Teasergrafik Altpapier vom 10. Dezember 2021: Porträt Autorin Nora Frerichmann
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Das Altpapier am 10. Dezember 2021 Gibt es je genug Distanz und Kritik?

10. Dezember 2021, 13:51 Uhr

War ein Interview die richtige Form, um Julian Reichelt zu begegnen? Der ehemalige Bild-Chef hat trotz Entlassung deutlich mehr publizistische Macht als die Frauen, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihm standen. Ein Blick in die USA zeigt, wie junge Menschen der Gen Z mit Verschwörungskults umgehen. Ein Altpapier von Nora Frerichmann.

Ein Interview ist ein Interview ist ein Interview, oder?

Das Reichelt-Interview der "Zeit" zieht nach wie vor Aufmerksamkeit wie ein Schwamm. Bei Zeit Online wurde das Gespräch von Cathrin Gilbert gestern Abend als einer der beliebtesten Artikel aufgeführt. Alle großen Zeitungen und Portale beschäftigen sich mit den Aussagen des ehemaligen Bild-Chefs. Auch bei Twitter trendete #Reichelt. Und ja, auch hier soll es nun nochmal darum gehen. Nachdem Ralf Heimann in der Kolumne gestern schon eine umfangreiche Auseinandersetzung auf inhaltlicher Ebene geliefert hat, geht es heute noch um ein paar Einwürfe zu Form und Aufmerksamkeitsmechanismen.

Kurz zur Erinnerung: In dem Interview geht es um die Vorwürfe, infolge derer Julian Reichelt Springer im Oktober verlassen musste, aber auch um den Springer-Vorstandsvorsitzenden Mathias Döpfner und um Reichelts Blick auf sich selbst als vermeintliches Opfer eines "Vernichtungsfeldzugs".

Aber war ein Interview ein angemessenes Format, um Reichelt zu begegnen?, fragt Anne Fromm in der taz. Sie vermisst an einigen Stellen kritische Nachfragen, etwa bei seiner Aussage, er habe die "Form des Journalismus, bei dem in die Privatsphäre von Menschen eingedrungen wird" bei Bild vor Jahren beendet. Oder, wenn der ehemalige Chefredakteur nahelegt, der erste Spiegel-Text aus dem Frühjahr über die Vorwürfe gegen ihn sei verboten worden, weil er inhaltlich falsch sei. Bei der entsprechenden Entscheidung des Landgerichts Hamburg ging es aber darum, dass der Spiegel Reichelt keine Möglichkeit zur Stellungnahme geboten habe. Denn Reichelt hatte zuvor eidesstattlich versichert, dass die Fragen des Spiegels ihn erst später erreichten. Um das als Leser und Leserin einordnen zu können, brauche man aber das entsprechende Hintergrundwissen. Fromm schreibt, es sei

"sicher kein Zufall, dass Julian Reichelt sich in einem Interview äußert und dann auch noch bei der Zeit. Dort durfte auch schon Uli Hoeneß Buße tun nach seinen Steuersünden. Ein Interview ist die am besten kontrollierbare Form für den Interviewten – kritischen Fragen kann man ausweichen, Fakten widersprechen und die eigenen Aussagen vor der Veröffentlichung weichspülen."

Dass ein verschriftlichtes Interview mit dem eigentlichen Gespräch nicht unbedingt viel zu tun haben muss, die Aussagen verdichtet oder durch Autorisierung deutlich verändert werden können, ist wohl jeder und jedem in der Branche klar. Manchmal kommt es vor, dass Interviewte und deren PR-Abteilungen großzügig den Schwarzstift ansetzen oder das gedruckte Gespräch komplett ummodeln. Das führt immer mal wieder zu Protestaktionen in Redaktionen, zum Beispiel mit geschwärzt veröffentlichten Interviews (siehe Altpapier).

Bei dem aktuellen Reichelt-Interview scheint das nicht der Fall gewesen zu sein. Jedenfalls nicht in einem Maße, das die Redaktion zu öffentlichem Protest veranlasst hätte.

Zur Haltung der Zeit bei Interviews mit umstrittenen Persönlichkeiten schrieb Chefredakteur Giovanni di Lorenzo übrigens Ende 2011, nachdem er für ein Gespräch mit dem wegen seiner Plagiatsaffäre zurückgetretenen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg kritisiert worden war:

"Wenn Distanz und Kritik möglich sind und der Gesprächspartner von Interesse ist, dann sind die Bedingungen für den Abdruck eines Interviews gegeben. Die Antworten müssen dann weder dem Interviewer noch den Lesern gefallen, ein Interview ist eine journalistische Form, kein politisches Bekenntnis. Eine Vorzensur durch Medien darf es nicht geben. Einzig Verbrechern und Extremisten, die ihre Propaganda verbreiten wollten, wird keine vernünftige Zeitung ein Forum bieten."

Aber zurück in die Gegenwart: Grundsätzlich spreche nichts dagegen, Reichelt nun zu interviewen, meint Fromm. Denn der Text gibt ja auch Einblick in seine Standpunkte und seinen Blick auf die Welt, oder zumindest der Version, die er der Öffentlichkeit zeigen will.

"Es zeigt, wie weit sich Reichelt von der Realität entfernt hat, wie er sich einmauert in seiner Opfer- und Dissidenten-Erzählung", findet Fromm.

Die Krux der Aufmerksamkeitsmechanismen

Aus den Aussagen kann jede und jeder selbst seine Schlüsse ziehen. Den Zugang zu einer großen Öffentlichkeit, in der man die eigenen Ansichten verbreiten kann, haben allerdings nicht alle Beteiligten. Brigitte Baetz weist in Deuschlandfunks @mediasres deshalb auf eine Asymmetrie der medialen Aufmerksamkeit hin, die bei all den Diskussionen nicht vergessen werden sollte.

"Obwohl strafrechtlich nichts gegen den ehemaligen "Bild"-Chefredakteur vorliegt und immer die Unschuldsvermutung zu gelten hat, so bleibt doch ein ungutes Gefühl: Denn Reichelt kann sich dem großen Publikum von Deutschlands angesehenster Wochenzeitung als Mann präsentieren, dem Unrecht widerfahren sei. Den Frauen, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihm standen, steht dieser Weg eines gut vernetzten Medienmenschen, für sich selbst und seine Position zu werben, nicht offen."

Baetz gibt außerdem einen Einblick in die interne Diskussion über den medienjournalistischen Umgang mit Reichelts medialer Präsenz. Er versuche, seine Karriere in der Öffentlichkeit wieder aufzusetzen und bediene sich dabei der Aufmerksamkeitsmechanismen, die ihm in seiner Position zur Verfügung stehen. Und dazu gehöre auch die Aufregung, die das Interview auslöste. Deshalb habe @mediasres eigentlich nicht einsteigen wollen, erklärt sie und fragt:

"Aber können wir das, gerade als Medienmagazin? Ein Dilemma, das sich uns immer wieder stellt: Wir wollen und müssen Medienhypes hinterfragen, wollen aber nicht gerade deshalb diese Hypes weitertransportieren. Denn auch negative Erwähnungen sind nun mal Erwähnungen, das Gold der Aufmerksamkeitsökonomie. Vermutlich kommen wir einfach aus dieser Spirale nie ganz raus, aber immerhin wollten wir es heute einmal erklären."

Gen Z und die Absurdität der "post-truth"

Aber blicken wir, ohne an dieser Stelle eine krampfhafte thematische Überleitung zu bemühen, zum Schluss nochmal auf das größer werdende Problem von Desinformationskampagnen. Journalistinnen und Journalisten reagieren darauf meist mit Faktenchecks, Gesprächen mit wissenschaftlichen Expertinnen und Experten, mit Daten und der gezielten Beantwortung von Fragen von Leserinnen/Hörern/Zuschauerinnen.

Eine Gen-Z-Bewegung in den USA hat einen völlig anderen Ansatz gewählt. Statt auf Faktenbasis gehen sie performativ gegen Verschwörungsideologien vor. In der New York Times berichtet Tech-Reporterin Taylor Lorenz über die Bewegung hinter dem vermeintlichen Verschwörungsmythos "Birds Aren‘t Real". Eine Gruppe von jungen Amerikanerinnen und Amerikanern verbreitete dabei vier Jahre lang die abstruse Theorie, alle Vögel seien ausgerottet und durch Drohnen ersetzt worden, mit denen die US-Regierung die Menschen ausspähen würde. Ist natürlich alles Humbug, räumt der 23-jährige Chefverschwörungsmythenausdenker Peter McIndoe nun öffentlich ein.

"Yes, we have been intentionally spreading misinformation for the past four years, but it’s with a purpose. It’s about holding up a mirror to America in the internet age."

Er spricht von einer parodistischen, sozialen Bewegung mit der übergeordneten Absicht, den Wahnsinn und die Idiotie von Verschwörungsmythen ad absurdum führen zu wollen. Die Bewegung scheint sich aus weiteren Ansinnen zu speisen: Laut NYT verarbeiten die Mitglieder der sogenannten Bird Brigade in der satirischen Auseinandersetzung mit dieser bewusst aufgebauten Lüge auch ein Stück weit ihr eigenes Aufwachsen in einem "post-truth" Amerika, machen sich lustig und stellen sich gegen andere Verschwörungsgläubige, indem sie ihre Demos crashen bzw. mit Nonsense übertönen. Nebenbei verkauft die Brigade seit 2018 Merchandising-Artikel wie Hoodies, von denen zumindest McIdoe und Mitbegründer Connor Gaydos den Angaben zufolge mittlerweile leben können. Zu den Erkenntnissen und Risiken der Bewegung sagt Gaydos:

"‘We were able to construct an entirely fictional world that was reported on as fact by local media and questioned by members of the public.' Mr. Gaydos added, 'If anyone believes birds aren’t real, we’re the last of their concerns, because then there’s probably no conspiracy they don’t believe.'"

Aus journalistischer Sich rollen sich mir bei dem Gedanken an noch mehr bewusst verbreitete Verschwörungserzählungen trotzdem instinktiv die Zehnägel hoch. Andererseits ist dieser performative Ansatz zum Debunken von Verschwörungsmythen auch spannend zu beobachten.


Altpapierkorb (ARD-Hochrechnungen bei Bild TV rechtswidrig, problematische Berichterstattung über Königs Wusterhausen, Renner verlässt Medienjournalismus, Spiegel-Berichterstattung über Mockridge)

+++ Die Ausstrahlung der ARD-Wahlhochrechnung am Tag der Bundestagswahl bei Bild TV war aus Sicht des Landgerichts Berlin rechtswidrig, berichtet die Zeit. Das Gericht entschied aber nicht in allen Punkten zugunsten der ARD (zu der ja auch der MDR gehört).

+++ Die simplifizierende und eilige Berichterstattung über eine Gewalttat im brandenburgischen Königs Wusterhausen, bei der ein Mann mutmaßlich seine Frau und seine drei Kinder ermordet haben soll, kritisiert Lisa Kräher bei Übermedien.

+++ Der Medienjournalist Kai-Hinrich Renner wechselt laut Horizont+ (€) die Branche: Er gehe zur Kommunikationsagentur Schoesslers und werde dort den neuen Hamburger Standort leiten.

+++ Spiegel darf zentrale Teile des Berichts über Ines Aniolis Vorwürfe gegen Luke Mockridge nicht mehr verbreiten, berichtet Laura Hertreiter für die SZ über eine Entscheidung des Landgerichts Hamburg. Das Landgericht Köln hatte zuvor anders entschieden.

+++ Heute wird der Friedensnobelpreis an die philippinische Journalistin Maria Ressa und den russischen Journalisten Dmitri Muratow überreicht. Die Aufmerksamkeit durch den Nobelpreis helfe nicht nur Journalistinnen und Journalisten in ihrer Heimat, sondern überall auf der Welt, sagte Ressa laut Standard. "Das Licht ist in vielerlei Hinsicht ein Schutzschild." Dass das nötig wäre, zeigt ein Bericht der amerikanischen Journalistenorganisation Committee to Protect Journalists (CPJ), über den die Zeit berichtet. Demzufolge hat die Zahl der festgenommenen Journalistinnen und Journalisten 2021 einen neuen Höchststand erreicht: insgesamt seien 293 Journalisten wegen ihrer Arbeit festgenommen worden. Laut Reporter ohne Grenzen (RSF) wurden in den vergangenen 20 Jahren weltweit mehr als 1.600 Journalistinnen und Reporter getötet, allein 46 in diesem Jahr.

+++ In Österreich planen Corona-Leugnerinnen und -Leugner laut Standard Demonstrationen vor vielen journalistischen Redaktionen.

Neues Altpapier gibt‘s wieder am Montag.

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