Das Altpapier am 19. Mai 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Ralf Heimann
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Das Altpapier am 19. Mai 2022 Knalltüten, Kitsch und Kubitschek

19. Mai 2022, 12:35 Uhr

War es richtig, dass Deniz Yücel als PEN-Präsident zurückgetreten ist? Die einen sagen so, die anderen so. Und: Geht eine neue Uwe-Tellkamp-Doku rechter Sprachpolitik auf den Leim? Die einen sagen so, die anderen so. Ein Altpapier von Ralf Heimann.

Kleiner Erfolg für Peuckmann

Der Rauch hat sich ein wenig verzogen, und inzwischen ist etwas klarer zu sehen, was vom Schriftstellerverband PEN nach der apokalyptischen Tagung in Gotha noch übrig geblieben ist (Altpapier). Jana Hensel bezweifelt in einem Kommentar (€) in der aktuellen Ausgabe der "Zeit", dass Deniz Yücels Rücktritt richtig war, wie Josef Haslinger, der neue Interimschef des Vereins, es gesagt hat. Warum sie daran zweifelt?

"Nicht weil es den Beteiligten an gutem Willen fehlt, sondern weil an diesem hehren Ziel selbst ein Deniz Yücel gescheitert ist. Der PEN hat ein großes strukturelles Problem: Das dortige Engagement geschieht ehrenamtlich. In der Regel tut sich kein Intellektueller mit Erfahrung, Präsenz und Einfluss die gewaltige Arbeit und die enorme Verantwortung für das Schicksal inhaftierter oder verfolgter Autorinnen und Autoren an. Deniz Yücel ist also eigentlich ein Glücksfall für den PEN gewesen. So schnell wird sich sicher kein Zweiter mit seinen Qualitäten für diesen Job finden."

Überhaupt wird es wahrscheinlich schwer werden, eine intellektuelle Person mit Erfahrung, Präsenz und Einfluss zu finden, die bereit ist, auf das Niveau der vereinsinternen Auseinandersetzung herabzusteigen. Einen Eindruck davon, was Yücels Nachfolgerin oder Nachfolger erwarten würde, bekommt man zum Beispiel, wenn man den Wikipedia-Artikel des alten und neuen Generalsekretärs Heinrich Peuckmann liest. Dort steht (Stand 19. Mai, 6 Uhr): 

"In seiner Rede bei der turbulenten PEN-Hauptversammlung in Gotha im Mai 2022, bei der es um die Zukunft des PEN-Zentrums und seines umstrittenen Vorstands unter Deniz Yücel ging, wies Peuckmann darauf hin, dass die Liste seiner Werke unter seinem Wikipediaartikel viel länger sei als diejenige Yücels."

Wobei Yücels Eintrag knapp 50.000 Zeichen lang ist, der von Peuckmann dagegen auch dann nur auf knapp 8.000 Zeichen kommt, wenn man das umfangreiche Werkeverzeichnis mitzählt. Mit seiner Bemerkung bei der Tagung hat Peuckmann allerdings schon wieder 303 Zeichen gewonnen. Wir halten Sie auf dem Laufenden. 

Jana Hensel kritisiert in ihrem Beitrag, dass "Yücel und die Seinen" ihre Waffen vor der Tagung nicht geschärft hätten, "man vertraute der eigenen Prominenz". Das habe sich im Nachhinein als "ziemlich naiv erwiesen".

Nicht nur Yücel habe verloren, auch seine Unterstützer seien baden gegangen, unter anderem Daniel Kehlmann, Saša Stanišić oder Carolin Emcke. Nur Eva Menasse und der Hanser-Verleger Jo Lendle seien nach Gotha gereist, die übrigen hätten via Zoom teilgenommen. Die Gegnerschaft sei "selbstverständlich in Bataillonsstärke" gekommen. Laut Hensel war das

"einer der vielen strategischen Fehler, die am Ende dazu führten, dass man sich den Altvorderen und Besitzstandswahrern geschlagen geben musste".

Der Erfolg der rechten Sprachpolitik

Ex-Altpapier-Autor Matthias Dell hat sich für seine Kolumne im Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres" eine anderthalbstündige Doku über den kubitschekösen Schriftsteller Uwe Tellkamp angetan, die gestern Abend bei 3sat lief und jetzt in der Mediathek zu finden ist. Sein Urteil steht schon im Titel der Kolumne:

"3Sat-Doku geht Uwe Tellkamps rechter Strategie auf den Leim."

Der Film von Andreas Gräfenstein sei "getrieben von ganz viel Mitgefühl". Die im Film gestellte Frage sei: "Wie kann das denn sein, dass der Erfolgsschriftsteller 'in Ungnade gefallen ist'?" Dabei müsse die Frage eigentlich lauten: "Wie kann das denn sein, dass der Erfolgsschriftsteller keinen Widerspruch verträgt?"

Ein Widerspruch sei: "Ein Suhrkamp-Autor darf zu besten Sendezeit im Fernsehen sagen, dass er nichts sagen darf." Das hätte dem Filmemacher auffallen können, findet Dell.

"Aber dann hätte Regisseur Gräfenstein nicht seiner unreflektierten Sentimentalität folgen können, sondern sich einmal mit den diskursiven Mechanismen unserer Mediengesellschaft beschäftigen müssen."

Zum einen gebe es im Film den im Untertitel angekündigten "Streit um die Meinungsfreiheit" gar nicht. Die Aussagen stünden einfach so nebeneinander. Zum anderen – ein Punkt, der auch im Altpapier immer wieder vorkommt – schütze die Meinungsfreiheit die freie Meinung lediglich vor Zugriffen des Staates. Dell: 

"Meinungsfreiheit bedeutet nicht, dass alle nur das sagen dürfen, was Uwe Tellkamp gefällt."

Dell kritisiert die "Indienstnahme" des Wortes durch Rechte, es sei der Nachfolger der Wendung: "Das wird man ja wohl noch sagen dürfen." Es klinge nur nicht so "jammerlappig". Dass es auch ein Grundrecht gebe, "wonach kein Mensch rassistisch, wegen Glauben, Geschlecht oder Religion benachteiligt werden darf", das ließen Rechte gern unter den Tisch fallen. Die Dokumentation zeige beispielhaft, "wie wirkungsvoll rechte Sprachpolitik funktioniert".

Dann blendet Dell noch ein Zitat eines Mannes aus der Doku ein, der als Vermittler präsentiert werde:

"Die Allermeisten betreiben Politik tatsächlich als Konflikt- und als Selbstprofilierung und als Durchsetzung der eigenen Interessen."

Wenn die nächste 3sat-Doku sich klarmachen würde, so Dell, dass "das auch oder gerade für rechte Strategien gilt, es wäre viel gewonnen".

Der intellektuelle Mikrokosmos Dresden

Andreas Platthaus hatte den Film schon gestern auf der FAZ-Medienseite (€) rezensiert. Titel: "Im Tal der Vorahnungsvollen". Ihm ist vor allem aufgefallen, dass die Menschen im Film sich sehr weit voneinander entfernt haben. Platthaus:

"Alle Porträtierten mahnen an, dass man doch miteinander ins Gespräch kommen müsse. Alle halten aber auch die jeweils andere Seite für mittlerweile gesprächsunfähig. Man sieht es den wenigen Szenen an, in denen einige von ihnen realiter auf­ein­andergetroffen sind: So gut wie nie schauen sie sich dabei an."

Es gehe somit auch weniger um Meinungsfreiheit als um "den intellektuellen Mikrokosmos Dresden, dem alle sechs Protagonisten entstammen".

Gerrit Bartels schreibt für den "Tagesspiegel", es gelinge dem Film gut,

"dem Unverständnis auf die Spur zu kommen, mit dem West- und Ostdeutsche sich gegenüberstehen, dem Gefühl vieler Menschen im Osten, sich abermals in einer Diktatur zu wähnen, einer Meinungsdikatur".

Aber:

"Störend wirkt dagegen eine bisweilen etwas zu elegische Grundstimmung. Es gibt viel Pianogetupfer und Geigengedräu, und so einige der Bilder sind eine Idee zu und zu und zu schön, beispielsweise von Dresdens Elbhang und Elbwiesen."

David Hugendick hält den Film für "größtenteils sehenswert", er gehe einigen "populären Prämissen" jedoch "gelegentlich ein wenig auf den Leim" – unter anderem der des Autors "als angeblichen Gefallenen, als Exemplar eines spezifischen Dresdner Widerstandsgeists".

"Es sind oft auch Szenen voller Larmoyanz, die der Regisseur Andreas Gräfenstein einfängt, ohne Tellkamps Selbstbild, seine Stilisierung dabei korrigieren zu wollen."

Ein weitere Kritikpunkt:

"Weitgehend unbeachtet lässt der Film die Verbindungen zur neurechten Zeitschrift 'Sezession', in der Tellkamp publizierte, und der ebenfalls neurechte Antaios-Verleger Götz Kubitschek wird zwar kurz vorgestellt, aber der Film möchte dort genauso wenig hinsehen wie in Tellkamps Roman 'Der Eisvogel', den man bereits vor 15 Jahren durchaus als demokratiefeindlichen Umstürzlerkitsch lesen konnte."

Der Regisseur selbst sieht seine Rolle ganz anders die Hugendick oder Dell. Im Interview mit Jan Wiedemann für "NDR Kultur" sagt er:

"Ich glaube, dass gerade hier der Schlüssel war, dass er (Tellkamp, Anm. Altpapier) verstanden hat, dass ich möglichst vorurteilsfrei an das Thema herangehe, weil es mir darum ging, einen diskursiven Film zu machen."

Er habe Tellkamp gesagt, er wolle einen Film machen, "der offen ist und Positionen gegeneinanderstellt". Wenn allerdings die Aussage eines Autors im Raum steht, dass 95 Prozent der Geflüchteten wegen der gut funktionierenden Sozialsysteme ins Land kämen, was falsch ist, könnte man vielleicht schon eine etwas deutlichere Distanzierung, Korrektur oder was auch immer erwarten, mehr jedenfalls eine freundliche Relativierung, die um den Satz ergänzt wird: "So verstehe ich ihn." Hier das vollständige Zitat aus dem Interview:

"Er ordnet das noch mal ein und sagt, dass die 95 Prozent natürlich nicht stimmen, aber dass es ihm darum gehe, dass wir die Aufnahme von Geflüchteten differenziert betrachten sollten. So verstehe ich ihn, dass das der Kern seiner Kritik ist."

So bleibt der Eindruck zurück, die Voraussetung dafür, dass der Film möglich wurde, könnte gewesen sein, dass der Autor sich doch ein bisschen zu sehr mit Tellkamp verbrüdert hat.

Hang zum Kitsch, ohne Schlagseite

In die Richtung geht auch das, was Marcus Thielking in seiner Rezension für die Sächsische Zeitung schreibt, nämlich: Eine Stärke des Films sei, dass er Tellkamp sehr nahe komme, das Manko dagegen:

"Die Nähe zu Tellkamp ist erkauft durch mangelnde Distanz. Ohne kritisches Nachfragen oder Nachprüfen kann der Protagonist Dinge behaupten, die oft bloß seiner speziellen Sicht entsprechen."

Der Film folge überwiegend "Tellkamps Narrativ vom gedemütigten Osten als Erklärung für Demokratieverdrossenheit". Das sei, in dieser Verengung, eine provinzielle Perspektive.

Cornelius Pollmer hält den Film "trotz einiger Schwächen" für "ziemlich gelungen". In seiner Rezension für die Süddeutsche Zeitung schreibt er, die Doku sei "einerseits Autorenporträt und Milieustudie", halte aber andererseits "hinreichend Personal" bereit, "um keine Schlagseite in egal welche Richtung zu kriegen".

Ein paar Schwächen sieht Pollmer aber schon, und zwar

"einen leichten Hang zum Kitsch etwa, ohne den es in Dresden leider selten zugeht, oder auch die Darstellung der Problembuchhändlerin Susanne Dagen, die sich in einer Weise unschuldslammfromm gibt, was ihrer Gesamtpersönlichkeit eher nicht gerecht wird".

Gelungen sei er aber,

"weil er neben seiner offenen Grundhaltung allen Seiten gegenüber den Schriftsteller Uwe Tellkamp zu jenem Ort begleitet, an dem sich seine Welt entscheidet – den Schreibtisch".

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Altpapierkorb (Exiljournalismus, Verschwörungen, Preis für Assange, Netflix Maßnahmen, Exodus in Stuttgart, Chatkontrolle, Oligarchenliebe in der Schweiz)

+++ Exiljournalismus I: Sonja Zekri hat den letzten unabhängige russischsprachigen Nachrichtensender Europas in Berlin besucht und auf der SZ-Medienseite darüber geschrieben.

+++ Exiljournalismus II: Maksim Kurnikow, der frühere stellvertretende Chefredakteur des kremlkritischen Radiosenders Echo Moskwy, lebt inzwischen in Berlin und arbeitet ohne Bezahlung für die "Bild"-Medien, weil er noch keine Arbeitserlaubnis hat. Gesine Dornblüth berichtet für "@mediasres" über ihn und die Erkenntnis, dass viele die vermeintlich plumpe russische Propaganda unterschätzt haben.

+++ Wie gerät man in den Sog von Verschwörungserzählungen, und wie kommt man da wieder raus? Caroline Schmidt hat darüber einen 25-minütigen Beitrag für das NDR-Medienmagazin "Zapp" gedreht. Unter anderem geht es darin um die Entschuldigung von Xavier Naidoo (Altpapier), die der Verschwörungsexperte Josef Holnburger immer noch nicht so richtig überzeugend findet, weil Naidoo zu oft "in Teilen" oder "teilweise" sage und so tue, als sei Antisemitismus gar nicht sein Problem gewesen.

+++ Immerhin etwas: Wikileaks-Gründer Julian Assange bekommt den diesjährigen Günter-Wallraff-Preis, nachzulesen unter anderem beim Deutschlandfunk.

+++ Der "Spiegel"-Verlagsgruppe meldet ein Rekordergebnis, schreibt unter anderem Marc Bartl für den Branchendienst "kress".

+++ Netflix hat zum ersten Mal Kunden verloren und will "gegensteuern – mit drei Maßnahmen" über die Denis Giessler für die taz berichtet.

+++ Sind junge Menschen zu wenig informiert, obwohl den ganzen Tag Nachrichten auf sie einrieseln? Leonie Wunderlich vom Hans-Bredow-Institut gibt einen Überblick über die Studienlage.

+++ Die Südwestdeutsche Medienholding, die Unternehmensberatung unter den Medienverlagen, optimiert weiter seine Personalkosten. Der Abgang von 50 Redakteurinnen und Redeurinnen sei besiegelt, schreibt Josef-Otto Freudenreich für die Wochenzeitung "Kontext". Einer der Leute, die gehen werden, ist Christopher Ziedler, der Leiter des Berliner Hauptstadtbüros von Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten. Er arbeitet in Zukunft für den "Tagesspiegel".

+++ Wenn die Chatkontrolle kommt, droht auch die Alterskontrolle, berichtet Anna Biselli für netzpolitik.org (Altpapier).

+++ Eine Gesetzesänderung in der Schweiz sorgt dafür, dass kritische Berichte über Oligarchen praktisch nur noch im Ausland erscheinen können. Jürg Altwegg schreibt darüber auf der FAZ-Medienseite (75 Cent bei Blendle).

Neues Altpapier gibt es am Freitag.

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