsam unter den Bus geworfen"? Haben Journalisten bei ihren Homestorys aus dem Milieu der Rechten deren Selbststilisierungen unhinterfragt übernommen? Außerdem: die Forderung nach mehr Diversität in den Regionalzeitungs-Redaktionen; ein neuer Titel für ein 33 Jahre altes Reportage-Format der ARD. Ein Altpapier von René Martens
Vor zwei Wochen ging es an dieser Stelle zumindest kurz bereits um den Qualitätsverfall in der Serie "House of Cards". Der ist nun auch aktuell plötzlich ein Thema. Claudia Schwartz (NZZ) etwa schreibt:
"Mit der fünften Staffel war 'HoC' allzu offensichtlich auf ein bedauerlich tiefes Niveau gesunken. Die Serie zeigte kaum mehr inhaltliche Inspiration und mutete oft vorhersehbar an."
Die Vergangenheitsform deutet bereits darauf hin, dass "House of Cards" in gewisser Weise schon jetzt Geschichte ist. Netflix stellt die Serie nämlich ein - nach der für 2018 geplanten sechsten Staffel. Dass das jetzt bekannt wurde, hat indes Gründe, die nichts mit der Serie an sich zu tun haben. Anfang der Woche erschien bei Buzzfeed ein Artikel, in dem der Schauspieler Anthony Rapp dem Frank-Underwood-Darsteller Kevin Spacey vorwirft, ihn 1986, als er, Rapp, 14 Jahre alt war, sexuell belästigt zu haben.
"Die Geschichte hat Rapp schon im Jahr 2001 dem englischen Magazin Attitude erzählt. Damals entschied sich die Redaktion allerdings, den Namen von Spacey nicht zu nennen. Und auch sonst kann man dem Buzzfeed-Text entnehmen, wie Spaceys Übergriff offenbar vielen bekannt war - aber, ähnlich wie bei Harvey Weinstein, niemand wirklich einschritt",
bemerkt dazu Tilmann Warnecke im Tagesspiegel. Dass Netflix "House of Cards" einstellt, stand schon fest, bevor die Vorwürfe publik wurden. Michael Remke (Die Welt) berichtet:
Netflix gab zunächst an, dass das Ende 'nichts mit den aktuellen Vorwürfen' gegen Spacey zu tun habe und schon 'seit Monaten geplant' gewesen sei. Am Montag waren die Produzenten unangekündigt zum Drehort gefahren, um nach den Schlagzeilen gegen ihren Star 'Schauspieler und Mannschaft' zu beruhigen (…) Am Dienstag gab Netflix jedoch bekannt, dass die Produktion der neuen Staffel vorerst auf Eis gelegt wird. Man wolle sich Zeit nehmen, um die aktuelle Situation zu bewerten (…)"
Dass wiederum Spacey die Vorwürfe zum Anlass nahm, sich als schwul zu outen, hat ihm massive Kritik eingebracht. Der bereits zitierte Tilmann Warnecke schreibt:
"Spacey aber kann man getrost unterstellen, dass er nun mit seinem Coming Out vor allem davon ablenken wollte, unter dem Verdacht zu stehen, einen 14-Jährigen sexuell belästigt zu haben. Im Tarnmantel der queeren Community hoffte er das eigene Image aufzubessern (…)
Besonders schmerzhaft ist der ganze Vorfall, weil Spacey mit seinem Coming Out gleichzeitig eines der schlimmsten Ressentiments gegen schwule Männer befeuerte: nämlich dass sie heimlich alle pädophil seien. Die Homosexuellen, deren Hilfe er sich offenbar erhoffte, warf er so gleichsam unter den Bus."
Ähnlich kommentiert es Michael Schulman für den New Yorker:
"Read cynically, Spacey’s statement was a misdirection technique worthy of Frank Underwood, designed to supplant Rapp’s allegation with his own coming out—the type of celebrity revelation that the media is used to celebrating. To some extent, it worked (…)"
Schulmans Fazit:
"We now live in a world where (in many places) gay men and women can come out with confidence, even joy. For whatever reasons, Spacey chose not to take that route, and he wound up getting pushed out in a way that feels dispiritingly retro—and that muddies waters gay men have long fought to clarify."
Die Medien und der braune Ziegenkäse
Einer der instruktivsten Artikel, der in den vergangenen Tagen die Runde machte, ist zwar erst seit Ende Oktober frei online zugänglich, gedruckt gibt es ihn aber bereits seit dem September. Der Text stammt aus dem Magazin Der Rechte Rand, und er stellt heraus, dass man bei den vieldiskutierten Fehlern, die Journalisten um "Umgang" mit Rechtsradikalen machen und gemacht haben, mehr im Blick haben sollte als die Qualität der Gespräche in Wahlsendungen und die Einladungs- und Themensetzungspolitik der Talkshow-Redaktionen:
"Waren Sie schon mal in Schnellroda, dort wo 'der dunkle Ritter' und die 'sympathisch aussehende Publizistin' leben? Vielleicht auf ein Glas selbstgemolkene Ziegenmilch beim Räsonieren über Carl Schmitt oder den kommenden Bürgerkrieg? Haben Sie gesehen, wie der asketische Gutsherr die heimische Scholle bestellt und grüblerisch und weltabgewandt in seinen Büchern versinkt? All das lernen wir aus den Homestorys aus dem Hause Kubitschek, die seit 2011 in Magazinen, Zeitungen und Fernsehsendungen erschienen."
Seit 2011? Richtig, das ist die Stärke des Textes, dass er so weit zurückblickt. Die, nun ja, Pioniere dieser Art des Homestory-Trotteltums sind beim tendenziell ja ehrenwerten 3sat-Magazin "Kulturzeit" zu finden. Mit diesem Beitrag fing wohl alles an. Der Rechte Rand schreibt weiter:
"Auf dem Höhepunkt rechter Mobilisierungen berichtete 3sat erneut (9. März 2016). Kubitschek sehe sympathisch aus, sagt die Moderatorin. Mit seiner Frau, einer 'ebenso sympathisch aussehenden Publizistin', lebe er als 'Patchwork-Familie auf einem Rittergut'. Und sie weiß zu berichten, dass das Kuscheltiereines der Kinder den Namen 'Dieter Stein' trage."
Ähnliche Kritik geübt haben kürzlich Arno Frank in der taz - "Überhaupt dürfte es kaum einen politisch interessierten Journalisten geben, der noch nicht auf dem Kubitschek’schen 'Rittergut' in Schnellroda gewesen ist (…) (Seine) Ziegen (…) sind die vielleicht meistfotografierten Ziegen der Welt - und in einem Facebook-Thread Ex-Altpapier-Autor Matthias Dell, der dort konstatiert, dass Journalisten "das vorbereitete Buffet an Selbststilisierungen (Ziegenkäse, Siezen, 'Rittergut' usw.)" "fasziniert" und unhinterfragt übernommen haben.
Für das rechtsradikale Wochenblatt, bei dem jener Chefredakteur wirkt, der in Schnellroda als Namensgeber für ein Kuscheltier diente, haut im übrigen mittlerweile Werner Patzelt in die Tasten, also "Deutschlands führender Pegida-Versteher" (Jan Fleischhauer, siehe Altpapier). Diese Einschätzung stammt aus dem Dezember 2015, und damals lag der Spiegel-Mann, der selten richtig liegt, damit noch richtig, inzwischen wirkt sie eher wie eine Untertreibung. Der Sprachlos-Blog hat Patzelts JF-Text seziert.
In der nicht rechtsradikalen Sächsischen Zeitung, die zu 60 Prozent dem nicht rechtsradikalen Verlag Gruner + Jahr und der nicht rechtsradikalen SPD gehört, publiziert Patzelt übrigens auch.
Langweiliges Luther-Bild
Mit der bisherigen Lutherjahr-Berichterstattung und all den "Deutungen" und "Wissenshäppchen", die die hiesigen Medien seit Jahresbeginn präsentieren, beschäftigt sich Moritz Hoffmann für Übermedien (€):
"Die Medien (haben) in beeindruckender Gleichförmigkeit das immer gleiche Lutherbild reproduziert, das Journalisten wie Publikum schon aus der Schule kennen: Böser Ablassverkäufer Tetzel, aufrechter Luther, 95 Thesen, Nagel in die Tür, Flucht auf die Wartburg, Reformation. Das ist die schonungslos vereinfachte historische Dimension, so glattgeschliffen wie langweilig."
Was fehlt?
"(…) Luthers glühender, religiös motivierter Antijudaismus, mit dem er direkt verantwortlich war für die Vertreibung der Juden aus zahlreichen deutschen Ländern, wird weitgehend ausgespart. Seine unrühmliche Rolle in den Bauernkriegen, als Luther die sich auf ihn berufenden verarmten, revolutionären Bauern fallen ließ (und ihrer massenhaften Abschlachtung tatenlos zusah), läuft gar völlig quer zur gefeierten Heldensage."
Wobei Hoffmann auch noch darauf hinweist, dass "in Zeitungen und Zeitschriften" das Niveau noch schwächer war als im Fernsehen.
Echtes Leben
Um auf dem Feld der Religion zu bleiben: Zu den vielen "Koordinatoren", die im Schweiße ihres Angesichts das sich täglich wandelnde Gesamtkunstwerk ARD modellieren, gehört auch einer für "kirchliche Sendungen". Das wohl wichtigste Format, für das Reinhard Scolik, so heißt der Mann, zuständig ist, kennt man seit Januar 1984 unter dem Namen "Gott und die Welt". Wobei: Die meisten Altpapier-Leser dürften es nicht kennen, weil sie dann, wenn die Reihe läuft - sonntags um 17.30 Uhr - nicht vor dem Fernseher sitzen. Ab dem 3. Dezember bekommt das Reportage-Format, für das sämtliche Landesrundfunkanstalten der ARD zuliefern, nun einen anderen Titel. Denn:
"Der Begriff 'Gott' im Titel stößt leider eher ab",
sagt Wolfgang Küpper, der beim BR als Redaktionsleiter Religion und Orientierung firmiert, gegenüber epd/Chrismon. "Echtes Leben" heißt die Sendung künftig. Trotz des gottlosen Titels werde der "Religionsaspekt" aber "nicht weggelassen", betonte Küpper.
Bei den oft betulichen, in der Regel soliden, sehr selten überdurchschnittlichen Reportagen hatte man aber zuletzt schon allzu oft den Eindruck, dass der Bezug zum Thema Religion eher bemüht wirkte. Viele Filme könnten genauso gut bei "37 Grad" (ZDF) oder "Menschen hautnah" (WDR) laufen.
Ob auch "Echtleben" und "Real Life" als neue Titel zur Debatte standen, werden wir vermutlich nie erfahren.
"Diversität ist existentiell"
Um die Frage, wie künftig erfolgreicher Lokaljournalismus aussehen könnte, ging es an dieser Stelle zuletzt am Freitag. Einen weiteren Aspekt, der in diesem Zusammenhang eine Rolle spielt, benennt Hannah Suppa, Chefredakteurin von Madsacks Märkischer Allgemeiner Zeitung in einem Gespräch mit Brigitte Baetz für das DLF-Magazin "@mediasres". Ausgangspunkt des Interviews: Von 100 Chefredakteuren bei Regionalzeitungen sind nur fünf Frauen. "Wie ließe sich das ändern? Oder muss man das überhaupt ändern?" fragt Baetz. Suppa sagt:
"Das müssen wir auf jeden Fall ändern. Für Redaktionen ist Diversität existentiell. Wir berichten über die ganze Brandbreite des Lebens und da müssen wir natürlich auch in der Lage sein, das abzubilden. Und eine Redaktion braucht unterschiedliche Lebenserfahrung, unterschiedliche Meinung, Sichtweisen und auch Lebenssituation. Das fängt mit dem Geschlecht an, hört aber auch nicht beim Alter auf, d.h. wir brauchen eine Redaktion, die sich auch um ein Thema streitet, um eben auch so abbilden zu können, was in einer Gesellschaft gerade diskutiert wird, welche Themen vor Ort gerade stattfinden, so dass wir nicht einheitlich berichten, sondern da wirklich auch Diversität in der Berichterstattung haben. Und natürlich: Das fängt in den Führungspositionen an."
Suppa greift damit einen Essay der Spiegel-Online-Chefredakteurin Barbara Hans auf. Sie hatte vor einigen Wochen beschrieben, was sich dagegen tun lässt, dass "mittelalte weiße Männer" und "gutverdienende Akademiker" den Journalismus prägen.
Altpapierkorb (Russland-Werbung, Lenin, Bento, "Frau tv")
+++ Mit den Befragungen in drei Ausschüssen im US-Kongress, denen sich Facebook, Google und Twitter derzeit stellen müssen - unter anderem einer vorher von Facebook vorgelegten Stellungnahme, derzufolge 126 Millionen Nutzern des Netzwerks während des US-Wahlkampfs "aus Russland stammende Polit-Werbung angezeigt" wurde - befassen sich tagesschau.de und SZ.de.
+++ Dass der "Anfangseuphorie auch für Presse- und Meinungsfreiheit", die einst der Arabische Frühling ausgelöst hat, "an vielen Orten längst große Ernüchterung gewichen" sei, ist Thema eines Beitrags im DLF-Magazin "@mediasres". Jörg Stroisch hat dafür mit drei (ehemals) in nordafrikanischen Staaten tätigen Journalisten gesprochen.
+++ Mittlerweile online: Anne Fromms Langzeitbeobachtung der Politik-Podcasts von Spiegel Online, Zeit Online und Deutschlandfunk für die Wochenend-taz.
+++ Eine "Gegenrede" zu Jan Böhmermanns espritarmem Bento-Bashing (Altpapier) hat Johannes Kram formuliert. Im Nollendorfblog merkt er an, dass "aus queerer Sicht (…) vieles von dem, was die Bento-Leute da machen (…) richtig guter Journalismus" sei. Jedenfalls schaffe es "keines der großen, 'erwachsenen' Nachrichtenportale (…) auch nur annähernd, queere Vielfalt so gut verständlich, so angemessen aufzubereiten (…) So wie Bento das macht, ist es nicht nur okay, sondern vorbildlich: Unaufgeregt, facettenreich, spannend. Und wirklich gut erklärt. Vor allem aber: LGTBI sind hier nicht die Exoten."
+++ Zu den von der ARD und ZDF erworbenen Rechten an der erstmals in der Saison 2018/19 ausgetragenen Uefa Nations League (siehe zuletzt Altpapier von Montag) bemerkt Jürn Kruse (taz), es handle sich um einen "Wettbewerb, den kein Schwein versteht" und "von dem überhaupt nicht absehbar ist, ob er angenommen wird".
+++ In der noch aktuellen Ausgabe von epd medien befasst sich Patricia Averesch mit der WDR-Sendung "Frau tv", Anlass sind die gerade zuende gegangenen Feierlichkeiten zum 20-jährigen Jubiläum des Magazins. Averesch meint: "Die Sendung wirkt mit ihrem modernen Auftreten, aktuellen Themen und der lockeren Moderation per Du mit den Zuschauerinnen schon zeitgemäß. Ich falle mit 21 Jahren zwar nicht unbedingt in die 'Frau tv'-Zielgruppe der 35- bis 55-Jährigen, finde die Themen der Sendung aber wichtig. Doch es widerstrebt mir, eine reine Frauensendung zu gucken. Ihr Konzept, das sich laut dem WDR 'in erster Linie an Frauen' richtet, passt nicht zu der emanzipierten Gesellschaft, die heute schon existiert, aber - wie von 'Frau tv' gewünscht - noch ausgebaut werden muss. 'Frau tv' stellt einen Widerspruch dar: Die Sendung kämpft für die gleiche Behandlung der Geschlechter, trennt diese aber selbst."
+++ Seit dem 25. Oktober - und noch bis zum 22. November - läuft bei Arte anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Oktoberrevolution der Schwerpunkt "Russland – Revolutionen und Revolten". In dessen Rahmen war gestern die Dokumentation "Keine Ruhe für Genosse Lenin" zu sehen, die von Funkes Berliner Morgenpost empfohlen wird. Der Film zeige auf, "was viele Russen schon lange kritisieren: Lenins Erbe wird zur oberflächlichen Folklore".
+++ Jetzt erst im Fernsehen: "Das Salz der Erde", die 2014 mit dem Spezialpreis der Jury in Cannes ausgezeichnete "Hommage von Wim Wenders an den Magnum-Fotografen Sebastião Salgado" (Tagesspiegel)
+++ Heike Hupertz preist in der FAZ derweil den aktuellen Mittwochs-Spielfilm im Ersten: "Vordergründig ist 'Eine gute Mutter' (Regie Claudia Garde) ein Thriller um ein verschwundenes Kind. Im Buch von Christian Jeltsch geht es aber auch und vor allem im übertragenen Sinn um verstörende Kindheiten und die Spiegelung zweier Frauenleben." Es sei. so Hupertz, "ein sensibler Film über Mutterliebe und ihre Abwesenheit".
+++ Und schließlich noch etwas für "Tatort"-Freunde im Raum Schleswig-Holstein: Der "Tatort"-Film "Mord Ex Machina", der am Neujahrstag 2018 im Ersten laufen wird, ist bereits heute um 22.15 Uhr bei den Nordischen Filmtagen in Lübeck zu sehen. Es ist der vorletzte "Tatort" mit Devid Striesow als Kommissar Jens Stellbrink.
Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.