Das Altpapier am 29. Juli 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Ralf Heimann
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Das Altpapier am 29. Juli 2022 Auf jeden Fall kein Wünsch-dir-Was

29. Juli 2022, 14:23 Uhr

Florian Hager will die Logik des linearen Programms umkehren. Friedrich Merz importiert ein "rechtes Narrativ". Und Joachim Braun fordert im Lokalen Bereitschaft zur Veränderung. Ein Altpapier von Ralf Heimann.

Umgedrehte lineare Logik

Vor zwei Wochen hat Klaus Raab im Altpapier ein paar Phrasen versteckt, und wenn etwas zwei Mal kurz hintereinander vorkommt, dann liegt im Journalismus immer der Verdacht nahe: Es könnte ein neuer Trend sein. Florian Hager, der neue Intendant des Hessischen Rundfunks, hat für das DJV-Magazin "Journalist" mit Catalina Schröder gesprochen, und er hat im Text Phrasen versteckt. Leider fehlt am Ende die Auflösung. Daher holen wir das jetzt nach.

Hager sagt zum Beispiel, "dass wir uns anders aufstellen müssen für die Zukunft". Er sagt: "Digitalisierung ist eine große Chance." Und über passende Angebote für verschiedene Zielgruppen sagt er: "Das ist eine Operation am offenen Herzen." Catalina Schröder zitiert Hager außerdem mit dem Satz, er wolle "erst mal ganz viel zuhören". In der Antwort darauf sagt er unter anderem: "Und deshalb war es mir ganz wichtig zu hören: Wo stehen die Leute?" Er sagt aber auch, das hat sich bereits herausgestellt, "die Leute brennen für ihren HR". Über den Vorwurf, der öffentlich-rechtliche Rundfunk sei zu politiknah, sagt Hager am Ende: "Ich glaube, es liegt in der Natur der Sache, dass wir da zwischen allen Stühlen sitzen." Als es um Geld geht: "Es ist auf jeden Fall kein Wünsch-Dir-was." Und, "dass wir natürlich in der ARD noch mal genauer draufschauen müssen, an welchen Stellen wir noch mehr Synergien erzeugen können".

Es ist ein sehr langes Interview, oder anders gesagt: Da wäre sicher noch mehr drin gewesen. Inhaltlich ist vor allem das interessant, was Hager über die Mediatheken sagt. Einerseits erklärt er einen Satz, der ihm nach seinem Amtsantritt im März "ein bisschen um die Ohren geflogen" ist. In einem Interview hatte er etwas gesagt, das klang wie, er sei neidisch auf Netflix. Nun stellt er klar:

"Ich habe gesagt, dass ich den Schutz der Daten als sehr wichtig erachte, es aber nicht nachvollziehen kann, warum Anbieter wie Netflix die Möglichkeit haben, mit den Daten personalisierte Angebote an die Nutzer zu machen. Ich fände es gut, wenn wir als Öffentlich-Rechtliche die Möglichkeit hätten, unseren Nutzern bessere Angebote zu machen. Da geht es um ganz banale Dinge, die es uns unmöglich machen, die so wichtige Personalisierung anzubieten. Netflix hat diese politische Diskussion nicht und kann technologisch ganz befreit rangehen. Da wurde mir unterstellt, dass ich unbedingt wie Netflix sein will. Das ist ja nicht der Fall."

Hager stellt sich unter anderem ein "mandatory login" vor, wie ihn die BBC hat – also die Möglichkeit, sich anzumelden, um personalisierte Angebote zu erhalten.

Die Frage nach den Mediatheken hängt eng mit einer anderen Frage zusammen, die Hager im Text selbst stellt. Sie lautet:

"Wie schaffen wir es, sowohl linear relevant zu bleiben als auch non-linear diversere, spitzere und neue Zielgruppen zu erreichen?"

Seine Antwort:

"Da drehen wir also die Logik um, entwickeln Projekte für die Mediathek und verwerten diese dann im linearen Fernsehen. Diese Strategie ist schon etabliert und erfolgreich. Wir können sehen, dass es keine negative Auswirkung auf die linearen Reichweiten hat und dass wir schon erste Erfolge in der Mediathek aufweisen. Das Gleiche steht jetzt im Bereich Audio kurz bevor: Wir wollen bei Beibehaltung der Relevanz des linearen Radios neue Angebote für das Digitale machen."

Es ist also sozusagen eine Win-Win-Strategie.

Herüberschwappende rechte Narrative

In der Ukraine herrscht Krieg, die Inflation steigt ganz bedrohlich, eine Wirtschaftskrise ist nicht mehr so unwahrscheinlich. CDU-Chef Friedrich Merz hat jetzt aber noch ein anderes gewichtiges Problem entdeckt, über das er im Interview mit Anna Schneider (€) für die "Welt" spricht. Auf die Frage, ob der "oft beschworene 'Kampf gegen rechts'" nicht auch ein Kampf gegen die Meinungsfreiheit sei, sagt er:

"Die größte Bedrohung für die Meinungsfreiheit ist aus meiner Sicht inzwischen die Zensurkultur, die man im angelsächsischen Sprachgebrauch auch 'Cancel Culture' nennt. Ich sehe mit größter Besorgnis, was an den Universitäten in den USA passiert. Ein jüngstes Beispiel dafür ist der Vortrag einer Biologin an der Humboldt-Universität in Berlin, der nach Drohungen einiger Studenten von der Universität zunächst abgesagt, später aber dann unter Sicherheitsvorkehrungen doch nachgeholt worden war. Das ist das Gegenteil von Wissenschaftsfreiheit und legt die Axt an eine der wichtigsten Errungenschaften einer aufgeklärten Gesellschaft."

Die Journalistin und Konfliktforscherin Annika Brockschmidt sagt dazu kopfschüttelnd im Deutschlandfunk-Kultur-Interview:

"Ich glaub, es ist wichtig, als Kontext erst mal zu haben: Das ist ein ganz klassisches Kulturkampf-Narrativ, das vor allem in der religiösen politischen Rechten begonnen hat, das letztlich als Totschlagargument gilt, wenn Menschen dieses Spektrums mit Rassismus, Transfeindlichkeit, Sexismus und so weiter konfrontiert werden. Und dazu nimmt man dann einzelne Anekdoten, bauscht sie abwenden von jeder Empirie auf und erwähnt also nicht, dass es sich hier um Einzelfälle handelt und erzeugt so das Schreckgespenst eines linken Zensurregimes und lässt eben so jegliche Kritik an sich abbprallen. Das ist natürlich auch im politischen Diskurs erst mal praktisch."

Verharmlost Friedrich Merz damit also die Gefahr von rechts? Annika Brockschmidt:

"Absolut. Ich würde sagen, das ist eine ganz klare Bedienung dieses rechten Narrativs."

Anna Schneider, die das Merz-Interview geführt hat, verlinkt bei Twitter auch einen Hinweis von Annika Brockschmidt auf ihr Interview, der allerdings wohl kein Gefallen ist. Sie schreibt:

"Intellektuell eigentlich eher wenig satisfaktionsfähig, wer in 'rechten Narrativen' das Böse sieht, aber linke Cancel Culture in Anführungszeichen setzt."

Gegenfrage: Was ist es dann, wenn jemand es umgekehrt macht?

Veränderungsaversion im Lokalen

Zum Schluss noch kurz zu einer Replik auf einen Text, um den es Mitte April im Altpapier bereits ging. Joachim Braun, Chefredakteur der Ostfriesen-Zeitung antwortet im DJV-Magazin "Journalist" auf einen Essay von Sebastian Dalkowski, in dem er die Arbeitsbedingungen im Lokaljournalismus beklagt hatte.

Dalkowski hatte geschrieben:

"Redaktionen haben in den vergangenen Jahren viel Zeit darauf verwandt, Leser:innen zufriedenzustellen. Wie sie Journalist:innen zufriedenstellen, haben sie nie gelernt. Die sollen bitte einfach mitmachen, was sich die Unternehmenslenker wieder so ausgedacht haben."

Das zitiert Braun in seinem Text, der leider noch nicht online ist. Er selbst ist anderer Meinung. Guter Journalismus (und das soll wahrscheinlich auch implizieren: Arbeit, die Menschen zufriedenstellt) sei nur dort möglich, wo Menschen bereit seien, Verhaltensmuster zu überdenken, unter Umständen zu brechen, wo Menschen auch neue Möglichkeiten nutzen und bereit sind, veränderten Anforderungen gerecht zu werden. Braun schreibt:

"Solange sich so viele Journalistinnen und Journalisten in den Redaktionen nicht tatsächlich und von Herzen den veränderten Bedingungen des Medienmarkts stellen, solange wird die Situation für uns alle schwierig bleiben."

Das ist tatsächlich einerseits ein berechtigter Einwand, denn Veränderungen sind in Lokalredaktionen ein schwieriges Thema, wie auch überall sonst, wo Menschen arbeiten. Damit umzugehen, liegt aber auch in der Verantwortung der Unternehmen, die ihrem Personal seit vielen Jahren durch ihr Handeln vermittelt haben: Veränderung bedeutet so gut wie immer, es wird noch etwas schlimmer.

Ein alter Kollege aus einer Lokalredaktion, der heute als Pressesprecher in einem mittelständischen Unternehmen arbeitet, erzählte einmal, wie sich in ihm alles zusammenzog, als er in seinem neuen Job in seinem Posteingang eine Einladung zu einer Betriebsversammlung fand. Im Lokalen weiß man: Meistens wird in so einem Fall irgendetwas geschlossen, gestrichen, zusammengekürzt, oder es gibt aus irgendeinem anderen Grund mehr Arbeit. In Falle des alten Kollegen teilte der Chef morgens lediglich mit, es laufe wirtschaftlich sehr gut zurzeit, alle Beschäftigten bekämen zusätzlich zum Gehalt einen weiteren Bonus.

Wer gelernt hat, dass Veränderung immer etwas Schlechtes bedeutet, möchte keine Veränderung. Für dieses verbreitete Grundgefühl sind die Verlage mitverantwortlich. Wenn es wirtschaftlich schwieriger wurde, haben sie zuallererst in den Redaktion für weniger Personal, weniger Zeit und mehr Fließband-Journalismus gesorgt. Das hat den Beruf verändert.

Hinzu kommt: In Lokalredaktionen gibt es wenige Aufstiegschancen, auch sonst hat sich früher oft jahrelang nichts verbessert, weil die Leute ihre Zeitungsseiten füllen sollten, aber wenige Möglichkeiten bestanden, sich innerhalb des Berufs weiterzuentwickeln. Auch das führt zu einer Veränderungsaversion. Das ist nicht überall so, es verändert sich langsam, aber es ist immer noch ein weit verbreitetes Problem.

Und Braun weist auf ein Problem hin, das damit direkt zusammenhängt:

"Je größer eine Redaktion, umso schwieriger ist gerade das Vertrauensthema. Wie will eine Redakteurin, ein Redakteur Vertrauen zu einer Chefredaktion aufbauen, zu der sie oder er so gut wie nie Kontakt hat? Chefredakteure von Regionalzeitungen, denen es wichtiger ist, mit Ministerpräsidenten zum Essen zu gehen oder mit dem Industrie-Boss ein Interview zu führen, als an der Spitze des Change-Prozesses zu stehen und sich gegebenenfalls mit jeder einzelnen Kollegin, jedem Kollegen persönlich auseinanderzusetzen, brauchen entweder gute, entscheidungsbefugte Stellvertreter – oder sie sollten sich überlegen, ob sie im Regionalen wirklich gut aufgehoben sind."

Und dazu hören wir noch einmal Florian Hager, der im selben Magazin ein paar Seiten vorher sagt:

"Ich habe gemerkt, dass Führung zu 99 Prozent Personalarbeit ist."


Altpapierkorb (Fußball-Europameisterschaft, Nowaja Gaseta, The Atlantic, Corint Media)

+++ Knapp 13 Millionen Menschen haben am Mittwochabend das Halbfinale der Fußball-Europameisterschaft gesehen. Mirjam Kid hat im Kollegengespräch für das Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres" darüber gesprochen, wie es um die Berichterstattung über den Frauen-Fußball und Frauen-Sport generell steht.

+++ In einem Kommentar auf der FAZ-Medienseite (€) schreibt Johanna Dürrholz zum gleichen Thema: "Die EM jetzt zeigt in all ihrem Glanz, was passiert, wenn Frauensport ge­fördert wird, wenn junge Mädchen Vorbilder im Sport haben, wenn es nicht darum geht, welche Frisur eine Sportlerin trägt, sondern mit welcher Prä­zision sie zum Tor geht. Nun denkt der Sender Sky sogar darüber nach, auch die Bundesligaspiele der Frauen zu zeigen. Das, man kann es nicht anders sagen, wurde auch Zeit. Als Nächstes reden wir dann über die Bezahlung."

+++ Frank Nienhuysen hat für die Süddeutsche Zeitung (€) die Exil-Redaktion der kremlkritischen Zeitung "Nowaja Gaseta" besucht, die in Riga an einer geheimen Adresse gleichzeitig weitermachen und neu anfangen möchte. Nienhuysen: "Lettland sieht in den exilierten Medien eine Chance, der russischsprachigen Bevölkerung guten Journalismus zu bieten. Die russischen Staatsmedien hat das Land verboten, aber deren Propaganda dürfte noch nachwirken. Auch deshalb hat Lettland der Nowaja Gaseta eine neue Chance angeboten. Nicht nur ihr. Der unabhängige russische Fernsehsender Doschd hat jetzt ebenfalls von Riga aus über einen Youtube-Kanal einen Relaunch gestartet. Auch das aus Moskau gedrängte Büro der Deutschen Welle ist in Riga, der russische BBC-Dienst und die beliebte russische Medienplattform Meduza. Lettland ist ein neues Zentrum russischsprachiger Redaktionen."

+++ Das Magazin "The Atlantic" wird 165 Jahre alt. Brigitte Baetz blickt in einem Beitrag für "@mediasres" zurück auf die Geschichte der Zeitschrift.

+++ Die Verwertungsgesellschaft "Corint Media" hat sich mit einer Suchmaschine über Vergütungen für Inhalte geeinigt, allerdings nicht mit Google, sondern mit dem Berliner Dienst Ecosia, berichtet unter anderem Michael Hanfeld auf der FAZ-Medienseite (€). Die Firma will "bis zu elf Prozent" des Umsatzes abgeben. Zum Vergleich: Google bietet Corint 3,2 Millionen Euro, also ungefähr 420 Millionen Euro weniger als die von der Verwertungsgesellchaft geforderten 420 Millionen Euro – oder: 0,000000000013 Prozent vom Umsatz.

Neues Altpapier gibt es am Montag. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.

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