Das Altpapier am 24. März 2023: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 24. März 2023 Wenn Könige zu Mauerblümchen werden

24. März 2023, 11:43 Uhr

War Claas Relotius beim "Spiegel" "eine Art menschliche ChatGPT"? Ist Medienjournalismus noch nicht tot, aber schon streng riechend? Warum pöbeln konservative Trolle gegen eine softe konstruktive ARD-Dokureihe? Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Das Schweigen der Größen

Die erste Rezension zu Daniel Sagers Dokumentarfilm "Erfundene Wahrheit – die Relotius-Affäre" erschien vor fast genau einer Woche, nämlich am vergangenen Freitag kurz vor 17 Uhr in der "Süddeutschen". Die ersten Besprechungen waren im Altpapier von Montag erwähnt. Ab heute Abend ist er endlich zu sehen.

Was sagen nun die Kolleginnen und Kollegen, die den Film nicht zu früh besprochen haben? Er habe

"insbesondere (das) Verdienst, dass als Opfer (von Relotius’) Verbrechen nicht immer nur die geplatzten Karrierepläne der Relotius-Förderer beim Spiegel im Vordergrund stehen, sondern die eigentlichen Leidtragenden: die von Relotius ausgebeuteten Mitarbeitenden an seinen Recherchen und die in seinen Fake-News-Produkten verleumdeten Protagonisten".

Das schreibt Ambros Waibel in der taz. Einen vielleicht etwas überraschenden Ausflug ins Innenleben seiner Zeitung unternimmt er in seinem Text auch:

"Auch an meinem kleinen Arbeitsplatz gab es 2018 aus der Führungsebene Zweifel am Vorgehen von Juan Moreno, ohne dessen Hartnäckigkeit Relotius heute eine Macht- und Vorbildfunktion im deutschen Journalismus inne hätte. Der Grund für diese Skepsis war schlicht: Die Leute, die dann – sehr sanfte – Konsequenzen aus der Affäre tragen mussten, waren auch Führungskräfte, und Relotius war ihr Traum eines Untergebenen, eine Art menschliche ChatGPT, die beständig, bescheiden und brillant lieferte, was sie – alles Männer by the way – sich unter großem Journalismus vorstellten."

Barbara Schweizerhof kritisiert im aktuellen "Freitag", der Film sei "fast zu brav" und "formell zu sehr bemüht, dem Hochglanzformat der Streaming-Hits zu entsprechen". Nun, der Film läuft bei Sky Documentaries, es war doch klar, dass er diese Ästhetik haben wird.

Es soll ja Menschen geben, die nicht sonderlich darauf achten, was im Abspann steht. Das wäre im Fall von "Erfundene Wahrheit" ein ziemlich großer Fehler. Schweizerhof schreibt:

"An den Schluss seines Films setzt Sager eine lange Liste von Namen, größtenteils Spiegel-Leute, die sich für den Film nicht interviewen lassen wollten. Das spricht für sich."

20 Personen, Relotius inclusive, umfasst übrigens diese "beeindruckende Liste von Größen des deutschen Journalismus", wie es Ambros Waibel subtil ironisch formuliert.

Im Interview mit der "Wirtschaftswoche" sagt Regisseur Sager dazu:

"Es gibt ja noch immer viele Mitarbeiter beim 'Spiegel', die Kollegen von Claas Relotius waren, die Texte von ihm betreut haben. Natürlich hätten wir gern aus erster Hand erfahren, wie damals die Atmosphäre in der Redaktion war. Es geht schließlich nicht nur um Claas Relotius, sondern es geht um das gesamte Gesellschaftsressort, in dem er tätig war."

Das sehe ich auch so. Dokumentare und Führungskräfte haben viel Kritik dafür einstecken müssen, dass sie nichts bemerkt haben (wollen). Aber hätte den Kolleginnen und Kollegen, die teilweise vermutlich noch viel enger mit Relotius zusammen gearbeitet haben, nicht eigentlich viel eher etwas auffallen können?

Der Wiwo-Interviewer Tobias Gürtler spricht Sager auf eine Person an, bei der im Abspann "Interview zugesagt und dann wieder abgesagt" vermerkt ist. Die Antwort des Regisseurs:

"Ich möchte da ungern über interne Vorgänge beim 'Spiegel' mutmaßen. Aber ja: Wir hatten uns schon sehr konkret zu einem Interview verabredet, standen mit dem betreffenden Journalisten bereits länger in Kontakt und er hatte auch schon auf viele Fragen im Vorgespräch geantwortet. Dann war er in Hamburg, hat dort noch einmal Rücksprache mit dem 'Spiegel' gehalten. Und nach dem Termin in der 'Spiegel'-Zentrale hat er dann doch lieber abgesagt."

Da im Abspann "Interview zugesagt und dann wieder abgesagt" lediglich bei einer Person vermerkt ist, kann Sager nur Alexander Smoltczyk meinen.

Auf der FAZ-Medienseite weist Andrea Diener darauf hin, dass Sagers Film auch herausstellt, dass "es immer wieder Ungereimtheiten gab, die auffielen, die aber an der Redaktion und dem grenzenlosen Vertrauen zu ihrem Goldjungen abgeprallt sind". Das "eindrücklichste Beispiel" (Sager im Wiwo-Interview) ist ein Vorfall aus dem April 2017. Damals fand der freie kurdische Kameramann Syara Kareb bei der Arbeit für einen Spiegel-TV-Beitrag im Irak heraus, dass Relotius einen inhaftierten jungen Protagonisten einer Geschichte nicht getroffen hatte und dieser Junge auch gar nicht in dem vom Reporter genannten Gefängnis saß, sondern in einem anderen. Kareb sagt, er habe das seinem Redakteur bei Spiegel TV mitgeteilt und dieser habe die Informationen weitergeleitet. Dass es diese Hinweise gegeben hat, ist bekannt (siehe Seite 134 in jenem Heft, in dem der "Spiegel" 2019 den Abschlussbericht der internen Untersuchungskommission veröffentlichte). Aber:

 "Karebs Auftritt im Film verleiht ihnen (…) noch mal eine größere Brisanz. Ihm ist die Entgeisterung darüber, dass Relotius bis Dezember 2018 für den Spiegel tätig sein konnte, immer noch anzumerken. Bis heute ist nicht klar, ob die Hinweise dieses freien Mitarbeiters damals durch eine Verkettung unglücklicher Umstände versickert sind oder Führungskräfte sie folgenlos zur Kenntnis nahmen."

Das habe ich fürs Kulturressort von Zeit Online geschrieben.

Die Firma Warner Bros. dürfte die Resonanz für den Dokumentarfilm vorausgesehen haben, weshalb sie rund drei Wochen vor dessen TV-Premiere Michael Herbigs im vergangenen September im Kino angelaufenen Film "Tausend Zeilen" bei Streaminganbietern und auf DVD zugänglich gemacht hat. Ich habe diesen fiktionalen Film zur Relotius-Affäre (siehe Altpapier) damals nicht im Kino gesehen, sondern erst jetzt. Man kann darüber streiten, ob es überhaupt sinnvoll ist, einen Spielfilm mit einem Dokumentarfilm zu vergleichen. Wie auch immer: Es fällt auf, dass Herbig, der die Geschichte auf eine Weise erzählt, die man auf Neudeutsch snackable nennen könnte, die Freiheit der Fiktion zu wenig nutzt. Sagers Dokumentarfilm öffnet mehr (gedankliche) Räume.

"Journalismus ist ohne souveränen Medienjournalismus nicht möglich."

Die Lage des Medienjournalismus taugt wohl eher nicht für einen 90-Minüter bei Sky. In der neuen Ausgabe von "epd Medien" bildet das Thema aber einen Schwerpunkt. Elisa Makowski und Hans-Jürgen Jakobs haben längere Texte dazu beigesteuert. Einer von mehreren Anlässen für die Artikel: die Einstellung der Medienseite im gedruckten "Tagesspiegel" im November 2022. Elisa Makowski hat darüber unter anderem mit Hektor Haarkötter, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, gesprochen:

"Bei der Entscheidung zur Einstellung der Medienseite des 'Tagesspiegels' könnten wirtschaftliche Überlegungen eine Rolle gespielt haben, meint Hektor Haarkötter. Medienseiten brächten wenig ein, Verlage schalten keine Anzeigen auf Medienseiten. Dies mache die Medienseite wirtschaftlich uninteressant. Mit dem Relaunch des 'Tagesspiegels' gingen Medienthemen nun voraussichtlich vermehrt auf in Querschnittressorts. Das höhle die Medienseite aus: 'Damit wird der eigentliche Fachjournalismus vor die Tür gesetzt.'"

Was er in einen größeren Zusammenhang dann folgendermaßen einordnet:

"Über Medien zu diskutieren heißt, über Gesellschaft zu reden. Eine kritische Begleitung als Selbstkontrolle tut in einer Mediengesellschaft not."

Makowski hat auch mit mir gesprochen. Ich habe zweierlei gefordert: mehr öffentlich-rechtlichen Medienjournalismus (erst recht beim ZDF, wo es meiner Wahrnehmung nach gar keinen gibt) und die Schaffung von Verhältnissen, die es möglich macht, dass Mitarbeitende ihre Sender öffentlich kritisieren. Ok, wir machen das hier in dieser Kolumne, aber weit verbreitet ist es ja nun nicht gerade.

Letzteres Thema hat auch der frühere SZ-Medienressortchef Jakobs in seinem Beitrag beim Wickel:

"Wie ist es mit der 'inneren Pressefreiheit’ bestellt, jenem Anfang der 1970er Jahre so gepflegten Gut, das es mit Redaktionssatzungen zu schützen galt?"

Der Text ist reich an griffigen Sätzen, die in künftigen Abhandlungen des Themas vermutlich häufig Erwähnung finden werden. Zum Beispiel:

"Medienjournalismus ist nicht tot, es riecht nur etwas streng, könnte man in Abwandlung eines Spruchs von Frank Zappa über Jazz formulieren (…) Er findet sich inzwischen in der publizistischen 'Mauerblümchen'-Kategorie wieder. Dabei handelt es sich um eine Königsdisziplin der Branche."

Und falls es die Kategorie apodiktischer Kalenderspruch gibt, gehört folgender hinein:

"Journalismus ist ohne souveränen Medienjournalismus nicht möglich. So gesehen stünde ein Niedergang des Medienjournalismus für den Niedergang des Journalismus selbst."

Der Hass auf konstruktive Ideen

Am vergangenen Freitag bin ich hier auf "Wir können auch anders" eingegangen, eine sowohl als Doku-Serie für die Mediathek als auch lineares Einzelstück vorliegende Produktion zum Thema Klimakrise, zu der Lars Jessen, einer der beiden Macher, gegenüber meinem Altpapier-Kollegen Klaus Raab sagt, er wolle "keine Geschichten erzählen vom Verzichten, 'davon, was wir verlieren, wenn wir ein anderes Leben leben'. Er wolle von dem berichten, was wir gewinnen. Er sei 'überzeugt, dass man da ein anderes Publikum ansprechen kann'"

Es ist, wie nun Samira El Ouassil in ihrer neuen "Spiegel"-Kolumne aus aktuellem Anlass schreibt, eine

"die Ärmel hochkrempelnde Dokumentationsreise, die versucht, Lösungen, Entwicklungen und bereits realisierte Innovationen im Kampf gegen die Klimakrise in Deutschland aufzuzeigen. (Eigentlich müssten technologieoffene FDP-Politiker:innen diese Reihe lieben.)".

Und Jan Hegenberg schreibt für den "Volksverpetzer", es gehe in der ARD-Produktion

"um innovative Projekte engagierter Menschen, die in bester Startup-Kultur nach neuen Lösungen für das ganz große Problem suchen. Diese werden in hoffnungsvoller Tonalität vorgetragen und nicht mit dem drohenden Weltuntergang verargumentiert (…) Wir bekommen Einblicke in das Potenzial für grünen Stahl aus Deutschland, futtereffiziente Fischfarmen (…), Abwärme nutzende Schwimmbäder, klimapositive Rechenzentren (mit der Abwärme wird Algenzucht betrieben) (…) Recycling von Baustoffen (…) Es wird also in allen Sektoren untersucht, wie Klimaschutz und Wirtschaft zusammen funktionieren können, sodass wir am Ende eine funktionierende Biosphäre UND Wohlstand haben. Ein Claim, der bestimmt so ähnlich in irgendeinem CDU-Flyer zu finden ist, aber dennoch ist die Reaktion überraschend wütend".

Diese Reaktionen sind nun auch der Grund, weshalb El Ouassil und Hegenberg auf "Wir können auch anders" ausführlich eingehen. Sie lauten nämlich unter anderem: "Wahlwerbung für die Grünen", "Propaganda", "Spießertum". El Ouassil schreibt dazu:

"Wer diese Dokumentation allen Ernstes als parteipolitisch empfindet, der glaubt auch, 'Deutschlands schönste Bahnstrecken' sei linksgrüne Propaganda."

Die vom "Spiegel" und vom "Volksverpetzer" zitierten Reaktionen stammen von Trollen, die dem einen oder anderen auch durch ihr Wirken für die CDU, die FDP oder Springer aufgefallen sein könnten. Warum sind sie so "wütend" (Hegenberg) auf eine derart softe, niedrigschwellige und konstruktive Doku-Serie bzw. Dokumentation? Sie, die Hater, beziehen ihr Selbstwertgefühl offenbar daraus, dass sie die letzte Generation sind, die noch unter lebenswerten Bedingungen leben kann. Für sie kann es gar nichts Schlimmeres geben als konstruktive Ideen zur Bewältigung der Klimakrise.

Zu wenig Klimaberichterstattung bei "Wirtschaft vor acht"

Um beim Thema Klima zu bleiben: Als die ARD vor einem Jahr "Börse vor acht" in "Wirtschaft vor acht" umwandelte, kündigte sie in einer Pressemitteilung an: "Ein Schwerpunkt ist das Themengebiet Ökonomie/Ökologie." Wie lautet nun das Fazit nach einem Jahr? Pustekuchen!

Jedenfalls haben sich Norman Schumann und Michael Brüggemann für den "Climate Matters"-Blog der Uni Hamburg mal damit beschäftigt, wie oft das Thema Klima in der Sendung vorkommt:

"Seit der Umbenennung (…) nimmt die Erwähnung des Wortes 'Klima' leicht ab. Vom März 2021-2022 wurde es in 69 von 246 Sendungen erwähnt. Im folgenden Jahr erwähnten 53 von 243 Sendungen das Suchwort – das entspricht ca. 21,8% der werktäglichen Sendungen. Diese Auswertung deutet darauf hin, dass der Klimawandel zwar als Referenz regelmäßig vorkommt, aber schon die vielen Tage ohne bloße Erwähnung zeigen: sehr viel Wirtschaftsberichterstattung kommt nach wie vor ohne einen Bezug zu dem Thema aus. Bei der Bewertung dieser Zahlen ist zu bedenken: fast jede wirtschaftliche Aktivität und Entscheidung hat einen Klimabezug, da sie zumindest indirekt zu mehr (oder weniger) Kohlendioxid-Emissionen beiträgt."

Ein weiteres Ergebnis:

"(Es gab) lediglich 19 Sendungen, in denen ein Schwerpunkt der Sendung auf Klima lag, (das sind) gerade mal 7,8 % aller Sendungen. Nur eine einzige Sendung hat sich ausschließlich mit dem Klimawandel beschäftigt, am 18. Juli 2022 gab es drei Minuten zum Thema."

Das Fazit der Autoren:

"Die Klimakrise war im ersten Jahr kein Schwerpunkt im neuen Sendekonzept." 

Altpapierkorb ("Die Woche mit Eva Schulz", Pressefreiheit in Griechenland, Berichterstattung zu Offenem Brief an Jungle World)

+++ "Die Woche mit Eva Schulz" ist ein neues öffentlich-rechtliches Polittalk-Format, es läuft ausschließlich in der ARD-Mediathek. Die "Stuttgarter Zeitung" hat mit der Moderatorin gesprochen. Eva Schulz sagt: "Unsere Formel lautet, wir möchten die Leute weiterbringen, ohne sie runterzuziehen. Wir hören in den letzten Jahren oft, dass sich Menschen von den Nachrichten abwenden. Sie sagen, es sei so viel Schlimmes los in der Welt und das führt zu Überforderung und Hilflosigkeit. Da wollen wir gerne ansetzen und mit der Atmosphäre, die wir herstellen deutlich machen: Es muss nicht immer ernst und belastend sein, sich mit den Nachrichten auseinander zu setzen."

+++ Das ND hat den für die Agentur AFP tätigen griechischen Journalist Stavros Malichudis zum Thema Pressefreiheit in seinem Land interviewt, u.a. zur Ausspionierung der Smartphones von Journalisten, von der auch er betroffen war. Malichudis sagt: "Meine Überwachung ist im November 2021 durch eine linke Tageszeitung publik geworden. Sie haben geleakte Dokumente veröffentlicht, eins davon über mich. Die Behörden waren interessiert an den Personen, mit denen ich für den Artikel gesprochen hatte, darunter auch ein 12-jähriger geflüchteter syrischer Junge auf der Insel Kos (…) Es ist erschreckend, wie groß die Bandbreite der Personen ist, die unter Überwachung standen. Ich bin ein Journalist, der hauptsächlich zum Thema Migration arbeitet. Ein anderer Journalist, der vom Geheimdienst überwacht wurde, arbeitet zu Finanzen und Bankenskandalen."

+++ Und Reaktionen auf den Offenen Brief von (Ex-)Autor*innen der "Jungle World", die der Wochenzeitung Transfeindlichkeit vorwerfen (Altpapier von Mittwoch), finden sich in der taz und der "Berliner Zeitung".

Das Altpapier am Montag schreibt Klaus Raab. Schönes Wochenende!

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