Das Altpapier am 24. August 2022: Porträt des Altpapier-Autorin Annika Schneider
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Das Altpapier am 24. August 2022 Viel Lärm um kein "Partygate"

24. August 2022, 10:44 Uhr

Bei Moralfragen können alle mitreden – weswegen ein eigentlich banales Video weiterhin Schlagzeilen macht. Für die Interims-Intendanz im RBB kursieren erste Namen. Ein Altpapier von Annika Schneider.

Sechs Monate Angriffskrieg

Heute vor sechs Monaten begann Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Nach den eisernen Gesetzen des (Halb-)Jahrestagsjournalismus bekommt das Thema heute wieder mehr Platz und Aufmerksamkeit – unter anderem senden die ARD-"Tagesthemen" am Abend live aus Kiew (NDR-Pressemitteilung).

Zuletzt war der Ukraine-Krieg deutlich in den Hintergrund getreten angesichts der Energiekrise, Entlastungsdiskussionen und einer Pseudo-Corona-Debatte über Masken im Regierungsflieger. Das liegt nicht an den Redaktionen, Korrespondentinnen und Korrespondenten, die weiterhin mutig und hervorragend berichten, sondern eher am Publikum, bei dem sich die Alarm-Stimmung der ersten Wochen – die mit einem riesigen Medieninteresse einherging – abgenutzt hat.

Tanzende "junge" Frauen gehen immer

Wie schön, wenn man stattdessen über das Video einer tanzenden Frau debattieren kann (das Attribut "jung" spare ich mir bei einer 36-Jährigen jetzt mal). Bis "geleakt" wurde, dass die finnische Regierungschefin Sanna Marin an einem Abend mit Freundinnen und Freunden fröhlich gefeiert hat, war mir überhaupt nicht klar, dass ausgelassenes Tanzen eine moralische Verfehlung darstellen kann. "Viel Lärm um nichts", ist dann auch im "Tagesspiegel" über die Debatte zu lesen.

Zwei Ebenen lassen sich hier trennen, die politische und die mediale. Eine innenpolitische Diskussion findet derzeit in Finnland selbst statt, wo es darum geht, ob Marin ihr Land in ein schlechtes Licht gerückt und/oder die nationale Sicherheit gefährdet hat, weil sie in der besagten Nacht zwar erreichbar, aber wegen Alkoholkonsums möglicherweise nicht regierungsfähig war. Dass dahinter weniger ernsthafte Sorgen als strategische Interessen der Opposition stecken, scheint naheliegend.

"An Präsident Niinistö wurde die Frage gerichtet, ob er meine, dass die nationale Sicherheit in der fraglichen Nacht kompromittiert gewesen sei. Seine Antwort: 'Ich denke nicht, dass in dieser Nacht etwas Besonderes passiert ist.'"

ist bei "Spiegel online" zu lesen. Und im "Tagesspiegel" schreibt Minna Ålander über Sanna Marin:

"Die häufigen, kleinen Skandale um sie sind Zeichen eines gesellschaftlichen Prozesses, in dem die Grenzen ihrer Rolle neu definiert werden: Wer und wie darf eine Premierministerin sein?"

Aus Altpapier-Sicht interessanter ist der Blick auf die mediale Dynamik hinter dem Ganzen. Denn die innenpolitische finnische Debatte spielt hierzulande kaum eine Rolle, wohl aber die Tatsache, dass sich ein solches Party-Video extrem gut klickt. Und so werden Medien – mal wieder – zu Handlangern einer politischen Kampagne.

Moral-Debatten brauchen kein Fachwissen

Das beginnt bei der finnischen Boulevard-Zeitung "Iltalehti", die den Clip überhaupt erst in die Öffentlichkeit gebracht hat und endet mit den vielen deutschen Medien, die seit Tagen darauf herumreiten. Sogar das Schlagwort "Partygate" ist aufgetaucht, obwohl die Sache in keiner Weise mit Boris Johnsons illegalen Partys zu Corona-Zeiten vergleichbar ist. Inzwischen geht es auch um ein weiteres Foto anderen Datums, das zwar nicht Marin selbst zeigen soll, wohl aber "zwei Gäste in einer anzüglichen Pose" (Einzelheiten wiederum bei "Spiegel online").

"Moral wird als Waffe im Statuskampf verwendet. Sanna Marin steht in verschiedenen Statuskategorien sehr weit oben: Sie macht erfolgreiche Politik, ist jung, gebildet und attraktiv. Da bleibt dem politischen Gegner – in diesem Fall konservativen oder rechten Kreisen – nicht viel anderes, als sie wenigstens in moralischen Fragen als fragwürdig darzustellen. Und diese Angriffe funktionieren in unserer Welt der sozialen Medien extrem gut. Bei Fragen der Alltagsmoral kann jeder mitreden, man braucht – anders, als wenn es um inhaltliche Debatten über Steuern oder Energiepolitik geht – kein Fachwissen."

So bringt es der Philosoph Philipp Hübl im "Spiegel"-Interview (€) auf den Punkt. Ihm zufolge gibt es gar keine moralische Verfehlung, der angeblich entstandene Schaden sei konstruiert.

"Wir ersetzen komplexe Fragen gern durch einfache, etwa bei der Beurteilung von Politikern",

sagt Hübl noch – eine Beobachtung, die wohl auch für so manche Medienberichterstattung gilt. Wenn die Person, um die es geht, dann auch noch sehr fotogen ist, sind die Klickzahlen quasi geschenkt. Noch einmal der "Tagesspiegel":

"Das jüngste 'Partygate' ist nicht das erste Mal, dass Marin auch außerhalb Finnlands Schlagzeilen macht. Nicht jedes Regierungsoberhaupt schafft es auf die Titelseite des "Time Magazine". Und normalerweise wird über den Urlaub einer finnischen Premierministerin nicht in italienischen Leitmedien berichtet. Marin hat Finnland auf eine ungewöhnliche Weise auf die Weltkarte gesetzt."

Das wiederum zeigt, dass Marin diese Mediendynamiken für sich sehr gut zu nutzen weiß – und von der ganzen Aufregung womöglich sogar profitiert. Gunnar Herrmann spekuliert in der "SZ", dass die Premierministerin als Gewinnerin aus der Debatte herausgehen könnte.

Fassen wir zusammen: Für die Medien waren das Video und die Diskussion darüber eine gute Gelegenheit mit minimaler Recherche viel reichweitenstarken Content vom Meinungsstück bis zur Stilkritik zu generieren. Eine schöne Ergänzung war die aus der Luft gegriffene Vermutung, Marin habe unter Drogen gestanden (klar, sonst könnte sie ja gar nicht so viel Spaß haben!), die inzwischen mit einem Drogentest widerlegt ist. Haben wir nicht doch wichtigere Themen (siehe Beginn dieses Altpapiers)? Oder macht es uns allen einfach zu viel Spaß, das Video zu teilen, die vielen Textchen zu lesen und fleißig zu kommentieren, wie "schlimm" die Verfehlung jetzt wirklich war?

Sender sucht Führungskraft

Weniger vergnügungssteuerpflichtig ist die Debatte um den RBB, die auch heute wieder neue Meldungen produziert. Nachdem die Intendantin, Patricia Schlesinger, abgesetzt wurde und ihr Vertreter, Hagen Brandstäter, sich krankgemeldet hat, kommentiert Claudia Tieschky heute in der "SZ":

"Die Führung des RBB ist weder handlungsfähig noch glaubwürdig noch im entferntesten in der Lage, den Sender zu stabilisieren. Der RBB ist pleite. Nicht finanziell – aber er ist moralisch insolvent."

Sie fordert eine Art Insolvenzverwalter, der im Sender aufräumt:

"Im besten Fall ist das jemand, der nicht aus dem Journalismus, nicht einmal aus dem öffentlich-rechtlichen System kommt. (…)  Nur ein kalter Blick von außen führt jetzt zu richtigen Entscheidungen und zu dem, was abhanden kam: Glaubwürdigkeit."

Morgen tagt der Rundfunkrat zu der Frage, wer diese Rolle übernehmen könnte. Erste Spekulationen sind in der Welt. Allerdings deutet das, was Joachim Huber und Kurt Sagatz im "Tagesspiegel" schreiben, in eine ganz andere Richtung als Tieschkys Forderungen: Die vier Herren, deren Namen dort erwähnt werden, sind und waren allesamt der ARD eng verbunden: der ehemalige "Kontraste"-Leiter Roland Jahn, die Ex-Intendanten Peter Boudgoust und Ulrich Wilhelm sowie der ehemalige ARD-Hauptstadtstudio-Leiter Ulrich Deppendorf.

Dass den Job genauso gut das Sandmännchen übernehmen könnte, ist hingegen in der "taz" zu lesen, die ihrerseits fünf (nicht ernst gemeinte) Kandidatinnen und Kandidaten ins Rennen schickt, darunter auch Eva Herman und Kurt Krömer. Humoristisches haben wir rund um den RBB ja zuletzt nicht so viel zu sehen bekommen.


Altpapierkorb

+++ "Korrupte Verschwender", "politisch einseitig" und "Propagandisten": So sieht Ex-Bild-Chef Julian Reichelt die öffentlich-rechtlichen Sender (in diesem Video mit über 300.000 Aufrufen). Deswegen dürfte ihm auch nicht gefallen, dass der "Faktenfinder" der "Tagesschau" seinen neuen Youtube-Kanal sehr lesenswert analysiert hat. Wer sich durch Reichelts Videos klickt, findet Populismus in Reinform. Passend dazu empfehle ich das aktuelle Dossier "Populismus und Medien" gleich hier nebenan beim Altpapier-Host MDR MEDIEN360G. +++

+++ Auch Reichelts ehemaliger Arbeitgeber "Bild" (€) widmet sich heute mal wieder prominent den Öffentlich-Rechtlichen: Die Titel-Schlagzeile lautet "ARD-Manager zockte Promis ab". Es geht um seit Jahren bekannte Vorwürfe gegen den ehemaligen MDR-Unterhaltungschef Udo Foht, der sich ab September wegen des Verdachts auf Betrug, Untreue, Bestechlichkeit und Steuerhinterziehung vor Gericht verantworten muss. Mehr dazu bei "t-online". +++

+++ Noch einmal Kritik an den öffentlich-rechtlichen Sendern: Dass Praktika in manchen Anstalten inzwischen besser bezahlt werden, aber noch lange nicht gut genug (beim RBB zum Beispiel gar nicht), zeigt eine Datenrecherche von "Katapult". +++

+++ Eine Datenrecherche zur Schnittmenge Rundfunk/junge Menschen hat auch die "taz" angestellt: Sie fragt, wie die Sparprogramme der Sender das Programm für jüngere Zielgruppen betreffen. Fazit: "Der ÖRR scheint zwar eine klare Linie zu verfolgen: Kürzungen sollen auf keinen Fall das junge Programm beeinflussen. […] Offen bleibt die Frage, ob die Sender verstanden haben, dass ein gutes Jugendprogramm von jungen Mit­ar­bei­te­r*in­nen lebt – und die muss man einstellen." +++

+++ Die aktuell "meist gegoogelte Person der Welt" ist Andrew Tate – ein Ex-Kickboxer und Frauenhasser, der mit seinen menschenfeindlichen Aussagen Millionen Follower hinter sich geschart hat. Eine Kostprobe: Frauen seien dazu da, von Männern benutzt und ausgenutzt zu werden. Nun ziehen die großen Plattformen nach und nach die Reißleine und sperren seine Kanäle. Worauf Tates Erfolg basiert, ist ausführlich beim "RND" zu lesen – wo Matthias Schwarzer allerdings auch zu dem Schluss kommt, dass Tate der erste Influencer ist, der eigentlich gar keine eigenen Plattformen braucht, weil seine Fans seine Inhalte verbreiten. +++

+++ Der Bürgermeister von Bad Lobenstein, der hier schon gestern und vorgestern Thema war, weil er einen Reporter angegriffen haben soll, das aber vehement abstreitet, hat nun seinerseits Anzeige gegen den Journalisten erstattet (Antenne Thüringen via turi2). Interessant ist der Hinweis, mit dem "Antenne Thüringen" seine Berichterstattung zum Thema versieht: "Antenne Thüringen gibt hier lediglich die Aussagen des Bad Lobensteiner Bürgermeisters wieder, ohne selbst Stellung zu beziehen. Ansonsten verurteilen wir jeden Angriff auf die Pressefreiheit und sind gleichzeitig an einer lückenlosen Aufklärung des Vorgangs auf dem Bad Lobensteiner Marktfest interessiert." Eine klare Haltung zu dem Vorfall bezieht Ulrike Nimz in der "SZ", die dem Bürgermeister vorwirft, Strategien von Trump und Putin zu kopieren. +++

+++ Die "Frankfurter Rundschau" hat sehr wohlwollend die Journalistin Melina Borčak interviewt, die dem SWR Genozid-Leugnung in einer Podcast-Folge vorwirft (siehe dieses Altpapier). Nachdem der SWR mit einem Aufarbeitungsversuch in einer Sonder-Podcastfolge krachend gescheitert war, hat die FR-Redaktion wohl beschlossen, Borčak noch einmal explizit Raum für ihre (sehr berechtigten) Vorwürfe geben zu wollen. +++

Neues Altpapier gibt’s am Donnerstag.

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