Teasergrafik Altpapier vom 4. November 2021: Porträt Autor Klaus Raab
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Das Altpapier am 4. November 2021 Raider heißt jetzt Twix

04. November 2021, 10:48 Uhr

Kurz nach der Konzernumbenennung teilt Facebook nun mit, die Gesichtserkennung werde weitgehend abgeschafft – aber die Kritik ebbt trotzdem nicht ab. SZ und FAZ begrüßen die Trennung des WDR von Nemi El-Hassan. Und: ein Blick auf Imagefilme, die als Fußballdokus verkauft werden. Ein Altpapier von Klaus Raab.

Irgendetwas mit Gesichtserkennung

Hold the frontpage! Facebook, Meta, Raider, Twix oder wie auch immer der Laden nun heißt, der den Journalismus seit Jahren vor sich hertreibt, hat womöglich mal etwas gut gemacht! Sogar die ehemalige Facebook-Angestellte und Whistleblowerin Frances Haugen, die auf den Konzern formerly known as Facebook bekanntlich nicht gut zu sprechen ist, "lobt" ihn dafür, wie es bei ZDF.de über einem Interview mit ihr heißt.

Was Facebook (Meta, Raider, Dings) nämlich macht: irgendetwas mit der Gesichtserkennung. "We’re shutting down the Face Recognition system on Facebook", bloggte (also PR-mitteilte) das Unternehmen. So lautet zumindest der erste Satz der Mitteilung. Im zweiten Satz steht, man werde "more than a billion people’s individual facial recognition templates" löschen.

Facebook löscht Daten – das klingt in der Tat wie eine Nachricht der Kategorie "Mann beißt Hund". Und so ließen sich die deutschen Redaktionen gestern angemessenerweise ein bisschen was einfallen, nämlich viele schöne Synonyme für den Vorgang. "Facebook schafft die Gesichtserkennung ab" hat zum Beispiel die Deutsche Welle auf dw.com im Angebot. Die Formulierung "schaltet ab" wählt tagesschau.de, "stellt ein" schreibt spiegel.de, "will beenden" heißt es bei zdf.de. Auf sueddeutsche.de findet man ein "stoppt". Und MDR.de wählt aus dem großen Lexikon der Wörter ein schnörkelloses und grundsolides "verzichtet auf". Nicht geschafft ins Internet hatten es bislang lediglich die Überschriften "Facebook tut Gesichtserkennung in den Mülleimer", "Gesichtserkennung ist Loser der Woche" und "Facebook schneidet Face Recognition eine fiese Fratze". (Aber zum Glück gibt es ja das Altpapier.)

Weniger dick scheint das Wörterbuch mit den Adjektiven zu sein, das die deutschen Onlineredaktionen nutzen. Offensichtlich steht darin nur ein einziges Eigenschaftswort, das hinsichtlich der Zugehörigkeit zum Substantiv "Gesichtserkennung" als unumstritten gilt: Facebooks Gesichtserkennung ist "umstritten" (mdr.de), "umstritten" (tagesschau.de), "umstritten" (zdf.de), "umstritten" (spiegel.de) und "umstritten" (deutschlandfunknova.de).

Kommen wir nach dieser Analyse der sprachlichen Raffinessen aber zur Begehung der Motive: Wieso tut Meta, was es tut, und weshalb und vor allem warum?

Da wäre die Erklärung des Konzerns selbst: Jerome Pesenti, der Vizepresident "Artificial Intelligence" von Meta/Facebook, begründet die Abschaltung, Abschaffung, Einstellung, Beendigung und den Verzicht auf die nicht unumstrittene Gesichtserkennungsfunktion mit "(g)rowing societal concerns, especially as regulators have yet to provide clear rules". Vor allem "Datenschutzbedenken" hätten den Ausschlag gegeben, übersetzt unter anderem Jörg Scheib im WDR-Blog Digitalistan.

Nun gibt es aber auch eine begründete Grundskepsis, wenn von Facebook/Meta etwas verkündet wird. Frances Haugen, die Facebook-Whistleblowerin, sagt zwar im ZDF-Interview, die Entwicklung sei "ein großartiges Zeichen" und "der richtige Trend. Es zeigt: Wenn wir zusammen Druck auf Facebook ausüben, können wir Großes erreichen." Aber vor allem hält sie die Ankündigung zum jetzigen Zeitpunkt, da der Konzern von vielen Seiten kritisiert wird, für einen Teil einer "klassischen PR-Strategie": "When the news is bad, you try to change the story." –"Wenn die Nachrichten schlecht sind, versuche die Story zu ändern".

Dass dieser durchschaubare Trick durchschaut ist, klingt auch bei Götz Hamann auf der Titelseite der neuen Zeit an, in einem Kommentar, in dem er sich noch einmal Facebook-Gründer Mark Zuckerbergs Flucht in die Konzernumbenennung (Altpapier vom Dienstag) widmet:

"Wer wie er allein in den vergangenen drei Monaten fast zehn Milliarden Dollar Gewinn macht und sich dafür entscheidet, nichts davon ins Allgemeinwohl zu investieren, trägt persönliche Verantwortung. Auch deshalb drohen ihm demütigende Anhörungen im amerikanischen Senat und im Kongress. In Europa steckt das soziale Netzwerk in einer Regulierungsdebatte. Und die globale Mindeststeuer, die führende Industrienationen vergangene Woche beschlossen haben, wird den Gewinn von Facebook schmälern. In diesem Moment benennt Zuckerberg plötzlich seinen Konzern um und versucht, hinter sich selbst zu verschwinden. Abgang des umstrittenen Unternehmers – Auftritt des genialen Visionärs. Und das Publikum soll diese Drückebergerei beklatschen? Wohl eher nicht."

Wer allerdings nicht einmal über das Abrücken von der Gesichtserkennung klatscht, auch nicht ganz leise, ist netzpolitik.org: "Kaum ein Konzern braucht gerade dringender gute Nachrichten als Facebook", beginnt dort ein Kommentar von Sebastian Meineck. "Auch die Umbenennung in ‚Meta‘ lenkt kaum von der Flut an kritischen Nachrichtenartikeln ab." Jetzt allerdings, mit der Meldung vom Shutdown der Gesichtserkennung, sei "Meta ein PR-Stunt gelungen". Aber viel mehr auch nicht, so Meineck.

Sein Text steht bei netzpolitik.org unter der summa summarum ziemlich anderen Überschrift "Facebook arbeitet weiter an Gesichtserkennung". Denn das, so Meineck, stehe ja auch im Pressemitteilungsblog von Meta:

"Gesichtserkennung könne 'helfen' und sei 'leistungsfähig', schreibt der Konzern, etwa um die Identität von Menschen zu überprüfen, Betrug und Identitätsdiebstahl zu verhindern. 'Wir werden weiter an diesen Technologien arbeiten.' Im Klartext heißt das: Wer auch in Zukunft sein Gesicht vor möglicher, biometrischer Erfassung durch den Konzern schützen will, sollte eher keine Facebook-Produkte nutzen."

Facebooks Umstrittenheit – so könnte man’s sprachlich vielleicht halbwegs solide zusammenfassen – wurde unter dem Strich jedenfalls weder abgeschafft noch beendet noch eingestellt.

Noch ein Kommentar zum Fall Nemi El-Hassan

Nach wie vor in der Kommentierungsphase ist die Trennung des WDR von der als "Quarks"-Moderatorin vorgesehenen Nemi El-Hassan (oder auch Trennung Nemi El-Hassans vom WDR), um die es hier gestern ging. El-Hassan habe in ihrer öffentlichen WDR-Kritik zurecht erwähnt, "dass die Kampagne gegen sie ursprünglich von sehr rechten Online-Aktivisten losgetreten wurde", allerdings habe sie nicht erwähnt, "dass nicht nur AfD und Bild-Zeitung und viele, viele rechte Heinis steil gegangen sind, sondern dass es auch substanzielle Kritik an ihr gab und gibt", fasste René Martens hier zusammen.

Laura Hertreiter schreibt beides in der heutigen Süddeutschen Zeitung (Abotext) auch, wird aber im Urteil dann ziemlich deutlich:

"Während der Privatmensch ganz Standpunkt sein kann und der Aktivist es sogar sein sollte, ist es Aufgabe des Journalisten, zu sehen, dass der eigene eben nicht der einzige Standpunkt ist. Das tut Nemi El-Hassan in keiner Zeile. Sie unterschlägt, dass es überhaupt Gegenpositionen gibt. Falls sie sich der Komplexität der Situation bewusst ist, lässt sie das in keiner Silbe durchblitzen, flüchtet in die Eindeutigkeit der Halbwahrheiten. Die Position des Zentralrats der Juden, der am Mittwoch die WDR-Entscheidung sofort begrüßte, unterschlägt sie in der Sache."

Insgesamt, kommentiert die SZ, zeige El-Hassans Stellungnahme "Ich bin Palästinenserin – deal with it" in der Berliner Zeitung, von der hier schon die Rede gewesen ist, "warum es richtig ist", dass sie "nicht das Gesicht einer öffentlich-rechtlichen Sendung wird".

Das freilich, nimmt Michael Hanfeld in der FAZ an, "wird sie einkalkuliert haben". In der Tat: Ihr "Deal with it" liest sich so. Der WDR, findet er, "hat, nach langem Zaudern und internen Zeichen, die verhießen, man werde mit Nemi El-Hassan zusammenfinden, richtig entschieden".

Leere Nähe

Haben Sie jetzt vielleicht Lust auf einen übersichtlichen Ausflug ins Sportfernsehen, wenn ich verspreche, dass dabei auch das Wort "Instagram" vorkommt?

Es ist was dran an dem, was Benedikt Warmbrunn in der Süddeutschen Zeitung über die sechsteilige Amazon-Prime-Dokumentation "FC Bayern – Behind the Legend" dieser Tage schrieb: "Ein Fußballspiel, heißt es, dauert 90 Minuten. Eine gute Fußballdoku braucht auch nicht unbedingt mehr." Wer länger erzählen will, braucht jedenfalls eine entsprechende Dramaturgie –sonst droht es eine Nummernrevue zu werden.

Der Mehrteiler über den Münchner Sportverein reiht sich ein in einige sehr ausführliche Vereins- und Sportdokus, die "einen hautnahen Blick … hinter die Kulissen" (Amazon) versprechen. "So nah dran" wie in der Amazon-Reihe über Borussia Dortmund war man zum Beispiel 2019 der Eigenwerbung zufolge auch "noch nie".

Wie nah ist allerdings sehr nah? Nun, immerhin so nah, dass "gleich mehrere Spieler das Kamera-Team zu Hause" empfangen, schreibt Warmbrunn in seiner SZ-Rezension, "Robert Lewandowski gar an dem Abend, an dem er zum Weltfußballer gewählt wird". Jedoch: "(D)iese Nähe allein erzählt noch nichts. Sie lenkt gelegentlich sogar ab." Und zwar von einer Geschichte. "Der Fußballdokugott scheint sich nämlich zufrieden zu geben mit glattpolierter Scheinnähe, und davon bekommt er dann gar nicht genug."

Das ist ein Muster, das sich durch viele Fußballdokuserien zieht, die ich gesehen habe. Netflix feierte 2018 zum Beispiel Juventus Turin ab. Man sah schöne Männer, die besten Szenen, die größten Erfolge, es war also wirklich sehr sehr langweilig. Und die Dokumentation über Manchester City, die es bei Amazon Prime auch schon gab und die "einen nie da gewesenen Einblick in die Welt des Profifußballs" zu zeigen versprach, war auch nicht viel mehr als ein langer Imagefilm.

Es geht in diesen Dokus nicht um gute Geschichten oder gar um Hintergründe und die Kultivierung eines kritischen Blicks. Es geht vornehmlich um den Ausbau weiterer Märkte. Amazon Prime verspricht dem FC Bayern München ein internationales Publikum, das vielleicht auch noch Bayern-Devotionalien kaufen will. Und umgekehrt verspricht der FC Bayern "mit seinen zehn Millionen Fans alleine in Deutschland" (Tagesspiegel) Amazon Prime Zuschauer. "Win-Win-Situation, das sagt man wohl dazu", schreibt Markus Ehrenberg (der allerdings beim Schauen der ersten Folge "nicht nur Fan TV" gesehen hat).

"Der FC Bayern hat jede Szene der Doku abgenommen, es ist quasi ein Gemeinschaftswerk des Klubs mit der Produktionsfirma und Amazon. (…) Es ist nur das zu sehen, was dem Verein auch passt, inklusive Sponsorenlogos. Insofern ist es letztlich ein Marketing-Vehikel für den Klub. Er präsentiert sich mit der Doku international so, wie er gesehen werden möchte."

Auch deswegen gewähren die größten Vereine nicht etwa nationalen Fernsehsendern, sondern international tätigen Streamingportale Zugang. Das Resultat sind Filme wie Instagram-Accounts. Man sieht nur noch mehr von der Oberfläche. Von uns gibt’s dafür hiermit jetzt wenigstens mal einen Anpfiff.


Altpapierkorb (Verleger-Sonntagspredigten, sog. Cancel Culture, Civey-Umfrage)

+++ In der Kontext-Wochenzeitung nimmt sich Josef-Otto Freudenreich die Kritik der Verleger an Verlegerpräsident Döpfner vor. Nicht nur die von Ex-SWMH-Chef Richard Rebmann, die Freudenreich bereits zitiert hat (siehe auch Altpapier), sondern nun auch die nachgereichte einiger anderer. Die Überschrift fasst seine Kritik zusammen: "Der Sound der Sonntagspredigt".

+++ Wo es viel zu kritisieren gibt, gibt es – so läuft’s Business – in der Regel auch jemanden, der die Kritik kritisiert. Nils Jacobsen tut das diesmal in Bezug auf Facebook, in einem Kommentar bei meedia.de, der mit dem Satz beginnt: "Die mediale Cancel Culture ist sich seit Jahren einig: Mark Zuckerberg muss weg. Endgültig! Das ist der Tenor, der sich Woche für Woche durch die gängigen Tech-Publikationen, Blogs, Podcasts und vor allem Twitter zieht." Ja, da steht wirklich "mediale Cancel Culture".

+++ Das "Streit"-Ressort der Zeit kommt auch nicht ohne dieses abgenudelte Schlagwort aus. Es streiten (derzeit hinter der Abomembran): die Vertreterin eines Bündnisses, das gegen "Cancel-Culture" an den Universitäten kämpfe, und ein Juniorprofessor mit Schwerpunkt Rassismusforschung. Gibt’s eigentlich keine Themen?

+++ Und nochmal Cancel Culture, diesmal allerdings ohne anekdotische Evidenz, sondern angemessenerweise Meta, als Betrachtung eines Diskursphänomens: Adrian Daub wundert sich in der Schweizer Wochenzeitung WOZ über die Feuilletonfixierung auf das, was "Cancel-Culture" genannt wird: "Dabei wird die charakteristische Ungenauigkeit, was denn genau gemeint sei, kompensiert mit einem Maximalismus, was die angeblichen Konsequenzen angeht. Irgendein Radiomoderator verliert seinen Job, und schon spricht der bekannte Kolumnist Harald Martenstein von ‚kultureller Flussbegradigung‘. Der Weg von der Lappalie zur Maximalmetapher ist sehr kurz."

+++ Und Übermedien kritisiert eine Civey-Umfrage des Spiegels, aus der hervorgeht, "Wem die Deutschen in der Ampel ein Ministeramt zutrauen – und wem nicht". Oder auch nicht wirklich. Autor Michalis Pantelouris hat da doch ein paar Zweifel.

Das nächste Altpapier erscheint am Freitag.

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