Teasergrafik Altpapier vom 3. Februar 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Ralf Heimann
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Das Altpapier am 3. Februar 2022 Ein saurer chinesischer Apfel

03. Februar 2022, 10:30 Uhr

Vor den Olympischen Spielen in Peking stellt sich die Frage: Sollten Medien überhaupt berichten? Das Bundesverfassungsgericht schreibt mit einer Entscheidung zu Beleidigungen Rechtsgeschichte. Und: Was kann der Lokaljournalismus aus der Corona-Zeit lernen? Ein Altpapier von Ralf Heimann.

Die überwachten Spiele

Morgen beginnen die Olympischen Spiele in Peking, und eine der großen Fragen, die sich vorab stellen, ist diesmal nicht nur: Wer hat welche Medaillenchancen? Sondern auch: Warum berichten Medien überhaupt über diese Veranstaltung?

Für die Süddeutsche Zeitung gibt Sportchef Claudio Catuogno im Transparenz-Blog der Zeitung eine Antwort, die zunächst das Grundsätzliche klärt:

"Wir halten die Tatsache, dass das Internationale Olympische Komitee diese Spiele in China austrägt, für falsch. Wir finden das Schweigen des IOC zu den Umerziehungslagern in Xinjiang, zum Niederschlagen der Demokratiebewegung in Hongkong, zur Menschenrechtslage insgesamt skandalös."

Aber warum dann die Berichterstattung? Catuogno:

"Olympische Spiele sind mehr, als China und das IOC daraus machen: Sie sind ein Menschheitsereignis. Sie spannen den Bogen von der Antike bis in die Gegenwart. Sie sind ein Plädoyer für Bewegung. Olympia ist größer als ein Regime, das die Spiele instrumentalisiert, und größer als Funktionäre, die sie zum Produkt degradieren, an den Meistbietenden verramschen und der Welt dann einreden wollen, das alles sei unpolitisch."

Die Süddeutsche Zeitung stellt sechs Reporterinnen und Reporter ab, die teilweise über den Sport berichten, teilweise "von außerhalb der Olympia-Blase", teilweise auch aus München. Und schon die Vorkehrungen, die man getroffen hat, geben einen Eindruck davon, unter welchen Bedingungen die Berichterstattenden in den kommenden Wochen arbeiten werden.

"Die SZ hat für ihre Reporterinnen (…) extra Smartphones angemietet, von denen sich keine sensiblen Daten abgreifen lassen. Die Kolleginnen sind auch mit Laptops ausgestattet, die ihnen unzensierten Zugang zum Internet ermöglichen – aber ohne jede Verbindung zu den Servern der Redaktion. Nach der Heimreise wird das Equipment vernichtet."

Die ARD-China-Korrespondentin Tamara Anthony konkretisiert das in einem Beitrag von Fritz Lüders für das NDR-Medienmagazin "Zapp":

"Wenn wir irgendwo angemeldet hinfahren für ein Interview, dann ist meistens eine riesige Entourage dabei", sagt sie. An einer anderen Stelle ist sie während der Arbeit zu sehen. Im Hintergrund seien "drei Leute von der Regierung" zu sehen, "die uns auf Schritt und Tritt bei allen Interviews über die Schulter schauen", erklärt sie. So etwas sei ständig der Fall. Ihr Team werde verfolgt oder schon in einem Hotel erwartet, wenn es unterwegs sei.

Marco Mader vom Sportinformationsdienst sagt in dem Beitrag: "Wir sind uns fast alle einig, dass diese Spiele dort nie hätten stattfinden dürfen." China werde alles tun, um die Berichterstattung so schwer wie möglich zu machen. Aber er sagt auch: "Es ist wichtig zu zeigen, warum das nicht gut ist, was das IOC da macht, warum Spiele nicht nach Peking und Fußballweltmeisterschaften nicht nach Katar vergeben werden sollten." Die Athletinnen und Athleten würden nun schon gewarnt, sich besser nicht kritisch zu äußern. Auch deswegen sei es von Bedeutung, dass Medien vor Ort sind.

Das übliche Problem wird sein, dass viele Menschen sich einfach auf den Sport freuen, nicht auf die kritische Berichterstattung. Da ist vielleicht sogar Unverständnis, vor allem auch bei den Menschen, die selbst an den Spielen teilnehmen. Im Gespräch mit dem Snowboarder André Höflich, das Fritz Lüders geführt hat, wird das recht deutlich, am deutlichsten wird es in einem Satz. Höflich sagt:

"Ganz ehrlich ich könnte mir schönere Orte vorstellen, weil Peking kenne ich mittlerweile auch schon."

Und warum verzichtet die ARD nicht einfach auf die Berichterstattung? Sportchef Axel Balkausky sagt in dem "Zapp"-Beitrag:

"Es bewegt uns natürlich, weil wir die Diskussion mitbekommen. Gleichzeitig ist es etwas, was wir im Augenblick nicht vorsehen. Wir sehen uns nach wie vor als Berichterstatter. Auf der einen Seite wollen und möchten unsere Zuschauerinnen und Zuschauer Olympische Spiele sehen. Das ist eine Forderung, die wir immer wieder erleben, und auf der anderen Seite müssen wir genau den Schritt machen, über das zu berichten, was sich im Hintergrund, was sich politisch, was sich sozial tut. Und das tun wir beides. Insofern glaube ich, dass wir diesen Spagat schaffen werden."

Falls Sie sich für die Hintergründe der Olympischen Spiele interessieren, wovon ich ausgehe, hier noch ein Hinweis. Der Deutschlandfunk begleitet den Wettbewerb ab morgen in seinem Podcast "Players".

Neue Maßstäbe für Beleidigungen

Renate Künast muss es sich nun doch nicht gefallen lassen, sich im Internet übel beschimpfen und beleidigen zu lassen (Altpapier). Das Bundesverfassungsgericht hat die Berliner Gerichtsbeschlüsse dazu pulverisiert, wie man im Sport sagen würden. Oder wie jemand bei Twitter schreibt: "Eine Dampfwalze, die über das Urteil des Kammergerichts und des Landgerichts Berlin fährt." Der Rechtsanwalt Chan-jo Jun zitiert diesen Tweet in einem acht Minuten langen Video mit dem Titel: "BVerfG kanzelt Berliner Richter wie Schuljungen ab und erfindet neue Spielregeln für Beleidigungen."

Was ist passiert? Das Bundesverfassungsgericht hat die Bewertungsmaßstäbe für Hass und Beleidigungen geändert, und das bedeutet: Die bisherige Praxis in Gerichten war danach falsch. Bislang stand am Anfang die Frage: Handelt es sich bei einer Beleidigung um eine Schmähkritik? Oder verletzt die Beleidigung die Menschenwürde?

Falls das nicht so war, kam die Meinungsfreiheit ins Spiel. Sie galt vor allem dann, wenn ein sachlicher Bezug auszumachen war. Renate Künast zum Beispiel war beschimpft worden, weil jemand ein altes Zitat von ihr zum Themenkomplex "Sex mit Kindern" falsch wiedergegeben hatte. Bei der Beleidigung "Pädophilen-Trulla" wäre also ein Sachbezug da. 

Implizit habe bislang die Regel gegolten: "Die Meinungsfreiheit ist wichtiger als das allgemeine Persönlichkeitsrecht", sagt Chan-jo Jun in seinem Video.

Patrick Bahners schreibt auf der FAZ-Medienseite (€), so ein Rechtsverständnis müsse auf eine Aporie hinauslaufen, es führe also zu einem unlösbaren Problem. Bahners:

"Ein Minimum an Sachlichkeit würde genügen, um ein Maximum an persönlicher Häme zu rechtfertigen, jedenfalls wenn Politiker beschimpft werden."

In Zukunft wird man solche Fälle anders bewerten müssen. Das Bundesverfassungsgericht schreibt nun vor, dass eine Abwägung stattfinden muss. Man muss also die Frage stellen: "Wie wichtig war dieser Beitrag zur Meinungsbildung?"

Chan-jo Jun: "Ein Gericht, das diese Abwägung nicht vornimmt, verletzt bereits die Verfassung."

Das soll unter anderem dazu führen, dass Menschen, die für ihren Beruf notwendigerweise in der Öffentlichkeit stehen, zum Beispiel eben Politikerinnen wie Renate Künast, nicht schutzlos dastehen.

Von leeren Schreibtischen und Terminkalendern

Der Bundesverband der Zeitungsverleger und Digitalpublisher schaut zusammen mit der Unternehmensberatung Schickler regelmäßig in die Zukunft. Und wenn man in diesen Tagen von einem anderen Planeten auf die Erde kommen würde, könnte man es für witzig halten, dass dieser im Jahr 1954 gegründete Verband im Jahr 2022 Bezahlinhalte als eines der zentralen Themen des Jahres ausgemacht hat, so wie Müsli-Riegel-Hersteller in diesem Jahr mutmaßlich vor allem auf Bezahl-Müsli-Riegel setzen.

Falls Menschen aus der Unternehmensberatung mitlesen, muss man das vielleicht übersetzen. Gemeint ist "Paid Content", der in diesem Jahr natürlich "geboostert" werden muss wie eigentlich alles, und zwar mit "personalisierten Angeboten", dafür gibt es anscheinend kein englisches Wort. Knapp 90 Prozent der Analog- und Digitalpublisher sehen das "E-Paper" als "wichtige Brücke", also gewissermaßen Key Bridge zum Paid Content. So steht es in der Zusammenfassung der Ergebnisse der Trendumfrage für die Zeitungsbranche, die der Verband in einer 31 Seiten langen Präsentation illustriert hat. Ebenfalls wichtig in diesem Jahr, wer hätt's gedacht? Digitalkompetenz.

Das ist ein sehr technischer Ausblick auf die vermutete Zukunft der Zeitungs- und Digitalpublisherbranche. Marc Rath, bis vor kurzem Chefredakteur der Landeszeitung für die Lüneburger Heide, jetzt in der gleichen Funktion für die Mitteldeutsche Zeitung in Halle unter Vertrag, macht in einem im DJV-Magazin "Journalist" erschienenen Beitrag nach zwei Jahren Corona eine sehr lesenswerte Bestandsaufnahme des Lokaljournalismus. Dieser Mediensparte ist in der Pandemie vorübergehend ein morsches Standbein (nicht Tanzbein!) abhanden gekommen: der Terminjournalismus. Und mit ihm die Routine. Rath hält das für einen Segen.

"Viele Lokalzeitungsausgaben aus dieser Zeit werden als die besten vergangenen Jahre im Gedächtnis bleiben – nicht nur bei ihren Macherinnen und Machern, sondern bei den Leserinnen und Lesern",

schreibt er. Und er denkt, dass Zeitungen daraus lernen können. Was?

"Es geht darum, dass nicht mehr möglichst viele in die Redaktionen zurückkommen. Sondern, dass sie so oft wie möglich draußen sind. Laptops und Smartphones ersetzen Schreibtisch und Rechner für die Reporterteams."

Das ist richtig, denn wer unterwegs Inhalte sucht, findet dort in den meisten Fällen keine Pressemitteilungen, die später gekürzt und leicht redigiert in die Zeitung oder ins Online-Angebot wandern. Aber ich finde, es muss noch etwas ergänzt werden. Das ständige Unterwegssein kann im Lokaljournalismus ein mindestens ebenso schlimmes Übel sein wie der Terminjournalismus – vor allem, wenn beides zusammenkommt. Wer von einem Gespräch zum nächsten hastet und zwischendurch keine Zeit hat zum Lesen und Luftholen, produziert am Ende Inhalte, die auch nicht viel besser sind als Pressemitteilungen.

Wichtig ist beides: Unterwegssein und die vielleicht nicht ganz so spannende Schreibtischarbeit in mindestens dem gleichen Umfang. Wer sich nicht in Themen einarbeitet und viel liest, kann mit dem gesammelten Material nichts Gutes machen. Das weiß Marc Rath. Ich habe nur den Eindruck, es fällt oft unter den Tisch, weil der Alltag in vielen Redaktionen beides einfach nicht zulässt.

Ein anderer interessanter Aspekt. Rath fragt:

"Braucht es (im Lokaljournalismus, Anm. Altpapier) unbedingt einen Hochschulabschluss? Journalistisches Handwerk lässt sich auch lernen, wer eine Ausbildung absolviert hat und mitten im Leben steht. Gerade im Lokalen finden Letztgenannte (Menschen ohne Studienabschluss, Anm. Altpapier) womöglich einen viel besseren Draht zu den Leuten und ihren Themen. Ich selbst habe auch schon tolle Erfahrungen mit Kolleginnen und Kollegen gemacht, die 'nur' mit einem Realschul-Abschluss angefangen haben."

Das ist ein guter Gedanke, allerdings auch hier wieder eine kleine Ergänzung: Wenn sich Arbeitsbedingungen und Bezahlung im Lokalen weiter in die gleiche Richtung entwickeln wie in den vergangenen Jahren, wird sich die Frage, ob man Menschen mit Hochschulabschluss einstellt, in vielen Redaktionen bald nicht mehr stellen. Man wird einfach keine mehr finden.


Altpapierkorb (Jüdische Identität, Youtube und die EU, RT DE)

+++ Rachel Patt hat für den WDR in der Doku-Reihe "Unterwegs im Westen" einen Beitrag über jüdische Identität in Deutschland gemacht. Andrej Reisin hat daran sehr viel zu kritisieren. In einer Analyse für Übermedien schreibt er: "Nicht die Ergebnisse von Patts Recherche sind das Problem, sondern dass sie schlicht zu wenig recherchiert hat, dass sie nach Bauchgefühl agiert, statt simpelste Fakten wie die jüdische Einwanderungsgeschichte nach 1991 auf dem Kasten zu haben. Und kein:e Redakteur:in irgendetwas davon merkt." Reisin sieht auch ein generelles Problem. "Immer stärker sind die Sender in den letzten Jahren ausgehend von YouTube-Trends der Idee verfallen, der oder die Reporter:in müsse unbedingt seine oder ihre eigene Geschichte erzählen, müsse permanent vor der Kamera stehen und mehr oder weniger schlaue Gedanken direkt zum Publikum sprechen – die jungen Leute wollen es angeblich so. Das kann funktionieren, weil das Publikum emotional besser folgt, aber Sprechblasen ersetzen eben keine fundierte Recherche."

+++ Bei Youtube verschwinden immer wieder Beiträge, und oft ist nicht so richtig klar, warum. Die Europäische Union will das mit dem Gesetz über digitale Dienste (Digital Services Act) ändern (Altpapier). Philipp Bovermann schreibt auf der SZ-Medienseite, welche Probleme es dabei gibt.

+++ Der russische Staatssender "RT DE" wird in Deutschland weiterhin nicht mehr live senden dürfen. Die Kommission für Zulassung und Aufsicht (ZAK) der Medienanstalten begründet das mit der fehlenden Zulassung. Die Produktionsfirma will das nicht hinnehmen und probiert's jetzt mit einem Trick. Anna Ernst auf der SZ-Medienseite: "Das in Deutschland ansässige Unternehmen sieht offenbar ein juristisches Schlupfloch: Es erklärt, eine 'unabhängige Produktionsfirma'zu sein und werde 'fälschlicherweise als Betreiber des Fernsehsenders RT DE' dargestellt, der seinen Sitz eigentlich in Moskau habe. Gemeint ist offenkundig: Die Deutschen sollen sich raushalten, die Sache gehe sie nichts an." Möglicherweise werden auch deutsche Medien in Russland bald die Verstimmungen zu spüren bekommen. Der russische Botschafter hat laut Ernst beiläufig den Satz fallen lassen: "Es gibt so viele deutsche Journalisten in Russland." DJV-Chef Frank Überall werte das als "unverhohlene Drohung".

Neues Altpapier gibt es am Freitag.

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