Das Altpapier am 22. Februar 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 22. Februar 2023 Medienwandel und Zeitenwende

22. Februar 2023, 09:56 Uhr

Hörbücher gibt es immer noch mehr zu hören, aber in manchen Regionen sterben Anzeigenzeitungen aus. Kann Österreich vom deutschen Rundfunkbeitrag lernen? Sind Informationen Waffen? Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Streamen wird teurer

Das prominenteste, besonders von Journalisten beachtete Beispiel für den Medienwandel ist die maximal ungeschickte Abwicklung des ehemaligen Zeitschriftenverlags Gruner + Jahr (zuletzt größer in diesem Altpapier) durch Bertelsmann. Von dessen künftig wichtigstem Angebot, der Plattform RTL+, gibt's eine kleine Neuigkeit. Was RTL als "Noch mehr Auswahl" vor allem an Hörbüchern ankündigt, wird anderswo eher als Preiserhöhung verstanden:

"Statt bislang 4,99 Euro im Monat werden fürs sogenannte 'Premium-Abo' (so heißt hier bereits das Einstiegs-Abo abseits des kostenfreien Angebots) ab dem 1. März 40 Prozent mehr fällig, der Preis steigt also auf 6,99 Euro im Monat. Damit zieht man nun beispielsweise mit Joyn Plus+ gleich, liegt aber über dem teilweise werbefinanzierten Einstiegs-Angebot von Netflix ... - und ganz werbefrei ist ja auch RTL+ Premium nicht, hier gibt es lediglich eine Limitierung der Werbung auf 1 Minute pro Inhalt",

fasst dwdl.de zusammen. Klar, solche Preiserhöhungen sind marktüblich, wie andere tagesaktuelle Ankündigungen belegen. Amazons Musikstreaming-Dienst erhöht auch und schraubt ebenfalls an den kleingedruckten Details. Bei sog. "Prime"-Kunden sei nun "nur noch sechsmal pro Stunde ein Skip..., also die Möglichkeit, ein laufendes Lied zu überspringen", enthalten. Sie müssen also länger hören, was Amazon ihnen vorspielt, meldet spiegel.de.

Aber, ob Preiserhöhungen im dicht besetzten Wettbewerb RTL+ helfen?. Eigentlich war RTL+ vor gar nicht so langer Zeit als "One App, All Media" angekündigt worden, was ausdrücklich Presse-Inhalte des damals noch halbwegs imposanten G+J einbezog. Das  schien kein ganz unplausibles Modell zu sein. Amazon hat zwar Champions League-Fußballspiele, aber keine etablierten Zeitschriften im Angebot. Hörbücher hingegen bietet der Audible-Eigentümer Amazon im Überfluss.

Kostenlose Zeitungen haben's auch schwer

An Medieninhalten herrscht kein Mangel. Medienwandel in der Informationsflut wird oft erst bemerkt, wenn irgendwas längerfristig nicht mehr da ist. Z.B., wenn kein bedrucktes Papier mehr unverlangt in die Briefkästen gesteckt wird. Ab Ende April stellen im östlichen Westfalen allerhand Anzeigenblätter ihr Erscheinen ein. Klingt unspektakulär, hat aber erhebliche Auswirkungen, von denen auch, allerdings nicht am meisten Journalisten betroffen sind, schreibt Constanze Busch (die auch für das von Altpapier-Autor Ralf Heimann geleitete Münsteraner Lokalmedium rums.de arbeitet) bei uebermedien.de:

"Besonders heftig trifft das laut der Gewerkschaft Verdi die Zusteller:innen. Rund 2.500 Menschen, die zurzeit noch wöchentlich 362.000 Exemplare im Münsterland und 564.000 in Ostwestfalen verteilen, werden wohl ihren Job verlieren. In den Redaktionen geht es laut Journalistenverband um rund zehn Stellen, Zukunft ungewiss. Ein Konkurrenzprodukt gibt es in der Region nicht, in den meisten Orten wird bis auf Weiteres gar kein kostenloses Wochenblatt erscheinen. Auch in den Druckereien wird der Verlag voraussichtlich Stellen abbauen ..."

Fragen nach den Gründen führen einerseits zu den wiederholt gestiegenen Papierpreisen und weiteren Folgen. (Dünnere Zeitungen können zwar von kleineren Redaktionen gefüllt werden, fassen aber auch weniger eingelegte Prospekte, was wiederum Anzeigenblätter-Einnahmen im Wortsinn schmälert). Andererseits beklagt der Bundesverband Deutscher Anzeigenblätter die aus der Einführung des Mindestlohns resultierende Umstellung "von Stück- auf Zeitlohn". Der Zeitdruck habe Rentner abgeschreckt, die zuvor gerne als Zusteller jobbten, was weitere Probleme nach sich gezogen habe,

"und zwar auf Seite der Einnahmen. Die meisten Anzeigenblattverlage erzielen mindestens 80 Prozent ihrer gesamten Werbeerlöse mit den Prospektbeilagen ... Das Problem aus Sicht der Verlage: Immer mehr Prospektkunden lassen sich von großen Agenturen vertreten, die gebündelt die Verhandlungen führen und dabei die Preise drücken. Zugleich verlangen diese Makler sehr hohe Verteilquoten im vereinbarten Gebiet, das wiederum ist wegen des Personalproblems kaum zu schaffen ..."

Der Artikel denkt also viele Aspekte zusammen. Dass die zu einem Fünftel weiterhin mittelbar staatliche Deutsche Post mit ihrem vielfach kritisierten "Einkauf aktuell"-Heftchen (das als redaktionelle Hauptattraktion ein lineares Fernsehprogramm enthält), am ehesten als Nachfolger in Frage kommt, also für Unternehmen, die ihre Werbeprospekte breit verteilt haben wollen, ist noch einer.

Öffentlich-Rechtlichen-Reform in Österreich

Probleme wegbrechender Geschäftsmodelle und unzuverlässiger Einnahmen kennt der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht. Im Gegenteil lassen seine Einnahmen sich auf Jahre hinaus berechnen. Nun will Österreich von deutschen Erfahrungen lernen und eine "Haushaltsabgabe" einführen (Altpapierkorb gestern). Hierzulande bescherte die Ersetzung von Gebühr und GEZ durch die freundlicher klingenden "Beitrag" und "Beitragsservice" den Anstalten deutlich mehr Einnahmen – und half der Politik, Gebühren-, pardon Beitrags-Erhöhungs-Diskussionen verschieben zu können.

In Österreich ist die Ausgangslage komplizierter, da die dortige Gebühr  bislang Umsatzsteuer und einen Kunstförderungsbeitrag enthält, sowie je nach (österreichischen) Bundesländern unterschiedlichen Landesabgaben:

"Derzeit führen die Haushalte – je nach Bundesland – zwischen 22,45 und 28,65 Euro monatlich an die GIS ab. Davon gehen allerdings nur 18,69 Euro an den ORF",

schreibt Ralf Leonhard im für Nicht-Österreicher übersichtlichsten Beitrag, dem der "taz", zusammen. Geändert werden muss das System, weil, wer kein Fernsehgerät besitzt, in Österreich bislang noch gar nichts für den ORF zahlen muss, und das als verfassungswidrig eingestuft wurde ("Standard"). Medienpolitische Entscheidungen fallen dort einfacher als hierzulande, weil da die (österreichische) Bundesregierung entscheiden kann und nicht alle Landesregierungen einen gemeinsamen Nenner suchen müssen. Natürlich kritisiert die Opposition aber die Bundesregierung:

"Die ÖVP ist offenbar weiter auf einem Zerstörungstrip gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit Medienministerin Raab als bereitwilliger Vollstreckerin",

zitiert wiederum der "Standard" den sozialdemokratischen Mediensprecher Jörg Leichtfried. Da darf die der ÖVP angehörende Medienministerin Susanne Raab natürlich nicht mit Heike Raab (SPD) verwechselt werden, die zwar die relativ wichtigste deutsche Medienpolitikerin ist, aber bloß im Range einer Staatssekretärin. Wobei, dafür, dass sich vom deutschen Modell des öffentlich-rechtlichen Rundfunks praktisch längst nichts anderes mehr lernen lässt als das permanente Aufschieben der eigentlich schon ewig von allen für nötig befundenen Reformen, dafür trägt Heike Raab schon Mitverantwortung.

Der "Zerstörungs"-Vorwurf bezieht sich darauf, dass der ORF heftig einsparen muss und selber entscheiden soll, wo. Außer Streamingportalen und einem linearen Sportkanal will er seinem Generaldirektor zufolge das Radio-Symphonieorchester Wien nicht mehr finanzieren. "Der Sturm der Entrüstung ist enorm", berichtet die "SZ" heute über Reaktionen. Darauf, dass die ARD "insgesamt 16 Ensembles: Orchester, Big Bands, Chöre" unterhält, "etwa 2000 Menschen, fast alle fest angestellt ...", hatte Tom Buhrow ja in seiner "Überseeclub"-Rede (Altpapier) hingewiesen. Falls die Österreicher dieses Problem elegant und zukunftssicher im Sinne der Kultur lösen, vielleicht können dann deutsche Medienpolitiker sowie Anstalten-Chefetagen von ihnen lernen.

Zum Jahrestag des Kriegsbeginns

Das wichigste Medien-Thema ist der bevorstehende Jahrestag des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, der auch den Begriff der "Zeitenwende" ins Rollen brachte. Jede Menge Medieninhalte aller Art befassen sich damit. Die harten Zahlen, die Medien und Medienmenschen betreffen, haben die Reporter ohne Grenzen.

Die Geschichte des dort erwähnten "litauischen Dokumentarfilmers Mantas Kvedaravicius, der Anfang April in Mariupol tot aufgefunden wurde", erzählt der litauische Schriftsteller Marius Ivaskevicius heute in einem den Zeitungsrahmen beinahe sprengenden Ausmaß (anderthalb große Seiten) im "FAZ"-Feuilleton (€). Am im Vergleich mit der erschütternden Suche von Kvedaravicius' Lebensgefährtin nach ihrem Mann fast schon tragikomischen Schluss geht es am Ende um den Rechtestreit europäischer Produktionsfirmen an Kvedaravicius' letztem Film "Mariupolis 2", aus dem der Name dieser Ana Bilobrowa als Co-Regisseurin plötzlich verschwand.

Wer sich in die Frage vertiefen möchte, ob neben dem seit fast einem Jahr laufenden massenhaft tödlichen Krieg auch ein "Informationskrieg" lief oder läuft – der Begriff tauchte unter anderem in einer Altpapier-Überschrift im März auf –, könnte dann noch den Artikel "Ein Social-Media-Post ist kein Projektil – Konzeptionelle Herausforderungen durch Desinformation" in der "Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik" lesen. Darauf lässt sich bei Springer, nicht Axel, sondern dem gleich-nachnamigen Wissenschafts-Verlag frei zugreifen. Autor Adrian Teetz klamüsert die Begrifflichkeiten auseinander und meint:

"Vor dem Hintergrund dieses Spannungsfeldes erzeugen Desinformationsaktivitäten das immanente Risiko einer Überreaktion oder Reaktion mit untauglichen Mitteln und unbeabsichtigten Effekten. Beispielhaft lassen sich solche Risiken an der Vokabel 'Informationskrieg' festmachen, die in der Debatte oszilliert. Der Begriff suggeriert ... einen quasi ballistischen Schlagabtausch mit Informationen, die wie Waffen eingesetzt würden. Tatsächlich ist der Begriff jedoch in der Terminologie der NATO nicht definiert. Wenn 'information war' ... tatsächlich die russische Entsprechung zum Konzept der 'strategic communication' wäre – sind demokratische Staaten dann gut beraten, die Terminologie und die daran geknüpften Implikationen von ihren Gegnern zu übernehmen? Sollen sie sich – ungeachtet der Frage, ob das so überhaupt funktioniert – ernsthaft selbst mit 'Informationswaffen' verteidigen, indem sie auf Öffentlichkeiten 'einwirken'?"

Nein, meint Teetz, der fürs Bundesverteidigungsministerium arbeitet, erfreulicherweise. 

Altpapierkorb ("KoDok", "TopDocs", Böhmermann, Presseförderung, "Medienfeudalismus")

+++ Die ARD hat jetzt auch eine "KoDok". Was die "Koordination Dokumentationen" so machen soll, erzählen Programmdirektorin Christine Strobl und BR-Intendantin sowie Dokumentationen-Koordinatorin Katja Wildermuth im dwdl.de-Interview. "Es ist zweifellos ein Trend der vergangenen Jahre, auch bei internationalen Anbietern, dass es eine größere Nachfrage nach längeren vertiefenden Formaten gibt – vielleicht gerade als Gegentrend zur Kurznachricht in den sozialen Netzwerken", sagt Strobl unter anderem. +++ Anlass des Interviews ist die heute Abend zwar am Berlinale-Rande, aber kostenbewusst im RBB-Haus des Rundfunks stattfindende Dokus-Präsentation "TopDocs" ("Tagesspiegel"). +++

+++ "MDR-Insider", mit denen businessinsider.de sprach, wiesen darauf hin, dass Spitzengehälter "der nach Tarif bestbezahlten WDR-Führungskräfte" beim MDR schon als außertariflich gelten, weil im Osten weniger gezahlt wird, und dass der MDR-Staatsvertrag an der komplizierten, viele teure Posten erfordernden Struktur schuld sei. Um die Meldung, dass der MDR "fast so viele übertarifliche Gehälter wie der RBB" zahlt, ging es gestern hier. +++

+++ Ebenfalls ging es um die "heftige, asymmetrische Auseinandersetzung" zwischen Jan Böhmermanns öffentlich-rechtlichem "ZDF Magazin Royale" und Krsto Lazarevic, zu der sich weiter viel Stoff auf Twitter sammelt, bei Lazarevic und anderswo. "Wirklich völlig absurde Reaktion des @zdfmagazin", meint etwa "Tagesspiegel"-Redakteur Julius Betschka. +++

+++ Morgen soll ein von "Lettre International" erwirktes Gerichtsurteil klären, ob und wenn, wie Presse staatlich gefördert werden darf. Darauf macht nun die "SZ" gespannt.

+++ "Überverwaltete Filme" und "Das Ausmaß an Einmischung von dritter oder vierter Stelle, was Inszenierung wie Herstellungskosten angeht, hat ein in vielen Fällen unerträgliches Ausmaß angenommen": So klagen Rolf Silber und Jobst Oetzmann vom Bundesverband Regie in der "FAZ" über "neuen deutschen Medienfeudalismus", und meinen damit besonders das (öffentlich-rechtliche) Fernsehen. +++ Außerdem ebd.: eine lässige Besprechung der ab heute verfügbaren Serie "Der Schwarm", um die es gestern hier ausführlich ging. Andreas Platthaus ist weder davon, noch von älteren und neueren Aussagen des Bestseller-Autors Frank Schätzing sehr begeistert. +++

Das nächste Altpapier schreibt am Donnerstag Ralf Heimann.

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