Teasergrafik Altpapier vom 5. Mai 2021: Porträt Autor Christian Bartels
Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Das Altpapier am 5. Mai 2021 Was fehlt: Fehlertoleranz

05. Mai 2021, 11:31 Uhr

Der Münster-"Tatort" wurde nicht boykottiert, eher im Gegenteil, hat aber selber einen Kleindarsteller rausgeschnitten, der für RTL unterwegs ist.
Der RBB wird von seinen Freien bestreikt und berichtet immerhin darüber. Amazon rechnet seine europäischen Corona-Jahr-Einnahmen in Luxemburg tief in die Verlustzone. Und die ARD-Mediathek empfiehlt allen, die sich anmelden, Krimis. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Der WDR macht keine Werbung für RTL (aber umgekehrt)

Im Altpapier herrscht zwar freie Themenwahl, doch gebietet die Chronistenpflicht, mit dem leidigen #allesdichtmachen-Thema einzusteigen. Die gestern hier erwähnte, zuerst von netzpolitik.org gebrachte Nachricht, dass der Schauspieler Volker Bruch einen noch offenen Mitgliedsantrag bei der ziemlich unbekannten Partei "Die Basis" gestellt hat, wurde von allen Medien durchgenudelt. Schon weil "deren Sprecher David C. Siber, der im vergangenen Jahr noch bei den Grünen war" (FAZ), sich über die Aufmerksamkeit natürlich freute und es allen gerne individuell bestätigte.

Anstatt zu fragen, ob das öffentliche Interesse wirklich derart groß sein muss, lieber der Hinweis, dass zur Überschrift des ebenfalls, zurecht gestern hier empfohlenen scilogs.spektrum.de-Beitrags die Zeile "Wir haben nur noch Boulevard" gehört, und zu dessen Kernaussagen u.a.:

"Bei diesem Thema überschlagen sich Süddeutsche, Spiegel und FAZ wie die sensationsgeilsten Boulevardblätter."

Ebenfalls erwähnt wurde Jan Josef Liefers' Versuch, "die 14,22 Millionen Zuschauer des aktuellen 'Tatorts' aus Münster als Gesinnungsgenossen zu vereinnahmen", was selbstverständlich ein Manöver in der leidigen Debatte ist.  Ermittelte Einschaltquoten gehören halt aber, ob man es mag oder nicht, zu den anerkanntesten Währungen. Daher ließe sich hinzufügen, dass die Zahl so groß wie keine "Tatort"-Zuschauerzahl seit 2017 ist. Die Twitter-Aktion "#TatortBoykott" führte am Sonntag also vielleicht dazu, "dass der Hashtag #Tatort am Sonntagabend nicht trendete", wie der Tagesspiegel mit vielen eingebundenen Tweets notiert, wirkte sich im wirklichen Leben (soweit Einschaltqouten-Messungen es widerspiegeln) aber nicht aus.

Wer dagegen sozusagen boykottiert wurde, und zwar in der "Tatort"-Folge selbst, ist der Leiter des Instituts für Rechtsmedizin der Charité, Michael Tsokos. Er hatte in einer kurzen Szene mitgespielt, die aber herausgeschnitten wurde, ohne dass er davon erfuhr. Was wiederum zu einer kleinen Battle in sog. soz. Medien führte (Twitter-Widerschein; Altpapier vorgestern). Wer das dann gern vermeldete, schon um die Zwischenüberschrift "WDR will keine Werbung für TVNOW machen" einbauen zu können: RTL, also der Privatsender, der das Abrufportal tvnow.de betreibt, auf dem die "Truecrime"-Doku "Die Obduktion" mit Tsokos und Liefers zu sehen ist. Der WDR teilte dazu mit:

"Lange nach dem Ende der Dreharbeiten für den Münsteraner Tatort Rhythm and Love haben wir erst durch Zufall erfahren, dass Jan Josef Liefers und Michael Tsokos für den RTL-Streamingdienst TVNOW in einer gemeinsamen Serie auftreten, bei der die Beiden gemeinsam obduzieren und die somit optisch fast das gleiche Umfeld der Rechtsmedizin zeigt wie der Münsteraner Tatort. ... Da wir keine Werbung machen wollen und dürfen, haben wir die Szene entsprechend gekürzt",

zitiert auch die Berliner Zeitung, die, anders als RTL, weiteren Ärger dokumentiert.

Gewiss zu weit würde die Frage führen, ob ARD und ZDF nicht für alle möglichen Medieninhalte wirbt, wenn bloß prominente Gäste vorbeikommen, und ganz besonders für Google, Facebook und Co, obwohl eigentlich alle wissen, dass Googles Youtube, Facebooks Instagram usw. viel größere und gefährlichere Konkurrenten als z.B. RTL sind (allerdings nicht bei den Einschaltquoten im linearen Fernsehen, okay). Es reicht zu fragen, ob nicht umgekehrt RTLs "Die Obduktion" viel mehr Werbung für den "Tatort" macht. Wobei RTL freilich ein großer Sender und eine, wie Werber sagen würden, starke Marke ist, die sich so was leisten kann.

Felt noch was? Ach so, klar: der Link zu "Die Obduktion" auf tvnow.de.

Der RBB wird von seinen Freien bestreikt

In ARD-Mediatheken verlinken wir aber auch gerne! Hier z.B. ist die Montagsausgabe der RBB-Sendung "zibb" zu sehen – nicht zu verwechseln mit "ZiB 2", die zu den besten deutschsprachigen Nachrichtensendungen gehört –, in der anfangs der Hinweis "Dem rbb stehen heute vieler seiner freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht zur Verfügung ..." eingeblendet wurde. Daher lief vorgestern ab 18.27 Uhr "keine Livesendung", sondern wurde, wie es im Text darunter heißt, "auf die spannendsten zibb-Gäste der vergangenen Wochen" (darunter den künftigen Pro Sieben-Star Linda Zervakis) zurückgeblickt.

Beim RBB streiken vom 1. bis zum 5. Mai die freien Mitarbeiter, was ebenfalls mit einer Hashtag-verzierten Aktion zusammenhängt: #wirsindnichtda bzw. "Ohne Freie kein Programm!" heißt sie: "Erst die radikale Etatkürzung bei rbbKultur, dann die Streichung des Wissenschaftsetats Fernsehen, jetzt die Entlassung von 75 freien zibb-Kolleg*innen", sind der Hintergrund. Die Aktion führte zu einer Meldung heute auf der FAZ-Medienseite und einem ausführlichen Artikel im Tagesspiegel, in dem nicht zuletzt das große Verständnis des bestreikten Senders betont wird.

Immerhin berichtet der RBB auch selber, und das nicht nur mit knappen Nachrichten, die eher Verkehrsmeldungs-Charakter haben, sondern auch ausführlicher im "Medienmagazin", das der ebenfalls freie Journalist Jörg Wagner fürs RBB-Radio macht (ardaudiothek.de).

Bevor wir noch tiefer in die ARD-Mediatheken einsteigen, noch ein paar große Zahlen ...

Amazons Mrd.-Verlustvortrag, gescheiterte Mio.-Presse-Subvention

Luxemburg ist zwar Teil der Abkürzung des oben erwähnten RTL-Sendergruppe, doch kein wesentlicher Unternehmenssitz mehr. Dafür ist es Sitz der Amazon EU S.a.r.L., die die Amazon-Geschäfte in ganz West- und Mitteleuropa zwischen Großbritannien, Schweden, Polen und Italien bündelt, Frankreich und Deutschland inklusive. Dort habe Amazon im Pandemie- und Onlinebestellungs-Boom-Jahr 2020 44 Milliarden Euro Umsatz gemacht – und dabei rein rechnerisch 1,2 Milliarden Euro Verlust, weshalb es am steuerlichen Hauptsitz gar keine Steuern zahlt, sondern Verlustvorträge in Milliardenhöhe in künftige Steuerjahre mitnimmt. Das hat der Guardian ausführlich aufgeschrieben.

Es lohnt sich, diesen englischsprachigen Text zu lesen, weil die finanziellen Hintergründe, vor denen sich unter anderem das Medien-Geschäft abspielt, sehr deutlich werden. "Dieser Tech-Monotheismus muss ein Ende haben", kommentiert tagesaktuell Svenja Bergt in der taz – nun nicht auf Amazon bezogen, sondern auf einen Datenkraken mit höheren Sympathiewerten und kaum niedrigerer Profitspanne, Apple. Es geht um anlaufende Prozesse gegen Apples App-Store, einerseits in den USA, wo mit Epic, dem klagenden Anbieter des Computerspiels "Fortnite", Apple ein nicht ganz kleiner Gegner gegenübersteht, andererseits in der EU, wo die seit Jahren nur noch profillose EU-Kommission sich in einem Kartellverfahren bemüht.

Eine prägnante Vergleichszahl: 220 Millionen, also gut 0,2 Milliarden Euro. Soviel wollte die Bundesregierung, die aktuell ja mit prallvollen Subventions-Gießkannen hantiert, den Presseverlagen spendieren. Vor einer Woche allerdings ist das entsprechende Gesetz für die laufende Legslatur gescheitert (Altpapier). Dass "im Scheitern eine Chance liegt", gastkommentiert nun der Weimarer Journalismus-Professor Christopher Buschow für NDR-"Zapp" und reißt dabei Ideen für "systematische Innovationspolitik für den Journalismus" und "staatsfern organisierte Förderprogramme" an, wie sie im Lauf der dem Gesetzesscheitern vorangegangenen Debatten ja auch schon angerissen wurden, ohne in der Politik Beachtung zu finden.

Schön optimistisch klingt das. Doch bleibt die Frage, woher Buschow den Optimismus nimmt. Deutet sich irgendwo an, dass so etwas wie Medienpolitik auch ein Wahlkampfthema wird?

Unübersichtlichkeit & weitere Fehler der ARD-Mediathek

Zu einem anderen Medienwissenschaftler. Hermann Rotermund, dessen Internetauftritt weisses-rauschen.de heißt, hat sich für die aktuelle epd medien-Ausgabe (Titelseite) auf vier DIN A 4-Seiten die ARD-Mediathek angeschaut. Nicht nur, weil Rotermund im vergangenen Jahrtausend selbst fürs ARD-Internet tätig war (er hatte "von 1996 bis 1998 die Projektleitung für 'ARD.de' und verantwortete von 1997 bis 2000 das Projektmanagement des ARD-Onlinekanals", heißt es im Autorenkästchen), sondern unter Gegenwarts-/Zukunfts-Aspekten ist das sehr instruktiv. Online zu lesen ist der Text allerdings noch nicht.

Rotermund bemängelt, wie ungefähr jeder Nutzer der Mediathek, mangelnde Übersichtlichkeit:

"Sie präsentiert sich mit einer wirren vertikalen Abfolge von Rubriken, in denen horizontal Bild-Kacheln durchgerollt werden können, die wiederum einzelne Beiträge repräsentieren",

schreibt er, und später:

"Die Mediathek enthält vermutlich Zehntausende einzelner Beiträge, von denen sich beim Durchscrollen höchstens einige Hundert erschließen lassen, bis Ermüdung eintritt."

Dabei hülfen weder die "Personalisierung", die angemeldete Nutzer wiedererkennt und theoretisch wissen müsste, was die sich ansehen und was nicht ("Völlig unerfindlich ist mir, warum mir, der als angemeldeter Nutzer noch nie einen fiktionalen Beitrag abgerufen hat, als 'Empfehlungen für Sie'ein Irland-Krimi, ein Krimi-Drama, ein 'Tatort', eine Folge aus einer Arzt-Serie ... angezeigt werden ..."), noch die Suchfunktion:

"Seit Ende der 1990er Jahren schaffen es Suchmaschinen, auch fehlerhafte Eingaben zu verarbeiten und den Suchenden das eigentlich Gewünschte aus Datenbanken anzubieten. Suche ich bei Google nach 'Richard David Brecht' oder 'Marcel Prost', bekomme ich sehr wohl Fundstellen für Precht und für Proust angezeigt. Nicht so in der ARD-Mediathek. Die Suche dort ist nicht fehlertolerant."

Was noch längst nicht alles ist, was Rotermund aus gut beschriebenen Gründen kritisiert. Die Überschrift "Die ARD sollte ihre Mediathek dem Dialog öffnen" bezieht sich darauf, dass Rotermund zufolge "ein Medienangebot, das demokratischen Idealen verpflichtet ist", sich statt an Netflix an Youtube und der dort gegebenen Möglichkeit, zu kommentieren, orientieren sollte. Doch diese Kolumne ist ja nun lang genug. Bliebe noch hinzuzufügen, dass Brecht-/Precht-Fehlertoleranz kein Teufelswerk ist, das allein Datenkraken hinkriegen. Kleinen europäischen Suchmaschinen wie metager.de und qwant.com (die Trainingsdaten gut gebrauchen können), gelingt es auch locker.

Altpapierkorb (Ulrich Wilhelm, Die Zeit vs. Marc Wiese, Maria Ressa, Abhol-Zeitschrift funktioniert nicht, ChefredakteurInnen-Leserbrief, "Der weibliche WDR")

+++ "Meine Sorge ist, dass wir die Vorherrschaft der Plattformgiganten wie Google, Facebook, Amazon, von Alibaba, Tencent, Huawei akzeptieren und nur auf der Produktebene handeln. In die technologische Tiefe zu gehen und eine eigene Infrastruktur zu entwickeln, ist risikoreich und komplex. Aber nur so wird Europa seine Werte stärken und verteidigen können und nicht in eine enorme Abhängigkeit geraten ...", sagt Ulrich Wilhelm, Ex-Regierungssprecher Angela Merkels und Ex-Intendant des Bayrischen Rundfunks in einem ganzseitigen Interview des FAZ-Politikressorts (Blendle). Als ARD-Vorsitzender hatte Wilhelm einst inzwischen ziemlich versandete Pläne für eine Youtube-artige europäische Plattform angestoßen.

+++ Auf der FAZ-Medienseite heute der neue Stand in der Auseinandersetzung zwischen Dokumentarfilmregisseur Marc Wiese und der Zeit, um die es zuletzt im Altpapierkorb vom Freitag ging. Die Wochenzeitung habe "in ihren beiden Artikeln jegliche journalistische Sorgfaltspflicht vermissen lassen. Und nicht nur das, die Autorin hat anscheinend noch nicht einmal die beiden betreffenden Filme von mir gesehen", wird Wiese zitiert (Blendle). Wobei Michael Hanfeld vor allem bedauert, dass kaum jemand von der akut bedrohten Maria Ressa spricht, um die es im Film geht. Dass die Zeit gegen "einzelne Punkte" der Einstweiligen Landgerichts-Verfügung Widerspruch einlegte, gegen andere nicht, meldet auch die Süddeutsche.

+++ Dort (€) geht es auch die neue Version der ADAC-Zeitschrift, die einst  mit sagenhaften 13,8 Millionen Europas auflagenstärkste Zeitschrift war, dann aber, nicht zuletzt um Porto zu sparen, an eine Burda-Tochter ausgelagert und zur Abhol-Zeitschrift umgemodelt wurde. ADAC-Mitglieder bekommen sie nun gegen Vorzeigen des Mitgliedsausweises an bestimmten Stellen. Das stößt auf ziemlich wenig Interesse.

+++ Ursula von der Leyen hat als EU-Kommissionschefin noch nicht viel erreicht, doch lobbyiere Springer- und Zeitzungsverlegerverbands-Chef Mathias Döpfner nun aus Leistungsschutzrecht-Gründen bei ihr, berichtet netzpolitik.org ausführlich aus Brüssel: "Zu hell strahlt das Vorbild Australiens, wo ein neues Mediengesetz eine Vergütungswelle von Google und Facebook an die Verlage rollen ließ".

+++ "Öffentlich-rechtliche Gewaltverharmlosung muss Konsequenzen haben", fordert der Immobilienverband Deutschland. Und außer der Bild-Zeitung (jetzt mit meedia.de-Veteran Georg Altrogge) beklagt auch meedia.de "in der Social-Media-Abteilung der ARD ... ein redaktionelles Umfeld, in dem mindestens geduldet wird, dass man sich punktuell wie die Pressestelle der Grünen geriert" sowie, " dass es beim ZDF nicht viel besser aussieht".

+++ Ein Leserbrief an die Süddeutsche, in dem Gruner+Jahr-ChefredakteurInnen fragen: "Dürfen wir von einem Leitmedium nicht ein wenig mehr erwarten als eine Ansammlung unüberprüfbarer und damit unwiderlegbarer Endzeitstimmen ..?", verdient auch noch Aufmerksamkeit.

+++ "Sucht man im Internet nach Spuren von Marianne Lienau, findet man kaum etwas. Unter dem Wenigen gibt es aber ein Foto, das wohl um 1987 entstand und das den Titel trägt 'Der weibliche WDR'. Es zeigt eine fröhlich lachende Marianne Lienau neben Carola Stern, die damals die Programmgruppe 'Kommentare und Feature' leitete, und der späteren Auslandskorrespondentin Helga Märthesheimer", steht in Dietrich Leders Nachruf auf Marianne Lienau, die "als Redakteurin und Moderatorin lange Jahre die Hörfunkprogramme des WDR prägte" (medienkorrespondenz.de).

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.

0 Kommentare