Altpapier vom 20. Oktober 2021: Porträt Autor René Martens
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Das Altpapier am 20. Oktober 2021 Nur ein Anflug von Umnachtung?

20. Oktober 2021, 14:22 Uhr

Der Mut der Ippen-Investigativleute, ihre Recherchen in einem anderen Verlag zu veröffentlichen, könnte der Vorbote "eines neuen journalistischen Ethos" sein, meint Zeit Online. Eine pegidistische SMS von Mathias Döpfner wirft die Frage auf, ob er noch tragbar ist an der Spitze des BDZV. Ein Altpapier von René Martens.

Neues journalistisches Ethos?

Wahrscheinlich kommt es nicht allzu oft vor, dass sich Michael Hanfeld und Annette Leiterer, die Redaktionsleiterin von "Zapp", weitgehend einig sind. Ähnlich sehen Hanfeld und Leiterer derzeit jedenfalls die Entscheidung der Ippen-Investigativ-Redakteure, ihre Recherchen zum Machtmissbrauch des nunmehr ehemaligen Bild-Chefredakteurs Julian Reichelt in eine Spiegel-Geschichte einzubringen (Altpapier von Dienstag), nachdem der Patriarch und Namensgeber des Verlags eine Veröffentlichung in den eigenen Medien verhindert hatte (Altpapier von Montag).

In den "Tagesthemen" von Dienstag lobte Leiterer "die Stärke, gegen den eigenen Verleger aufzubegehren" - und dass sich die vier Kolleginnen und Kollegen dessen Veröffentlichungsverbot "nicht bieten" ließen. Hanfeld wiederum kommentiert für die FAZ das Spiegel/Ippen-Gemeinschaftsprodukt folgendermaßen:

"Das ist eine ziemlich einmalige Zusammenarbeit, die für den Journalismus in diesem Land spricht, für Rechercheure, die sich sogar gegen den obersten Chef behaupten."

Dirk Peitz (Zeit Online, €) meint ebenfalls, die Entscheidung von Ippens Investigativleuten, ihre Recherchen "in einen gemeinsamen Text mit dem Spiegel einzubringen" sei "in dieser Form nahezu beispiellos".

"Das Vorgehen des Ippen-Investigativteams (zeugt) von einem womöglich neuen journalistischen Ethos (…), der in seiner Unbedingtheit die Medienbranche in Deutschland verändern könnte",

lautet ein Teil seiner Zwischenbilanz, die auch ein kleines "Aber" beinhaltet:

"Eine funktionierende Vertrauensbasis zwischen Journalistinnen, Redaktionen, Verlagen und eben auch Verlegern ist eine Basis für Journalismus. Oder jedenfalls war sie es bislang: jede und jeder an ihrem und seinem Platz. Auf ganz verschiedene Weise zeigen die Vorgänge bei Ippen wie Springer nun, was passieren kann, wenn diese vielleicht auch zu eingespielten Mechanismen nicht greifen."

Damit wären ja längst nicht alle formalen Außergewöhnlichkeiten dieser Angelegenheit benannt. Aus anderen Gründen "ziemlich einmalig" (Hanfeld) bzw. "nahezu beispiellos" (Peitz) dürfte zum Beispiel auch sein, dass eine Zeitung, in der die Recherchen nicht erscheinen durften, die Rechercheure zu den Umständen der Nicht-Veröffentlichung in den eigenen Gefilden und der Veröffentlichung bei der Konkurrenz befragt. Konkret: Ippens Frankfurter Rundschau hat Ippens Guerilleros interviewt.

Valerie Eiseler und Viktor Funk fragen unter anderem:

"Die FR hat erklärt, dass sie die Recherche trotz des Verbots durch den Ippen-Verlag drucken würde. Warum geht das nicht mehr?"

Dazu sagt Juliane Löffler, die Hauptrechercheurin:

"Ich musste am Freitag Quellen anrufen und ihnen sagen, dass die Veröffentlichung abgesagt ist. Das hat natürlich bei den Quellen massiv zu Verunsicherung und Bestürzung geführt. Manche waren extrem emotional. Die haben sich – nicht von mir persönlich, aber von dem Verlag – im Stich gelassen gefühlt und natürlich hat es dazu geführt, dass ich aktuell nicht mehr von allen Quellen den Rückhalt habe, in diesem Verlag zu veröffentlichen (…) Zum jetzigen Zeitpunkt ist (…) nicht klar, was wann wo erscheint."

Und Daniel Drepper, der das Investigativ-Team leitet, sagt zur erwähnten Zusammenarbeit mit dem Spiegel:

"Für unser Team war es extrem wichtig, dass die Geschichten der Frauen gehört werden. Welche Konsequenzen uns drohen, das können wir nicht abschätzen. Von Ippen gab es keine offizielle Freigabe für die Veröffentlichung bei einem anderen Verlag."

Was natürlich die Frage aufwirft, ob irgendjemand zumindest eine inoffizielle Freigabe erteilt hat.

Juliane Löffler äußert sich auch gegenüber "Zapp". Eine Besonderheit bei den Recherchen in Sachen Reichelt benennt sie gleich zu Beginn des Gesprächs, man könnte hier im weiteren Sinne von einem Kurzzeit-Zeugenschutzprogramm sprechen:

"Prinzipiell ist es immer so, dass bei MeToo-Geschichten die Angst vor mutmaßlichen Tätern sehr groß ist. In dem Fall gab es eine besonders große Angst vor Julian Reichelt als Person (…) Wir haben Sicherheitsvorkehrungen getroffen, wir haben ein Security-Briefing vorher an alle Quellen, mit denen wir gesprochen haben, rumgeschickt. Einige der Betroffenen haben dafür gesorgt, dass sie zu dem Zeitpunkt, als wir Springer erstmals mit den Vorwürfen konfrontiert haben, nicht in der Stadt waren."

Die Debatte nicht auf Springer reduzieren!

Wenn Konstantin Nowotny nun in einem Text für den Freitag schreibt, dass "der Fall Reichelt in Verlauf und Brisanz seinesgleichen sucht", dann sind unter anderem solche von Löffler beschriebenen Umstände gemeint. Aber, und darauf will Novotny hinaus: Machtmissbrauch sei "in Deutschlands Medienbranche" generell "alles andere als unüblich". Der Freitag-Autor nennt in dem Zusammenhang Recherchen des Medium Magazins aus dem Frühjahr (€).

"Toxische Führungskultur, Sexismus und andere Formen der Diskriminierung sind in deutschen Medien weit verbreitet", heißt es in dem Text. Es sei falsch, die Debatte auf den Springer-Verlag zu "reduzieren". Eine der Autorinnen des Medium-Magazin-Beitrags, Pascale Müller (die mal mit einem Großteil des jetzigen Ippen-Teams zusammengearbeitet hat, als es noch bei Buzzfeed war), weist in einem Thread ebenfalls noch einmal auf den Artikel hin - unter anderem mit folgenden Worten:

"Es ist so leicht auf Ulf Poschardt zu zeigen, der Sexismus seines Freundes nicht reflektieren will. Aber ähnliches ist mir aus ganz anderen Redaktionen entgegengeschlagen, wenn es darum ging, Fehlverhalten zu benennen. Privat sei das, unanständig die Recherche."

Der "Freund", von dem hier die Rede ist, ist natürlich Reichelt, die Passage bezieht sich auf diesen Tweet Poschardts.

Schließlich erwähnt auch Stefan Niggemeier den Medium-Magazin-Text zu Beginn eines Interviews mit Caren Miosga in den "Tagesthemen".

In Sachen Döpfner

Mehrere Kollegen nehmen mit unterschiedlichen Schwerpunkten in den Blick, welche Rolle Springers Vorstandsvorsitzender Mathias Döpfner in der Gemengelage spielt. Anton Rainer kommentiert im Spiegel:

"Wie sehr (Julian Reichelt) junge Frauen in seiner eigenen Redaktion drangsalierte, wie viele problematische Affären mit Praktikantinnen und Volontärinnen er einging, welche Machokultur bei Deutschlands größter Zeitung herrschte und herrscht, weiß Mathias Döpfner nicht erst seit gestern. Er erfuhr es auch nicht aus einem Bericht der New York Times oder durch Anfragen von Spiegel und Ippen Investigativ. Er fand es schon vor Monaten selbst heraus."

Jenseits der konkreten Gründe, die dazu geführt haben, dass Springer sich nun von Reichelt getrennt hat, drängt sich natürlich die Frage auf: Hat Springer-Vorstandschef Döpfner Reichelt geopfert, um sich selbst halten zu können? In ähnlichen Kontexten hätte man vielleicht von einem Bauernopfer gesprochen, aber auf einen Chefredakteur trifft das Bild vom Bauer ja eher nicht zu.

Darüber hinaus geht es weiterhin vielerorts um die hier am Montag bereits erwähnte, auf "Pegida-Niveau" (SZ-Redakteur Bastian Obermayer bei Twitter) anzusiedelnde Passage aus einer Döpfner-SMS an Benjamin von Stuckrad-Barre, die zuerst Ben Smith von der New York Times öffentlich gemacht hat. Reichelt sei "wirklich der letzte und einzige Journalist, der noch mutig gegen den neuen DDR-Obrigkeitsstaat aufbegehrt", schreibt Döpfner da bekanntlich. "Fast alle anderen" seien "zu Propaganda-Assistenten geworden". Thomas Lückerath (dwdl.de) fragt angesichts dessen:

"Teilen eigentlich die Mitglieder des Bundesverbandes der Digitalpublisher und Zeitungsverleger diese Einschätzung ihres 2020 gerade erst einstimmig (!) wiedergewählten Vorsitzenden Mathias Döpfner? Deutschland, ein autoritärer DDR-Staat?"

Der heute schon erwähnte Stefan Niggemeier hat Lückeraths Text als Inspiration für einen wütenden Thread genutzt, der sich in Sachen Döpfnerismus-Kritik natürlich auf ein reichhaltiges Übermedien-Archiv stützen kann. Niggemeier bringt ebenfalls das Thema BDZV-Präsidentschaft ins Spiel:

"Es ist eine Schande für die deutschen Zeitungsverlage, dass jemand wie #Döpfner ihr oberster Repräsentant ist. Und das nicht erst seit dem DDR-Obrigkeitsstaats-Zitat."

In diesem Zusammenhang könnte man nun an Döpfners berüchtigte "Nordkorea"-Rede von 2017 erinnern. Oder an den Oktober 2019, als er in der Welt eine "Verschwörungstheorie" (Altpapier) platzierte. "Eine mediale Elite, die Dinge zu oft eher beschwört und beschreibt, wie sie sein sollten, als zu beschreiben, wie die Lage ist" und "Haltung oft über Fakten stellt" griff Döpfner damals an (obwohl ja kaum eine bessere Verkörperung des Begriffs "mediale Elite" vorstellbar ist als die Person Mathias Döpfner, aber das nur am Rande). Ralf Heimann schrieb hier damals etwas, was sich nun auch über die SMS an Stuckrad-Barre sagen ließe:

"Zuallererst ist daran bemerkenswert, dass Döpfner Präsident der Zeitungsverleger ist, mit seiner pauschalen Medienkritik aber in die gleiche Kerbe schlägt, die auch die AfD schon seit Jahren bearbeitet – mit dem offensichtlichen Ziel, die Glaubwürdigkeit unter anderem der Medien in Zweifel zu ziehen, die Döpfner als Verbandspräsident vertritt."

Döpfners "wirres Manifest" (Leo Fischer) stieß damals auch auf Widerstand aus dem eigenen Haus (Altpapier). Im März 2020 schließlich wiesen die taz und wir hier im Altpapier darauf hin, dass Döpfner einen von ihm für die Welt geschriebenen Text der rechten Krawallschachtel-Plattform Achse des Guten zur Zweitverwertung überlassen hatte. Eine Erkenntnis lautete damals:

"Die Unterschiede zwischen einem Springer-Medium und einem Spinner-Medium sind offenbar nur noch graduell."

Ein halbes Jahr später wählte der BDZV Mathias Döpfner, den Freund der Achsenmenschen, dann wieder an seine Spitze.

Wieso Nils Minkmar in einem Porträt auf der Seite 2 der SZ nun schreibt, Döpfners DDR-Döntje sei "schockierend", erschließt sich also nicht so richtig. Ebenso wenig, dass zwei Seiten weiter Cornelius Pollmer die Frage aufwirft, "in welchem Anflug von geistiger Umnachtung" Döpfner "es (…) für geboten hielt, den kompletten deutschen Journalismus abzüglich des jetzt durch ihn selbst geschassten Bild-Chefredakteurs als Schafherde zu klassifizieren - und dazu das Land, in dem er lebt, als die neue DDR."

Um Pollmers Bild zu variieren: In der Dunkelheit lebt Döpfner tatsächlich schon ein bisschen länger, wie die zitierten Beispiele zeigen. Und mal ganz abgesehen davon, was öffentlich ist und was alle wissen, die hin und wieder Übermedien oder das Altpapier lesen: Man darf substanziell vermuten, dass man in BDZV-Kreisen noch viel besser weiß, wie Döpfner tickt. Er wird beim Whisky - oder was auch immer die da süffeln nach der Sitzungsmaloche - hin und wieder erzählt haben, wie er die Welt sieht.

Greifen wir noch einmal Stefan Niggemeiers "Schande"-Tweet auf: Ist es also "eine Schande für die deutschen Zeitungsverlage, dass jemand wie #Döpfner ihr oberster Repräsentant ist?" Das kann man so sehen - wenn der BDZV aus Feigheit, Kalkül oder Opportunismus an Döpfner fest hält (also mit Blick auf dessen Verbindungen in die Politik, die aus Sicht eines Lobbyverbandes paradiesisch sind oder es zumindest in den letzten Legislaturperioden waren). Trifft aber "die einfache Arbeitshypothese" zu, die Holger Klein in einer Außer-der-Reihe-Folge des Übermedien-Podcasts "Holger ruft an" formuliert - Wenn ein Verband einen Mann in einer demokratischen Wahl auf den obersten Posten hievt, dann steht er zu dem, was der Gewählte sagt -, dann ist Döpfner halt genau der richtige Mann an der Spitze des BDZV.

Das wäre dann die pessimistische Interpretationsoption. Anders gesagt: Es gibt zwar nur ein' Rudi Völler, aber vielleicht nicht nur ein' Matze Döpfner. Oder, um es vielleicht einen Tick weniger kryptisch zu formulieren: Wenn wir so weit sind zu erkennen, dass es eine toxische Führungskultur nicht nur in dem Laden gibt, aus dem Julian Reichelt gerade rausgeflogen ist, dann sollten wir zumindest in Erwägung ziehen, dass Mathias Döpfner nicht der einzige "Schwurbler" (Thomas Lückerath) in den Führungsetagen deutscher Medien ist.

Unter anderem mit Bezug auf Döpfners DDR-Döntje fragt Carmen Miosga Niggemeier im bereits verlinkten "Tagesthemen"-Interview:

"Warum wird Mathias Döpfner, der ja auch für alle Verleger in Deutschland spricht, so wenig öffentlich kritisiert? Liegt das auch an der Macht der Bild-Zeitung?"

Tja, die Frage, die Miosga hier stellt, könnte man im Übrigen ja auch direkt an die ARD richten. Man könnte sie auch in im Detail andere Richtungen weiterdrehen: Warum fehlt es bei den dem Gemeinwohl verpflichteten Öffentlich-Rechtlichen an einer Fundamentalkritik an einem für das Gemeinwohl so gefährlichen Medium wie der Bild-Zeitung (die ihre Stoßrichtung unter dem Bilderbuch-Antikommunisten und Gerhard-Löwenthal-Wiedergänger Johannes Boie ja gewiss nicht ändern wird)? Warum setzt zum Beispiel WDR-Intendant Tom Buhrow in Sachen Nemi El-Hassan die Politik der Bild-Zeitung bzw. von deren Gesinnungsgenossen aus der rechten Szene (vgl. Altpapier) um?

Die Frage stellt sich nun noch mal unter anderen Vorzeichen, weil zum Beispiel ein Artikel der Berliner Zeitung nahe legt, dass Buhrow den Kontext diverser Likes, die El-Hassan zur Last gelegt werden, nicht ausführlich hat prüfen lassen. Auch hier gibt es wieder zwei Interpretationsoptionen: Ist Buhrow "eingeknickt" (Zeit Online, €)? Oder liegt er eh auf Springer-Linie?


Altpapierkorb (Raif-Badawi-Preis für Alican Uludağ, "Die Unbeugsamen" mit Maria Ressa noch einmal in der ARD)

+++ Die FAZ (Blendle-Link) würdigt den Investigativjournalisten Alican Uludağ, einen der "wenigen unabhängigen Journalisten", die in bzw. aus der Türkei "über die Verletzung der individuellen Grundrechte durch die Justiz" recherchieren. Anlass des Textes: Uludağ, "der sich in den vergangenen Jahren als investigativer Reporter an den hohen Gerichten der Türkei und zur Polizei einen Namen gemacht hat", wird heute mit dem "Raif-Badawi-Preis für mutigen Journalismus" ausgezeichnet, "der anlässlich der Frankfurter Buchmesse vergeben wird".

+++ Für mutigen Journalismus einen Preis bekommen hat kürzlich auch Maria Ressa, und zwar den Friedens-Nobelpreis - weshalb die ARD ja an jenem Tag den im vergangenen Jahr auf Arte erstausgestrahlten Dokumentarfilm "Die Unbeugsamen. Gefährdete Pressefreiheit auf den Philippinen" kurzfristig ins Erste Programm hob (siehe Altpapier). Als Termin für die Erstausstrahlung im Ersten war ursprünglich der heutige 20. Oktober vorgesehen gewesen, und das Überraschende ist, dass der Film heute noch einmal dort läuft, also innerhalb von weniger als zwei Wochen zum zweiten Mal. Dass im Ersten Programm der ARD der lange Dokumentarfilm unterrepräsentiert ist - diese Klage ist so bekannt wie berechtigt. Dass die ARD nun zeigt, dass sie auch ganz anders kann, lässt sich als Bekenntnis zur Pressefreiheit interpretieren. Man könnte diese ungewöhnliche Programmier-Entscheidung aber auch als kleinen Gruß an die Wochenzeitung Die Zeit verstehen, die im April 2021 eine maximal unseriöse Kampagne gegen den Film gefahren hatte (Altpapier). Ein Motto der zweifachen Ausstrahlung könnte also sein: Wenn ihr uns so blöd kommt, dann zeigen wir den Film halt öfter als geplant.

Das nächste Altpapier gibt es am Donnerstag.

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