Das Altpapier am 20. Februar 2023: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Autor René Martens kommentiert im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 20. Februar 2023 Das mediale Schreckgespenst des bedrohlichen Fremden

20. Februar 2023, 10:53 Uhr

Journalistinnen und Journalisten haben dazu beigetragen, dass der psychisch kranke Täter von Hanau aus der Gesellschaft "ausgelagert" wurde - obwohl sich seine Wahnvorstellungen mit Haltungen der Gesamtgesellschaft überschneiden. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Entzieht uns Bertelsmann Sauerstoff?

Am morgigen Dienstag wird es zwei Wochen her sein, dass der Thomas Rabe den Kahlschlag bei den Titeln des einst renommierten Zeitschriftenverlags Gruner + Jahr verkündet hat. Das soll jetzt keineswegs ein Versuch sein, eine Art krudes Jubiläum zu konstruieren, es ist nur bemerkenswert, wie präsent das Thema noch ist, obwohl es zeitlich relativ weit weg ist.

Die Präsenz hat natürlich damit zu tun, dass der Fall Gruner + Jahr Folgen für die gesamte Branche hat. Absehbar ist zum Beispiel, dass viele Betroffene, für die die relativ guten Zeitschriften- Honorare nun wegfallen, es sich künftig nicht mehr leisten können, als Journalistin oder Journalist zu arbeiten (worauf ich in einem von turi2.de republizierten Überblicks-Text eingehe, den ich für "epd medien" geschrieben habe). Zu leiden haben werden auch der Handel und natürlich auch jene, die überhaupt erst dafür sorgen, dass die Zeitschriften an die Verkaufsstätten kommen, also die Grossisten. Weshalb Anna Ernst für die SZ mit deren oberstem Funktionär Frank Nolte gesprochen hat.

Das größere Ganze nimmt in einem Gastbeitrag für die Samstags-FAZ Julia Becker, die Aufsichtsratsvorsitzenden der Funke-Mediengruppe, in den Blick:

"Journalistische Inhalte sind der Sauerstoff unserer Demokratie und halten unsere Gesellschaft zusammen. Journalistische Titel alleine unter (überzogenen) Renditeerwartungen zu beurteilen ist reines Controller-Denken."

Dagegen will ich im Prinzip ja nun gar nichts sagen, außer vielleicht, dass ein derart zwischen pastoral und staatstragend changierender Sound nicht so richtig passt, wenn man bedenkt, was für Verwerflichkeiten sich die Funke-Mediengruppe leistet (siehe diesen, diesen und diesen Text bei "Übermedien").

Julia Becker kritisiert Thomas Rabe dann auch noch dafür, dass er "mutlos den Rückzug angetreten" habe. "Es würde zu viel Mühe machen, um kleine, aber feine Titel zu retten, so der bittere Eindruck."

Was die Rettungsperspektiven für die "feinen Titel" angeht: Ob "Geo Epoche" doch noch überlebt (Altpapier), wird sich nach meinen Informationen frühestens Mitte dieser Woche, spätestens in der kommenden entscheiden. Und der erwähnte Grossoverbands-Geschäftsführer Nolte schlägt gegenüber der SZ vor, "Bertelsmann (…) könnte doch die Geo behalten und für andere Ableger wie Geo Saison oder Geo Wissen Lizenzen vergeben".

Zumindest theoretisch eine Option: Management-Buy-Outs. Anna Ernst erwähnt, Hamburgs Kultur- und Mediensenator Carsten Brosda habe zugesagt, dass "die Stadt mit ihrer Wirtschaftsförderung alles tun wolle", falls mutige Journalisten so etwas im Sinn hätten. Bei dem Indie-Rock-Star der SPD (siehe hier ungefähr ab Time Code 59:00) musste man sich zuletzt fragen, ob er überhaupt noch zum Regieren kommt angesichts dessen, wie oft Medien bei ihm nach Einschätzungen zu Gruner + Jahr fragten.

Beim Schlagwort Management-Buy-Out kann man noch daran erinnern, dass es nunmehr zehn Jahre her ist, dass im Zuge einer solchen Übernahme ein eigentlich schon beerdigtes G+J-Magazin gerettet wurde, nämlich "Impulse". Inwiefern es Parallelen zu heute gibt, erzählt der vom Chefredakteur zum Unternehmer gewordene Nikolaus Förster im Gespräch mit dem "Medieninsider".

Ja, der Täter war krank, aber …

In der Berichterstattung und bei den Veranstaltungen anlässlich des dritten Jahrestags des rassistischen Terroranschlags von Hanau spielte auch der Aspekt Hanau und die Medien eine Rolle. Zum Beispiel in einem (in der gedruckten Ausgabe acht Seiten langen) Text in der "Frankfurter Rundschau". Yağmur Ekim Çay, Gregor Haschnik und Monika Gemmer schreiben:

"Stets brauchte und braucht es investigativen Journalismus, hartnäckige Anwält:innen und das Durchhaltevermögen der Betroffenen, um rassistische Strukturen bei den Sicherheitsbehörden, bei der Justiz oder in der Politik aufzudecken. Auch in Hanau ist das der Fall. Doch was bedeutet ein Staat, der nicht schützt, eine Polizei, die nicht hilft, eine Gesellschaft, die nichts ändert?"

Wir haben es hier also mit einer pessimistischen Einschätzung zu tun, in der der Journalismus relativ gut wegkommt. Fundamentalkritik an den Medien formuliert dagegen die iranisch-deutsche Schriftstellerin und Journalistin Asal Dardan bei einer Rede auf dem Brechtfestival in Augsburg, die bei "Geschichte der Gegenwart" dokumentiert ist:

"Es gibt eine Faszination für Täter. Genau dieser Faszination gilt es entgegenzuwirken, weil jeder Täter zur Inspiration wird, vor allem, wenn sich gesellschaftlich nicht genug bewegt. Darum sagt man zu Recht, dass es nicht um die Täter, sondern um die Ermordeten gehen muss. Das Innenleben und die Entwicklung des Täters interessieren mich nicht. Was mich interessiert, ist, wie geschickt der Täter aus Hanau zum anderen wurde, gemacht wurde, ausgelagert wurde, von einer Gesellschaft, die nun drei Jahre nach seiner Tat die Frage verdient: Warum seid ihr so sicher, dass er mit euch nichts zu tun hat? Die Opfer mit ihren Namen, ihren Gesichtern und Geschichten, sie sind ohnehin andere. Sie sind schon vor ihrem Mord Projektionsfläche, sind jene, die bei Döner-Morden und Shisha-Morden draufgehen, sind jene, die zu Kopftuchmädchen und Messermännern erklärt werden."

Des weiteren sagt Dardan:

"Auch der Täter mit seinen Wahnvorstellungen wurde zum anderen gemacht. Seine Gewalt irre, seine Gedanken irre. Das sagten Politiker*innen aus allen Parteien, so stand es in Medienberichten und Kommentaren. Auf diese Weise kann das deutsche Selbstverständnis unversehrt bleiben. Ja, der Täter war psychisch krank, wurde mit paranoider Schizophrenie diagnostiziert. Er hatte einen Verfolgungswahn. In diesem Wahn, den er sehr artikuliert und ruhig erklären konnte, machte er sehr bestimmte Menschen zur Bedrohung, die auch ganz ohne Wahnvorstellungen immer wieder als bedrohlich dargestellt werden. Über diese Überschneidung zwischen dem individuellen Wahn eines psychisch kranken Mannes und einer Gesellschaft, in der er aufgewachsen ist – in der er Waffen besessen hat –, kann im öffentlichen Diskurs nicht immer wieder hinweggegangen werden."

Auf aktuelle Rassismus-Gassenhauer ("kleine Paschas") kommt die Schriftstellerin auch zu sprechen:

"Wussten Sie, dass migrantische Jungs häufig gemeinsam auftreten, sich in Gruppen durch die Öffentlichkeit bewegen, aus Selbstschutz? Und nun werden sie in diesen Gruppen zu Gefährdern erklärt, alle auf einmal, einfach so, ohne Blick auf die Hintergründe oder die gesellschaftlichen Verhältnisse, als hätten wir keine Erfahrung damit, was passiert, wenn man mit solch grausamem Blick auf Menschen schaut, wenn man Individuen für Projektionen heranzieht, in denen ganze Gruppen, Kulturen, Phänotypen als gefährlich gebrandmarkt werden.  Dem Täter von Hanau reichte es jedenfalls nicht, auf diese Weise auf sie zu blicken. Er wollte sie auslöschen. Er hat acht Männer und eine Frau hingerichtet. Sie sahen für ihn aus wie die Menschen, über die unsere Politiker*innen und unsere Medien auf diese Weise sprechen und schreiben. Das Schreckgespenst des bedrohlichen Fremden, des anderen."

Auf letzteren Aspekt geht auch die bereits erwähnte FR-Redakteurin Yağmur Ekim Çay in einem Kommentar ein:

"Der rassistische Attentäter konnte sich zu seinen Schüssen am 19. Februar 2020 ermutigt fühlen. In Deutschland wurden Klischees über 'kriminelle Ausländer' oder 'Clankriminalität' verbreitet, als hätte es die NSU-Mordserie der Jahre 2000 bis 2007 nicht gegeben, bei der die Ermittlungsbehörden 'kriminelle Türken' als Tatverdächtige handelten und die Medien über 'Dönermorde' schrieben. Medien, Politik und Polizei markierten Orte und Menschen als 'kriminell. Diese Stigmatisierung kann rassistische Attentate befördern, so wie in Hanau."

Dass nach der Aufdeckung des NSU Medien keine ausgeprägte Bereitschaft zeigten, sich selbstkritisch damit auseinanderzusetzen, dass sie die rassistisch konnotierten Narrative der Ermittler bereitwillig weiterverbreitet hatten (was zum Beispiel in diesem Film besonders eindrucksvoll dokumentiert ist) - das kann man aus aktuellem Anlass auch noch mal erwähnen.

Wenn die Kunst sich gegen alles Nichtaffirmative abschottet

Anfang der vergangenen Woche sind wir hier zuletzt auf die Kotattacke des Tanzchoreographen Marco Goecke auf Wiebke Hüster, die Ballett- und Theaterkritikerin der FAZ, eingegangen. Zu dem Zeitpunkt war Goecke als Ballettdirektor der Staatsoper Hannover suspendiert, inzwischen ist er seinen Job los. Auf Goeckes Angriff sei eine Debatte gefolgt, "die sehr deutlich macht, dass sich das Verhältnis von Kunst und Kritik dramatisch verändert hat" - so teasert nachtkritik.de einen Kommentar von Christine Wahl zu dem Thema an. Vor allem geht es um das Bild, das Künstler von Journalisten zeichnen, die ihre Arbeit kritisieren.

"Marco Goeckes Handlung lässt sich im semantischen Feld von 'Diskurs' (…) gar nicht mehr verorten. Wer sein Gegenüber bekotet, demonstriert nurmehr Verachtung – in größtmöglichem Ausmaß. Der Hannoveraner Ex-Ballettchef hat seiner Kritikerin, mit anderen Worten, ins Gesicht gerieben, was er von ihr hält: Das ist, sicher, ein nicht für möglich gehaltener Ausnahmefall (…) Die pauschale Herabwürdigung von Kritik (ist) allerdings durchaus salonfähig geworden."

Es verdichte sich "das Bild einer Kunst, die sich gegen alles Nichtaffirmative immunisiert und abschottet", schreibt Wahl. Konkretes Beispiel:

"Wenn der Schauspieler und Regisseur Benny Claessens die Verfasserin einer ihm nicht passend erscheinenden Rezension in den Sozialen Medien mit der Einlassung 'Your time is over, Darling' adressiert, drängt sich der Eindruck auf, dass manche Akteur:innen gar nicht wissen, was die Institutionen eigentlich ausmacht, an denen sie tätig sind. Fehlendes Vorstellungsvermögen, dass Kritik auch dann aufschlussreich sein könnte, wenn sie einem nicht gefällt, ist das eine. Was indes tatsächlich maximal bedenklich stimmt, ist die augenscheinliche Abwesenheit des Bewusstseins, dass darüber, was in den von der Öffentlichkeit für die Öffentlichkeit finanzierten Institutionen stattfindet, auch aus einer unabhängigen Außenperspektive berichtet werden muss." 

Widerspruchsfrei, so Wahl weiter, ist die "offensiv geäußerte Rezensent:innen-Verachtung" übrigens auch nicht, denn:

"(Sie) hält die Künstlerinnen und Künstler augenscheinlich nicht davon ab, professioneller Kritik gleichzeitig eine immense Macht über sich zuzuschreiben. Mindestens eine so weitreichende, dass sie sich im selben Atemzug mit der Abwertung der Kritik auch zu ihrem Opfer erklären – was ausbuchstabiert tatsächlich meint: zu einem Opfer systematischer Gewalt durch Theaterkritik!"

Die FAZ greift in auch eigener Sache noch mal in die Debatte ein, indem sie auf ein Soli-Statement der Vereinigung der amerikanischen Theaterkritiker (ATCA) für Hüster eingeht:

"Anders als die Hannoveraner Opernintendantin Laura Berman, die sich bislang vor allem um Einfühlung in den Täter bemüht hat und in der vorsätzlichen Tat ausdrücklich keine Attacke auf die Pressefreiheit erkennen konnte, halten die amerikanischen Kritiker fest, die Tat sei nicht nur eine schreckliche Verletzung der angegriffenen Person gewesen, sondern ein Versuch, die freie Presse einzuschüchtern."


Altpapierkorb (Martina Zöllner, Dominik Graf, Silke Burmester)

+++ Falls Martina Zöllner, wie von RBB-Intendantin Katrin Vernau vorgeschlagen, neue Programmdirektorin des Senders werden sollte, fände Claudia Tieschky (SZ) das gut - "weil die 61-Jährige wie kaum sonst jemand genau für das Qualitätsfernsehen steht, das die ARD im Moment noch stärker vorzeigen muss als je zuvor".

+++ "Je mehr Planungs-Diktatur und Verkaufs-ideologische Hybris in den deutschen Filmen stecken, umso schneller wirken sie uralt." So lautet der Schluss einer von Dominik Graf bei artechock.de veröffentlichten Abrechnung mit Leuten, die Film als "Content" bezeichnen und die die maßgeblichen Akteure eben dieser "Planungs-Diktatur" bei Kino- und Fernsehfilmen sind. Graf stinkt unter anderem Folgendes: "Jedes Buch geht in 17 Fassungen, wird um- und umgedreht, und vor allem: jeder Funktionär (ich verwende hier das generische Maskulin!!) aus der 3. Reihe darf auch zur 17. Fassung nochmal seinen Senf geben. Viel zu viele Mitredner wetzen an jeder Figuren-Charakterisierung oder Story-Wendung oder auch mal Einzelszene oder Dialog ihr Messer, um zu schlachten, was nicht in ihrem Sinn des Verkaufbaren ist, was nicht vorhersehbar ist, und um all das zu verhin­dern, wo sich Unberechenbares plötzlich Bahn bricht und den Zuschauer verwirren, verstören, abstoßen könnte. Dafür gibt es einen Apparat­schik-Begriff, der freudig Anwendung findet, überall da, wo ein Augenblick eben nicht sofort den nächsten Augenblick erkennen lässt: 'Da war ich lost.'"

+++ Was auch an deutscher Fiktion zu bemängeln wäre: die fehlende Altersdiversität, jedenfalls, was Frauen anbelangt. Diese kritisieren die Initiatorinnen der Aktion "Let's change the picture!" (Altpapier von Donnerstag). Eine von ihnen - Silke Burmester, der lenkende Geist von "Palais Fluxx" - sagt nun gegenüber der "Stuttgarter Zeitung": "Wir werden nicht einmal ermordet. Wie oft war der Fund der Leiche einer ermordeten älteren Frau Ausgangspunkt für einen 'Tatort' oder 'Polizeiruf'?"

Das Altpapier am Dienstag schreibt Christian Bartels.

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