Das Altpapier am 8. April 2021 Die emotionale Inzidenz steigt
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08. April 2021, 11:51 Uhr
Rezos Rant hat einen Nerv getroffen. Auch andere haben anscheinend das Gefühl: Nur mit Sachlichkeit kommen wir nicht mehr weiter. Ist das eine journalistische Kapitulation? Ein Altpapier von Ralf Heimann.
Neues von Wuttube
Der Ton der Debatte über den Umgang mit der Pandemie hat in den vergangenen Tagen noch eine Nuance hinzugewonnen. Nachdenkliche, nüchterne, ausbalancierende oder auch aufgebrachte und erregte Beiträge hatten wir schon. Aber inzwischen hat sich bei vielen eine offene Wut entwickelt, die Rezo mit seinem 13 Minuten langen Video in dieser Woche zum Ausdruck bringt (Altpapier). Im Journalismus gibt es für diesen Gefühlszustand noch kein entsprechendes Format (Vorschlag vielleicht: der Tagesthemen-Rant). Wenn es zwischendurch doch mal ein Wutausbruch in die Zeit oder die FAZ schafft, dann in der Regel nur sprachlich hübsch verkleidet. Vielleicht wirkt das Video auch aus diesem Grund auf viele Menschen so befreiend.
Da schaut man dann auch schon mal über Dinge hinweg, die man sonst vielleicht kritisch sehen würde. Samira El Ouassil schreibt in ihrer Übermedien-Kolumne:
"Die Abneigung gegen künstlich pathetisierte Wut voll gespielter Rechtschaffenheit teile ich sogar – aber ich habe bei Rezos Rant seine Wut zu sehr nachempfunden, als dass ich sie hätte peinlich finden können."
Das ist vielleicht auch ein Teil einer Antwort auf eine Frage, die Anja Reschke sich bei Twitter stellt.
"Das Video von #Rezo über die CDU damals war was neues. Aber ich weiß nicht, warum jetzt sein neues über #Corona Politik so gefeiert wird. Alles, was er in da sagt, nein, 'ranted' wird seit einem Jahr überall rauf und runter berichtet. Nur nicht in so platter Wutsprache."
Inhaltlich ist das, was Rezo sagt, tatsächlich nicht neu. Aber wie er es sagt, das ist schon neu, jedenfalls in großer Öffentlichkeit. Und das, was Anja Reschke als "platte Wutsprache" bezeichnet, das nehmen andere möglicherweise als ehrlicher, direkter, unverstellter und treffender wahr als das gesittete Herumanalysieren in den Kommentarspalten.
Und um das zu verstehen, muss man sich den Soziolekt, in der Rezo seinem Publikum seine Botschaft übermittelt, vielleicht vorstellen wie einen Dialekt. Wenn ein bayerischer Politiker den Leuten in seiner Gegend in breitem Bayerisch mitteilt, was er von der Politik in Berlin hält, wirkt das wahrscheinlich auch anders, als referierte er in flüssigem Hochdeutsch: "Wir müssen natürlich abwägen, denn im Umgang mit den unterschiedlichen Herausforderungen stehen auf mehreren Seiten Interessen, die alle eine gewisse Berechtigung haben." Anders gesagt: Es geht hier auch um das Identifikationspotenzial oder wenn man so will, um das Andockpotenzial. Der bayerische Fachausdruck dafür fällt mir gerade leider nicht ein.
Lorenz Meyer formuliert es bei Twitter so:
"Medienschaffende, die sich über #Rezos Jugendvokabeln und 'platte Wutsprache' echauffieren, sollten sich lieber selbstkritisch und frei von Eifersucht fragen, warum ihm die Aufmerksamkeit zuteil wird und nicht ihnen."
Nun könnte man die Frage stellen, ob der Journalismus denn tatsächlich die Aufgabe hat, die emotionalen Gefühlslagen des Publikums zu erfassen und die Endlichsagtsmaleinerhaftigkeit der eigenen Beiträge zu optimieren, damit sie so arrangiert möglichst viele Menschen erreichen. Man könnte auch der Meinung sein, dass der Journalismus das gerade nicht machen sollte – dass er eher offenlegen sollte, wo die Dinge vielleicht doch nicht so einfach sind, wie sie im Wutblick erscheinen.
Aber dazu muss er die Menschen notwendigerweise irgendwie erreichen. Es ist das alte Dilemma. Pure Information wird niemals siegen. Das andere Extrem wäre pure Unterhaltung. Dazwischen kann man an mehreren Rädchen drehen. Auf ihnen steht zum Beispiel "Zuspitzung" oder "Emotionalisierung", und eine der letzten Stufen auf den zweiten Rädchen ist eben "Wut".
Das letzte Mittel: der offene Brief
Samira El Ouassil erklärt in ihrer Kolumne, warum diese sehr laute Eskalationsstufe im Journalismus vielleicht doch eine gewisse Berechtigung hat.
Sie schreibt, "eines der Probleme, die wir auf kommunikativer Ebene seit Beginn der Pandemie haben, ist der Umstand, dass Meinungsminderheiten, wie zum Beispiel die Querdenker, sich durch ihre aufgeblähte Wut und permanente Lautstärke erfolgreich größer machen als sie sind". Das sei nicht nur in den sozialen Medien so, sondern auch in den Nachrichten. Konkret:
"Wenn auf der einen Seite Menschen immer wieder in wilden Majuskeln ins Internet tönen, wie sehr sie gegen die Maßnahmen sind, und auf der anderen Seite die konstant ermittelte Zweidrittelmehrheit, die mit den Maßnahmen einverstanden ist oder härtere Maßnahmen fordert, nicht mindestens ebenso laut und oft und mit Großbuchstaben ins Internet blökt, dann bekommt man beim stumpfen Scrollen früher oder später wirklich den Eindruck, dass 'die Leute' unbedingt Lockerungen wollten. Die Mehrheit geht unter."
Die laute Wut dient hier einfach dazu, sich Gehör zu verschaffen. Darin könnte man allerdings auch eine Kapitulation erkennen. Wenn man sich die Medienöffentlichkeit als einen geschlossenen Raum vorstellt, ist der Lärmpegel darin mittlerweile so hoch, dass es nur noch mit lautem Geschrei möglich ist, sich Gehör zu verschaffen. Es geht auch nicht mehr darum, die Sachlage selbst zu erklären und zu erörtern. Zum Gegenstand ist mittlerweile die eigene Verzweiflung geworden, weil die Politik sich nicht auf die beabsichtigte Weise steuern lässt.
Das trifft sowohl auf den Rezos Rant zu als auch auf den WDR-Quarks-Beitrag, den René Martens hier am Dienstag bereits erwähnt hat. Und Sascha Lobos aktuelle Spiegel-Kolumne kann man ebenfalls in diese Reihe stellen. Lobo macht etwas, das er unter normalen Umständen nicht machen würde, wie er zu Beginn erklärt, er greift gewissermaßen zum letzten Mittel. Er schreibt einen offenen Brief, den er mit folgendem Absatz einleitet:
"Sehr geehrter Herr Laschet, wie die meisten halbwegs bei Sinnen seienden Menschen verabscheue ich offene Briefe, weil sie zu oft ein nervtötendes Amalgam aus Selbstgerechtigkeit, Larmoyanz und Wirkungslosigkeit sind. Aber die Pandemie fordert uns allen Opfer ab, und das hier ist meines: ein offener Brief an Sie in Ihrer Funktion als Vorsitzender der größten Regierungspartei CDU, also als derzeit mächtigster Mann der Bundesrepublik. Zumindest auf dem Papier."
Im Text folgen Beispiele für Armin Laschets scheinbares Unvermögen, auf neue Informationslagen richtig zu reagieren, für seine schlingernde Kommunikation und sein erratisches Verhalten. Das alles natürlich elegant formuliert, im Spiegel-Soziolekt. Aber im Grunde bringt auch dieser Brief vor allem ein Gefühl auf den Punkt. Es besteht zu einem guten Teil aus Ohnmacht, Verzweiflung und eben aus Wut.
Lobo schreibt:
"Herr Laschet, ich möchte aus Prinzip nicht für stumpf gehalten werden. Aber Sie wechselwursten, weaselworden und dreschphrasieren sich durch die Pandemie, als hielten Sie mich und, haha, den Großteil der Bevölkerung für stumpf."
Vielleicht hätte Rezo es anders ausgedrückt, aber meinem Eindruck nach meint er etwas sehr Ähnliches, vielleicht sogar das Gleiche. Und ungefähr das ist auch die Botschaft des Quarks-Beitrag. Halten wir also fest: Die emotionale Inzidenz steigt, noch nicht exponentiell zwar, aber vielleicht haben wir ja Glück…
Virologie oder Wissenschaft?
Kommt man denn vielleicht auch anders weiter? Der Eschweger CDU-Bürgermeister Alexander Heppe gibt in einem Thread einige Hinweise, zum Beispiel zur Verwendung des Begriffs "Wissenschaft". Er bezieht sich auf Rezos Video und spricht von einem "gefährlichen Corona-Narrativ", das da aufgebaut werde. Das Narrativ lautet: "Politik hört nicht auf Wissenschaft." Heppe fragt: "Ja, auf welche denn?"
Wenn im Zusammenhang mit Corona von "Wissenschaft" gesprochen wird, ist damit sehr oft einfach die Virologie gemeint. Heppe schreibt:
"Ist nur die #Virologie 'DIE Wissenschaft™'? Was ist – um zunächst in der #Medizin zu bleiben – mit Sozialmedizin, Psychiatrie, Psychologie? Oder, um das Feld zu verlassen: Sozialwissenschaften? Gesellschaftliche Folgen? Sozialpädagogik?"
Unabhängig davon, ob man die Auffassung vertritt, die Eindämmung der Pandemie habe uneingeschränkte Priorität, oder ob man der Meinung ist, wirtschaftliche, psychische und andere Folgen müssten in ähnlichem Maße berücksichtigt werden, ist eine klare Benennung sicher kein Fehler. Das Wort "Wissenschaft" soll Argumenten mehr Autorität verleihen. Verwendet man es in irreführender Weise, greift man auf ähnliche Mittel zurück wie Politikerinnen oder Politiker, die ihre eigentliche Absicht durch Phrasen verschleiern. Und vor allem diese gefühlte Unehrlichkeit führt zu einer emotionalen Dissonanz, für die es später ein Ventil braucht. Zum Beispiel Wut.
Der große Ärger darüber, dass es bald möglicherweise im ganzen Land Ausgangssperren geben wird, aber verbindliche Regeln für Großraumbüros weiterhin nicht, hat auch damit zu tun, dass anscheinend niemand aus der Politik den eigentlichen Grund dafür aussprechen mag, der gefühlt lautet: Die Freiheitsrechte von juristischen Personen sind aus verschiedenen Gründen wichtiger als die von einzelnen Menschen.
Um eiernde Kommunikation geht es auch in einem Kommentar, den Stefan Niggemeier für Übermedien geschrieben hat. Er beschäftigt sich mit einem anderen Kommentar, der am Dienstag in den Tagesthemen lief. Darin ärgerte sich die SWR-Inlandsfernsehchefin Birgitta Weber irgendwie auch über die Corona-Politik, aber nicht, weil ihr das alles zu langsam ginge oder sie irgendetwas zu Armin Laschets Vorschlägen zu sagen hätte ("Tja, ich weiß nicht, was Armin Laschet wollte!"), sondern weil sie nach Niggemeiers Eindruck lieber einfach über die Ostertage frei gehabt hätte, ohne sich mit der lästigen Corona-Politik zu beschäftigen.
"Man kann wirklich viel sagen gegen Laschets 'Brückenlockdown' (und auch einiges dafür). Aber der eine Vorwurf, der wirklich zu dumm sein sollte für eine öffentliche Debatte und sogar einen 'Tagesthemen'-Kommentar, ist der der öffentlichen Ruhestörung.
Das wäre jetzt wieder ein Fall für Rezo. Arbeitstitel vielleicht: Die Selbstzerstörung des Journalismus. Aber schließen wir mit einem konstruktiven Vorschlag. Den bringt Daniel Bouhs via Twitter ein. Er schlägt vor, dass nicht mehr nur Menschen aus der ARD die Tagesthemen-Kommentare sprechen, sondern auch Fachleute von außen.
Altpapierkorb (Chinesische Regierungs-Influencer, Katapult lokal, Krautreporter klagen)
+++ Die chinesische Regierung verbreitet Infos über Falschinformationen über Influencer und eigene Medien. Sebastian Wellendorf hat darüber für das Deutschlandfunk-Medienmagazin @mediasres mit Annika Schneider und Steffen Wurzel gesprochen.
+++ Das Katapult-Magazin hat in Mecklenburg-Vorpommern ein Lokalmedium gegründet (Altpapier). Silke Hasselmann berichtet für @mediasres.
+++ Die Krautreporter will gegen die Presseförderung klagen, wenn die Bundesregierung die Pläne nicht bis zum 20. April stoppt. "Nach unserer Auffassung ist die geplante Presseförderung eklatant verfassungswidrig. Es fehlt ein Gesetz, das die Neutralität und Staatsferne der Förderung garantiert. Das verstößt gegen die im Grundgesetz garantierte Pressefreiheit", schreiben die Krautreporter in einem Twitter-Thread. Etwas ausführlicher erklären sie das hier.
Neues Altpapier gibt es am Freitag.