Teasergrafik Altpapier vom 12. Mai 2021: Porträt Autor Klaus Raab
Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Das Altpapier am 12. Mai 2021 "Wir machen unsere Fehler wirklich ganz alleine"

12. Mai 2021, 07:00 Uhr

Der Tagesspiegel talkt in selbstkritischer Absicht über die eigene #allesdichtmachen-Berichterstattung. Die Diskussion über einen öffentlich-rechtlichen Nachrichtensender geht weiter. Und ein deutscher Freiheitsmedienpreis für Sebastian Kurz wird in Österreich "mit einiger Überraschung quittiert". Ein Altpapier von Klaus Raab.

Eine erneute kleine Nachrichtensender-Diskussion

Die Diskussion, ob die Öffentlich-Rechtlichen einen echten Nachrichtensender betreiben sollten, ist nicht neu, aber sie kehrt fast verlässlich zurück, wann immer ein Ereignis in der Welt nach nachrichtlicher Begleitung verlangt. Auch am Dienstagabend wieder. Hendrik Wieduwilt kritisierte bei Twitter, dass die Eskalation der Gewalt im Nahen Osten von ARD und ZDF nicht oder nicht ausreichend thematisiert werde. Medienjournalist Daniel Bouhs hielt dagegen mit zwei Argumenten: Es gebe zum einen jede Stunde etwas im Programm, bei Tagesschau24, in den Nachrichtenmagazinen oder bei Phoenix. Zum anderen sei ein Nachrichtenkanal von der Politik derzeit nicht vorgesehen, auch deshalb nicht, weil es zwei private Nachrichtensender gebe und damit Interessen, die dem entgegenstünden.

Verhärtet waren die Positionen allerdings nicht: Die öffentlich-rechtliche Fernsehberichterstattung "ließe sich auch zusammen ziehen. Und natürlich fehlen oft gute Verweise auf einander", schrieb Bouhs. Und Wieduwilt erwiderte, seine Kritik gelte nicht einzelnen Programmmachern, aber "es gibt nun einmal eine Wahnsinnsdissonanz zwischen Auftrag und Wirklichkeit".

Auch wenn die Argumente und Positionen bekannt sein mögen: Gut, dass sie immer wieder abgebildet werden. Würden sie das nicht, wäre gar keine Bewegung in der Auftragsdiskussion.

Über eine Podiumsdiskussion des Tagesspiegels

Und nun müssen wir erneut über die #allesdichtmachen-Aktion mit ihren 53 coronamaßnahmenkritischen Videos reden. Der Tagesspiegel hat am Dienstagabend eine knapp 105 Minuten dauernde Podiumsdiskussion ausgerichtet, die sich damit beschäftigte. Übertragen wurde die Veranstaltung in einem interaktiven Videoformat mit Publikumschat und bei Youtube: "Was macht eine gute Debatte aus? Wie führt man sie? Und vor allem: Wie berichten wir Medien darüber?", war die Frage. "Debattieren wir oder streiten wir nur lauthals?"

Vorangegangen waren der Live-Diskussion zwei Tagesspiegel-Artikel zu den Hintergründen der #allesdichtmachen-Aktion (hier einer der Texte) – Veröffentlichungen, die offensichtlich nicht nur bei externen Kritikern (auch hier im Altpapier), sondern auch im eigenen Haus auf Kritik gestoßen waren. Den Vorwurf, die Redaktion habe dabei Fehler begangen, erhoben etwa von der Welt, hatte der Tagesspiegel schon vorab in einem Text der Chefredaktion "in eigener Sache" aufgegriffen. Darin heißt es, die eigenen…

"… Recherchen haben zahlreiche neue Hintergründe aufgezeigt, wurden vielfältig zitiert und wir führen sie weiter. Allerdings sind uns dabei auch handwerkliche Fehler unterlaufen, für die wir um Entschuldigung bitten."

Vor allem sieht der Tagesspiegel Fehler in der Berichterstattung über einen Mann namens Paul Brandenburg:

"Paul Brandenburg ist mehrfach in alternativen Medien aufgetreten, die auch Verbindungen zur Querdenker-Szene haben. Wir haben ihn mit Äußerungen aus diesen Auftritten zitiert und diese als 'antidemokratisch' bezeichnet. Dieser Begriff ist durch Brandenburgs Äußerungen nicht gedeckt. Online haben wir das korrigiert. Zudem haben wir Paul Brandenburg vor der Publikation nicht um eine Stellungnahme gebeten – eigentlich ein journalistisches Muss."

Wenn man Fehler in der eigenen Berichterstattung ausmacht, zumal solche, die Wellen schlagen, dann finde ich es richtig, sie transparent und gegebenenfalls prominent zu korrigieren oder, wie in diesem Fall, über ihre Entstehung zu diskutieren.

Trotzdem erwies sich diese Live-Diskussion als mindestens schwierige Angelegenheit. Eingeladen war, neben mehreren Vertretern der Redaktion, auch der besagte Paul Brandenburg, der etwa, um aus der langen Veranstaltung nur zwei ausgewählte Beispiele zu nennen, die "etablierten Medien" für die Bildung eines "Meinungsblocks" kritisierte, also für ihre vermeintliche Gleichförmigkeit in der Corona-Berichterstattung – und zugleich behauptete, bei Boris Reitschuster "qualitativ sehr viel Gutes" entdeckt zu haben. (Joachim Huber vom Tagesspiegel erwiderte, es gebe keinen "Meinungsblock" und natürlich keine Absprachen zwischen konkurrierenden Medienhäusern: "Wir machen unsere Fehler wirklich ganz alleine.")

An anderer Stelle wertete Brandenburg Christian Drostens virologische Expertise ab und die von John Ioannidis von der Universität Stanford auf. Auch diese Äußerung hätte deutlichen Widerspruch verdient gehabt. Die FAZ schrieb kürzlich über Drosten und Ioannidis:

"Wie Drosten hatte Ioannidis kurz nach Beginn der Pandemie öffentlich davon gesprochen, dass es sich nach den aus China vorliegenden Daten zur Übertragungsfähigkeit des neuartigen Coronavirus um eine ansteckende Erkältungskrankheit handeln könnte. Drosten hat sich längst revidiert, die Datenlage über die Covid-19-Zahlen und -Folgen ließ bald keinen anderen Schluss mehr zu. Ioannidis dagegen bleibt bis heute dabei. In Videos, wissenschaftlichen Aufsätzen, egal wo, der Statistiker hält die Covid-19-Pandemie für nicht viel schlimmer als eine Grippe. Seine Evidenzen aber sind dünn, und sie werden immer dünner, je mehr Menschen vorzeitig an Covid-19 sterben."

Wen, fragte ich mich am Ende der Tagesspiegel-Veranstaltung, bringt eine solche Podiumsdiskussion weiter? Ist die bloße Abbildung von Meinungen das, was Journalismus leisten soll, unabhängig von ihrer Stichhaltigkeit? Tagesspiegel-Kolumnist Harald Martenstein, der die Tagesspiegel-Berichterstattung über #allesdichtmachen offensichtlich kritisch sah, deutete das nach meinem Verständnis an: "Wir sind Dienstleister. Wir sind keine Volkserzieher, wir sind keine Richter." Eine Folgefrage wäre dann allerdings, ob die Dienstleistung darin besteht, allen das Mikro hinzuhalten, die es gerne haben wollen. Ich meine das nicht.

Ein Medienpreis für, aha, Sebastian Kurz

Sebastian Kurz, der Kanzler der sehr schönen Republik Österreich, hat in München "the ‚Media Prize of Freedom‘ from a German publisher" erhalten. Das berichtete der englischsprachige Dienst Politico vorab (und der Münchner Merkur online hinterher). Dieser "German publisher" ist die Weimer Media Group von Christiane Goetz-Weimer und ihrem Mann, dem "Maischberger"-Talkgast Wolfram Weimer. Letzterer hatte in seiner Karriere auch noch ein paar andere Funktionen, zum Beispiel war er Chefredakteur in einigen konservativen Häusern von Focus bis Cicero.

Wie kommt man dazu, als Verlag mit mutmaßlich journalistischem Selbstverständnis ausgerechnet Sebastian Kurz einen "Freiheitspreis der Medien" zu überreichen? Kurz wurde erst kürzlich in Jan Böhmermanns "ZDF Magazin Royale" mit einer Ausgabe geehrt, in der sein Medienfreiheitsverständnis, sagen wir, kritisch hinterfragt wurde. So heiß, wie der Satiriker Böhmermann vorab bei Twitter tat, wurde es zwar nicht. Als einordnende Nacherzählung taugte die Sendung des Journalisten Böhmermann aber durchaus. "Der Penatenkanzler pinselt die vier Säulen der Demokratie türkis", hieß es, also in den Farben seiner Partei. Und gemeint war auch die Säule Medien.

Man muss aber kein Böhmermann-Fan sein, damit es einem bei diesem Preis ein paar Fragezeichen ins Gesicht treibt. Österreich ist in der Weltrangliste der Pressefreiheit um zwei Plätze abgerutscht, auch wegen des Gebarens von Kurz’ Partei ÖVP und wegen seines "überdimensionierten PR-Apparats", wie der Standard berichtete. "Kurz isn’t the first Austrian chancellor to intervene with the press or to reward titles that support him with government advertising. But Austrian editors say that under Kurz, these practices have intensified to a degree they’ve never seen", schreibt Politico; kein Kanzler vor ihm habe also so sehr in mediale Belange interveniert wie er.

Die Süddeutsche Zeitung schrieb Mitte April, als die Vergabe an Kurz bekannt wurde:

"In Wien hat man die Nachricht, dass Kanzler Sebastian Kurz in Deutschland von der Weimer Media Group, einem mittelständischen Verlag, einen 'Freiheitspreis der Medien' überreicht bekommen soll, mit einiger Überraschung quittiert. Kurz hat einen Ruf als talentierter Kommunikator und konservativer Erfolgs-Politiker, aber als Garant der Medienfreiheit war er im Laufe seiner Zeit als Integrationsstaatssekretär, Außenminister und Kanzler eher weniger aufgefallen. Kurz ist ein Meister im Umgang mit Medien, so viel ist wahr, sein Kommunikationsapparat ist größer als der von jedem Kanzler vor ihm. In Österreich wird dennoch häufiger über die ausgefeilte Message Control des Kanzlerteams und die vielen Interventionen berichtet, mit denen in den Redaktionen inhaltliche Korrekturen im Sinne der ÖVP erwirkt werden sollen".

Vielleicht muss man aber einfach genau lesen: Der betreffende Preis ist gar kein Medienfreiheitspreis, sondern ein Freiheitspreis eines Mediums. Ausgezeichnet wurde also nicht Kurz’ Einsatz für die Freiheit der Medien. Sondern nur sein Einsatz für Freiheit. In der Begründung der Jury, über deren Zusammensetzung weder der Standard noch die Süddeutsche Zeitung etwas herausfinden konnten, heißt es unter anderem: Sebastian Kurz gelinge es, "lange verfeindete politische Lager in unterschiedlichen Regierungskoalitionen demokratisch konstruktiv einzubinden". Er bekommt den "Freiheitspreis der Medien" demnach also etwa dafür, dass er mit der FPÖ regiert hat…

Altpapierkorb (Grimme-Preise, "Zukunftsdialog" der ARD, Kulturradio, Washington Post, Lob des Dokumentarfilms, Corona-Berichterstattung des ZDF)

+++ Am Dienstag wurde bekanntgegeben, wer die Grimme-Preise bekommt. Mai Thi Nguyen-Kim, Isabel Schayani, Carolin Kebekus und Caren Miosga sind darunter, außerdem ein Joko-und-Klaas-Format ohne Joko und Klaas. Wer es genau wissen möchte, schaut bei tagesspiegel.de, meedia.de, faz.net, fr.de oder oder oder. (Für die Transparenz: Ich war Mitglied der Jury Information und Kultur, genau wie die Altpapier-Kollegin Jenni Zylka. Und mein Kollege René Martens war als Mitglied der Nominierungskommission ebenfalls am Auswahlprozess beteiligt.)

+++ Mit dem "Zukunftsdialog" der ARD beschäftigen sich FAZ (€) und Welt (€).

+++ Die neue – und, wie ich finde, lesenswerte – Medienkorrespondenz-Kolumne meines Altpapier-Kollegen Christian Bartels handelt vom Hörfunk, speziell vom Kulturradio: "Ob es in Zeiten zunehmender Fragmentarisierung eine gute Idee ist, den Kulturbegriff zu erweitern und Kultur im engeren Sinne immer weiter auszulagern, um durch vorauseilende Unterforderung und Für-jeden-etwas-Rezepte hoffentlich mehr zählbares Publikum zu erreichen, testen derzeit sozusagen die Kulturradios mehrerer ARD-Anstalten."

+++ Einen Mittel-Longread von Norbert Schneider über die Bedeutung des langen, auch mal langsamen Dokumentarfilms bringt der Tagesspiegel.

+++ Über die neue Chefredakteurin der Washington Post berichtet etwa die SZ.

+++ Die taz schaut sich irakische und tunesische, wohl recht drastische Fernsehunterhaltungsshows mit versteckter Kamera an.

+++ Und die unterschiedliche Tonalität der Erwachsenen- und der Kinderberichterstattung über Corona im ZDF findet Ellen Nebel in epd Medien verstörend: "Der 'heute journal'-Beitrag hatte mich als Zuschauerin im Hinblick auf die Corona-Gefahr für meine eigenen Kinder stark verunsichert. Als ich Wochen später mit diesen gemeinsam die 'Logo!'-Sendung schaute, fühlte ich mich im Nachhinein von künstlich dramatisierten, schlechten Nachrichten betrogen."

Neues Altpapier erscheint am Freitag. Denn morgen ist Feiertag.

0 Kommentare