Das Altpapier am 3. August 2022: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier am 3. August 2022 Wenn Pluralismus falsch verstanden wird

03. August 2022, 10:44 Uhr

Wie die Berliner Polizei von Querdenkern bedrohte RBB-Berichterstatter schützt. Wie Faktenverweigerer versuchen, Tatsachen zu Meinungen anderer Menschen umzudeuten. Warum die sozialen Netzwerke auch nicht mehr sind, was sie mal waren. Ein Altpapier von René Martens.

Reichsbürger gegen RBB

Am Montag mussten sich verschiedene Redaktionen in Berlin mal wieder aus relativer Nähe Beleidigungen von Demonstrierenden aus dem Querdenker-Milieu anhören.

"Die Szene selbst titulierte ihren Aufzug als 'Medienmarsch', er führte an mehreren Medienhäusern vorbei, darunter ARD, ZDF, Springer, taz und Tagesspiegel",

schrieb letztere Zeitung dazu.

Was Teams widerfuhr, die direkt von der Demonstration berichteten, ist unter anderem hier zu sehen. Am ausführlichsten geht Olaf Sundermeyer für den RBB darauf ein. "Wir wurden von einer kompletten Polizeikette eskortiert", sonst hätte man überhaupt keine Bilder von der Demo liefern können, sagte er in der "Abendschau".

In dem ergänzenden Text zum "Abendschau"-Beitrag heißt es dazu erläuternd:

"Die wenigen Polizisten im Einsatz halten einen Mob auf Distanz, der sich um unser Team bildet. Unter den Wütenden sind auch Reichsbürger, die vom Rande einer ähnlichen, wenn auch zahlenmäßig viel größeren, Demonstration vor zwei Jahren die Stufen des Reichstags besetzt hatten."

Sundermeyers Text greift heute wiederum die FAZ (€) auf - die darin auch auf eine Pressemitteilung des DJV eingeht, der Schutzkonzepte für Journalisten für den "von Impfgegnern und Querdenkern angekündigten heißen Herbst" fordert.

Die krude Machttechnik der Faktenverweigerer

Als Mitte Juni in der "Zeit" ein Ijoma-Mangold-Porträt der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot erschien, bemerkte Klaus Raab an dieser Stelle:

"Wenn (Mangold) am Ende schreibt: 'Vielleicht muss Ulrike Guérot das Verhältnis zwischen Meinungsstärke und Sorgfalt künftig etwas feiner balancieren' – dann stolpere ich schon etwas über das Wörtchen 'etwas'."

Gestolpert ist da möglicherweise auch der Trierer Politikwissenschaftler Markus Linden, der nun in einem bei Zeit Online veröffentlichten "Gastbeitrag" unter anderem seine Irritation über den allzu moderaten Tonfall des Mangold-Textes zum Ausdruck bringt. Darüber hinaus geht es um das Bashing, das Linden auf sich zog, nachdem er in der FAS zweimal beschrieben hatte, wie Guérot in ihren Büchern plagiiert. Linden dazu:

"Indes verkennt der Vorwurf der persönlichen Kampagne, dass es um ein Phänomen geht. Mir geht es in diesem Kontext nicht nur um das Aufzeigen des methodisch erscheinenden Plagiierens, sondern vor allem um etwas weit über einzelne Personen Hinausweisendes: um die Bedeutung von 'Tatsachenwahrheiten' für die Aufrechterhaltung einer demokratischen Öffentlichkeit, so wie sie insbesondere Hannah Arendt beschrieben hat. Deshalb habe ich in früheren Texten neben Stellen in Büchern Guérots, die sie bei anderen Autoren abgeschrieben hat, auch Unwahrheiten aufgelistet, die Guérot immer wieder rhetorisch einstreut. Analog zu den Gepflogenheiten von Vertretern der Querdenker- und Querfrontlerszene versucht Guérot, Tatsachen zu Meinungen anderer Menschen umzudeuten, um im nächsten Atemzug ihre eigenen persönlichen Meinungen als 'alternative Fakten' zu präsentieren."

In dem Kontext geht es auch um das Thema False Balance (auch wenn das Schlagwort in Lindens Text nicht vorkommt):

"(Die) von Arendt lange vor der heutigen Popularisierung des Begriffs des 'Postfaktischen’ meisterhaft beschriebene Methode des Anything Goes gedeiht dort am besten, wo Pluralismus falsch verstanden wird: Wenn im Namen der vermeintlichen Verteidigung der Meinungsfreiheit zugelassen wird, dass selbst in seriösen Foren der öffentlichen Meinungsbildung auch solche Debattenbeiträge verbreitet werden, deren Inhalt es an faktischen Grundlagen mangelt. Hinter der Ausnutzung dieses Verständnisses von Pluralismus offenbart sich jedoch mitunter eine krude Machttechnik. Die tritt dann am deutlichsten zutage, wenn das Offensichtliche – ob es die Gefährlichkeit einer Infektionskrankheit ist oder die Eroberungs- und Vernichtungsabsicht eines despotischen Regimes – mit Verweis auf den Wert von Diskurs und Debatte bestritten wird. Als konstituiere erst die Anwesenheit einer möglichst diametral zur allgemein anerkannten Faktenlage liegenden Meinung einen wahrhaft offenen Diskurs; als sei Streit nicht auch oft nur ein dramaturgisches Mittel der Inszenierung, um etwa eine Talkshow interessant erscheinen zu lassen. Und wird eine Meinung nicht berücksichtigt, wird gleich von Cancel-Culture gesprochen."

Das Ende der sozialen Netzwerke?

Die mehr oder weniger lustigen Reels, die man bei Instagram (und auch bei Facebook) seit einiger Zeit in den Feed gespült bekommt, mindern die Nutzungsqualität dieser Plattformen doch erheblich. Unter anderem darauf, dass Beiträge "von Leuten, denen man nicht folgt", bei Instagram "künftig eine noch größere Rolle spielen" werden, geht Philipp Bovermann im SZ-Feuilleton (€) ein. Allgemeiner gesagt, geht es darum, dass zumindest die sozialen Netzwerke des Meta-Konzerns bald nicht mehr das sein werden, was sie mal waren. Instagram, so Bovermann, orientiere sich nun an Tiktok, das dem "Mutterkonzern Meta allmählich gefährlich wird":

"Die Algorithmen suchen dort auch außerhalb des sozialen Geflechts aus Konten, denen man folgt, nach passenden neuen Inhalten (…) Anstatt Menschen zu Netzwerken bündelt Tiktok globale Ideenströme zu Memes. Nach dieser Logik könnte Instagram künftig ebenfalls verstärkt funktionieren. Und auch Facebook soll, in Mark Zuckerbergs Worten, zu einer 'Entdeckungsmaschine' werden. Der Konzern möchte möglichst schnell raus aus dem Zeitalter der sozialen Netzwerke, das er selbst eingeleitet hat."

Bovermann zitiert dann noch Ryan Broderick, "einen der klügsten Kritiker der Netzkultur", mit folgenden Worten:

"Die Frauen, die auf Facebook aus ihren Toiletten essen, tun das nicht, weil sie das mögen. Sie tun das, weil Facebooks krankhaft aggressive Empfehlungsmaschine ihre Inhalte zu lächerlichen Extremen getrieben hat, weil sie ständig ihre eigenen Nutzer überoptimiert."

Um dieses Video geht’s in Brodericks Äußerung übrigens. Einen Eindruck davon, welche Rolle man bei Facebook künftig noch klassischen Medieninhalten beimessen wird, zeigt eine bei axios.com in der vergangenen Woche wiedergegebene Aussage zum Abschied des Unternehmens von seiner (grundsätzlich nicht unproblematischen) "Medienförderung":

"'A lot has changed since we signed deals three years ago to test bringing additional news links to Facebook News in the U.S. Most people do not come to Facebook for news, and as a business it doesn't make sense to over-invest in areas that don't align with user preferences’, a Facebook spokesperson told Axios."

Werbung für fossile Brennstoffe verbieten!

In einem Meinungsbeitrag für den "Guardian" erinnert die Schauspielerin und Aktivistin Emma Thompson an eine von Greenpeace und anderen Organisationen im vergangenen Herbst auf den Weg gebrachten Petition, die unter anderem die Forderung zum Inhalt hat, auf dem Gebiet der EU die "Werbung von Unternehmen, die auf dem Markt für fossile Brennstoffe, insbesondere im Zusammenhang mit Gewinnung, Raffination, Lieferung, Vertrieb oder Verkauf fossiler Brennstoffe tätig sind", zu verbieten.

Da diese Werbung der Verbreitung von Greenwashing und anderen falschen und irreführenden Informationen dient, ist ein Hinweis auf die Verbotsforderung natürlich immer aktuell. Ein weiterer Anlass: die Frist für Unterschriften läuft im kommenden Oktober ab. Thompson meint:

"Zu Beginn dieses Jahrhunderts verbot die EU Tabakwerbung und -sponsoring, nachdem man erkannt hatte, dass sie den Konsum steigern und Gesundheitswarnungen verbergen. Jetzt, angesichts der überwältigenden wissenschaftlichen Beweise zum Klimawandel und seiner unbestreitbaren Verbindung zu Unternehmen für fossile Brennstoffe, ist es an der Zeit, die Propaganda für fossile Brennstoffe zu verbieten, da sie tödlich und kriminell ist und uns unaufhaltsam in Richtung Klimakatastrophe treibt."

Die Wiederbelebung einer unbeliebten Idee

Im höherklassigen Männerfußball sind sogenannte Montagsspiele, die zur Prime Time live übertragen werden, aus der Mode gekommen, auch dank der Proteste von Anhängern gegen die für sie unvorteilhaften Anstoßzeiten. In der 3. Liga gibt es sie in dieser Saison, in der folgenden aber nicht mehr. Für den Frauenfußball stehen sie aber nun neu auf der Agenda. Martin Schneider kommentiert im SZ-Sportteil:

"Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hat nur einen Tag nach dem EM-Finale von London die Ausschreibung der Medienrechte für die von ihm organisierte Bundesliga der Frauen für die Jahre 2023 bis 2027 gestartet. Der Zeitpunkt ist natürlich gut, denn nun kann man bei jedem Interessenten mit der Zahl 18 Millionen hausieren gehen. So viele Zuschauer sahen im Schnitt in der ARD die Endspiel-Übertragung. Damit lässt sich arbeiten, Potenzial aufzeigen - und im besten Fall der Preis hochtreiben. Das sollen auch die Montagsspiele tun, die in der Bundesliga bislang nicht stattfinden, nun aber möglich sein sollen. Die Argumente für den Termin sind offensichtlich: Es ist der einzige weitgehend Männerfußball-freie Tag der Woche, eine Ausstrahlung zur sogenannten besten Sendezeit möglich."

Die Idee, so Schneider, werfe aber Probleme auf, wenn auch ganz andere als beim Männerfußball. Nur wenige Spielerinnen - und das werden manche der 18 Millionen Frauen und Männer, die am Sonntag das Endspiel gesehen haben, möglicherweise nicht wissen - können vom Fußball leben. An einem Montag frei zu machen, um abends durch die Republik reisen und einem suboptimal bezahlten Nebenjob nachgehen zu können (und damit sich ein Medienunternehmen über Fußball in der Prime Time freuen kann), ist jedenfalls nicht zwingend eine tolle Perspektive.


Altpapierkorb (Abgeordnetenhaus-Ausschusssitzung wegen RBB-Affäre gefordert, französisches Parlamentsoberhaus für Abschaffung des Rundfunkbeitrags, Malerei auf Instagram, Bündnis gegen Sportwetten-Werbung (BgSwW)

+++ Dass "die Linke (…) in Berlin als erste Fraktion eine Sitzung des Abgeordnetenhauses zu den Vorwürfen rund um den RBB fordert", und zwar in Gestalt ihres für Medien zuständigen Abgeordneten Alexander King - das thematisiert der "Tagesspiegel". "Der nächste Ausschuss für Engagement, Bundesangelegenheiten und Medien des Berliner Abgeordnetenhauses muss sich gleich nach der Sommerpause damit beschäftigen", lautet Kings konkrete Forderung. "Gleich nach der Sommerpause" ist aber noch ein bisschen hin, denn diese dauert noch bis zum 28. August. Zu den verschiedenen Unteraffären der RBB-Affäre siehe in dieser Woche etwa das Altpapier von gestern und einen "Übermedien"-Kommentar von vorgestern.

+++ In der Nacht von Montag auf Dienstag hat der französische Senat, also das Oberhaus des dortigen Parlaments, dafür gestimmt, die Öffentlich-Rechtlichen nicht mehr durch den Rundfunkbeitrag, sondern aus dem Staatshaushalt zu finanzieren. Darauf geht die "Süddeutsche" online ein. "Kritikerinnen und Kritiker" sähen in dem Vorhaben der Regierung Macron (das schon in vielen Altpapieren Thema war) "ein Zugeständnis an die politische Rechte und eine Gefahr für die Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks", schreibt Kathrin Müller-Lancé. Für den Hintergrund empfehlenswert: dieser tagesschau.de-Beitrag aus dem Juni.

+++ Instagram war heute schon weiter oben Thema. "Welche Künstlerinnen" dort "heute welche Kunst wie präsentieren", ist Thema einer "10 nach 8"-Kolumne von Annekathrin Kohout bei Zeit Online:. "Es gibt Medien, die es auf Instagram leichter haben als andere. Künstlerische Fotografie muss sich zum Beispiel in dem ohnehin fotografielastigen Medium viel stärker behaupten als Malerei, die im endlosen Feed direkt als Kunst heraussticht. Malerei, gerade wenn sie besonders üppig oder gestisch aufgetragen wurde, hatte es anfänglich schwer in den digitalen Medien. Größe, Haptik und die damit verbundenen Sinneseindrücke gingen verloren, die Bilder wirkten flach. Doch still und heimlich hat sich die Malerei mittlerweile neben der digitalen Kunst und NFTs zur Social-Media-Königin unter den künstlerischen Medien gemausert."

+++ Um noch einmal auf die oben heute in verschiedenen Abschnitten angerissenen Themen Fernsehfußball und Werbeverbotsforderung zurückzukommen: Am kommenden Wochenende geht die 1. Fußball-Bundesliga in die Saison 22/23, und das hat das Bündnis gegen Sportwetten-Werbung (BgSwW) zum Anlass genommen, an die Öffentlichkeit zu gehen. Das Bündnis, das "auf Initiative von Fan-Organisationen im Fußball (…) Institutionen und Einzelpersonen die zur Thematik Sportwetten (und Glücksspiel allgemein) in der Präventionsarbeit, Forschung, Sucht- und Selbsthilfe (miteinander verbindet)", hat sich unter anderem auch formiert "für alle, die Fußball genießen möchten und sich nicht fühlen wollen wie in einer Dauerwerbesendung".

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.

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