Das Altpapier am 22. März 2023: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 22. März 2023 Clowns müssen politisch werden

22. März 2023, 12:17 Uhr

Jan Böhmermann bekommt seinen sechsten Grimme-Preis. Außerdem auf der Agenda: Kritik an der Transfeindlichkeit einer Wochenzeitung; die "Mad-Scientist-Situation" in "Reality-Fernsehlaboren"; eine Studie zu demokratiegerechten Algorithmen. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Die Bilder aus Bergamo und Meißen

"Corona-Maßnahmen aufarbeiten", lautet die Überschrift eines Kommentars auf der heutigen Seite Eins der FAZ, und abgesehen davon, dass die Forderung, irgendwas müsse "aufgearbeitet" sowieso zu den Grabbeltischformulierungen des deutschen Kommentarwesens gehört, ist diese Headline im konkreten Fall, sagen wir mal: unoriginell. Dass die Corona-Maßnahmen "aufgearbeitet" werden müssten, fordert ja ständig irgendwer.

Im Text schwadroniert Politikressortchef Thomas Holl dann von "der erst jetzt aufgehobenen Maskenpflicht". Ich würde mal die Vermutung riskieren, dass manche Angehörige der derzeit im Schnitt täglich 96 Corona-Toten in Deutschland sich wünschten, dass es die Maskenpflicht noch gäbe.

Der Anlass des Textes ist, dass sich heute zum dritten Mal der erste Lockdown jährt. Eine Gegenposition zu Holl formuliert Kirsten Achtelik für das ND:

"Dass sich jetzt immer mehr Politiker*innen für vermeintlich unnötige oder überzogene Maßnahmen entschuldigen, entspricht nicht der damaligen Bedrohungssituation und ist sowohl für den weiteren Umgang mit Sars-Cov-2 als auch mit kommenden Pandemien fatal. Im Nachhinein erscheint es so, als wären die Verbote unangemessen und übertrieben scharf gewesen. Dass sie im Großen und Ganzen richtig waren, ist eine recht unpopuläre Meinung geworden."

Achteliks Fazit:

"Wenn das Schlimmste durch Verbote verhindert wurde, erinnert sich natürlich niemand an die krassen Auswirkungen der Pandemie, sondern an die krassen Auswirkungen der Maßnahmen – ein grundlegendes Dilemma. An die Bilder der Armeelastwagen, die das norditalienische Bergamo voller Leichen verließen, denkt man nur noch ungern zurück, geschweige denn, dass man sich selbst oder seine Lieben in so einer Situation imaginieren möchte."

Wir sind hier ja beim MDR, und da muss man ja gar nicht auf die Bilder aus Bergamo verweisen, sondern kann auch an die aus dem Krematorium im sächsischen Meißen erinnern, die das Politikmagazin "Exakt" im Januar 2021 zeigte. In der Hochphase der "zweiten" Welle wurden damals ständig neue Tote angeliefert. Die Kamera fängt hier ein, wie mit Alltagsroutine und auch einer gewissen Lakonik auf einen eigentlich nicht begreifbaren Ausnahmezustand reagiert wird.

Wie auch immer: Wieder mal ein guter ND-Artikel zu Corona, der beste Beitrag der jüngeren Vergangenheit zu dem Thema ist ja ebenfalls dort erschienen. Der Schriftsteller Frédéric Valin schrieb dort in der vergangenen Woche über "drei Jahre in Selbstisolation" und den Unwillen der Gesellschaft, Immunschwache wie ihn zu schützen.

Gibt es auch bei Transfeinden eine Querfront?

Valin wiederum ist auch einer der Erstunterzeichnenden eines Offenen Briefs "von (ehemaligen) Autor*innen" der Jungle World, den diese an die Redaktion gerichtet haben. Zu einem ganz anderen Thema indes, um "die fehlende Abgrenzung" der linken Wochenzeitung "von transfeindlichen Ressentiments" geht es.

Och nö, auf Offene Briefe habe ich ja nun gerade gar keine Böcke, wird nun vielleicht mancher Lesende sagen. Das ist ja durchaus nachvollziehbar. Andererseits ist es grundsätzlich immer bemerkenswert, wenn Autorinnen und Autoren in der Öffentlichkeit ein Medium, für das sie arbeiten oder bald gern wieder arbeiten würden, konzertiert kritisieren, denn so oft passiert das ja nun nicht. Die Verfasser*innen des Briefs schreiben:

"Es kann nicht sein, dass linke Zeitungen Inhalten Raum geben, die sich nur in Nuancen von der Hetze erklärter Antifeminist*innen unterscheidet."

Konkret kritisieren sie:

"Die Argumentationen in den transfeindlichen Texten der Jungle World (…) bedienen lediglich sattsam bekannte Ressentiments, die bisweilen von den selben Autor*innen beinahe wortgleich in rechten Medien wie der 'Welt‘ oder dem 'Cicero‘ wiederholt werden."

Und:

"Wir beklagen, dass Transfeindlichkeit in der Jungle World immer wieder eine Plattform bekommt und als zentrales Ideologem des aktuellen Antifeminismus und der Querfront offenbar nicht ernstgenommen wird."

Der Begriff "Querfront" kennt man ja eigentlich aus anderen Kontexten, etwa als Beschreibung für das Milieu vermeintlicher Friedensfreunde.

Das halbe Dutzend ist voll

Transfeindlichkeit war ja 2022 auch eines der Themen, die das "ZDF Magazin Royale" aufgriff, wozu sich unter anderem zwei Transfeindlichkeitskritik-Kritiker der "Jungle World" geäußert haben.

Am Dienstag hat das Grimme-Institut die diesjährigen Grimme-Preisträgerinnen und Preisträger bekannt gegeben (siehe u.a. "Tagesspiegel"), und zu ihnen gehören fünf Macherinnen und Macher des seit 2020 existierenden Formats. Für Jan Böhmernann, das Gesicht der Sendung, ist es bereits der sechste Grimme-Preis.

Warum ist jetzt das halbe Dutzend voll? Die Jury der für Böhmermann zuständigen Kategorie Unterhaltung schreibt in ihrer Begründung:

"Ähnlich wie mehrere amerikanische Late-Night-Shows basierte sein neues Konzept auf einer simplen Überlegung: In einer Welt, in der Politiker:innen wie Clowns agieren, haben echte Clowns keine andere Wahl als selbst politisch zu werden."

Und die Zeit-Online-Ressortleiterin und Unterhaltungs-Jury-Vorsitzende Amna Franzke sagt bei "Läuft", dem Podcast der Zeitschrift "epd Medien" und des Grimme-Instituts, als Jury komme man an dem Format, das "politische Debatten auf eine andere Art" erzähle, "nicht vorbei".

Kompositum der Woche: Krawallballermannbardin

Der Fall Wendler (siehe etwa das Altpapier von vergangenem Donnerstag) ist der Ausgangspunkt für Überlegungen, die Samira El Ouassil in ihrer "Wochenschau" für "Übermedien" anstellt:

"Deutsche Privatsender haben (…) schon häufiger Persönlichkeiten eine öffentliche Bühne bereitet, die später unethisches, rassistisches und sexistisches Verhalten zur Schau stellten. Bei jeder Besetzung eines Ensembles für ihre aktuellen Realityshows befinden sich die Produktionsfirmen in einer Art Mad-Scientist-Situation. Sie sollten verantwortungsvoll mit diesen einzelnen toxischen Elementen aus dem explosiven Periodensystemen umgehen, um nicht von den kleinen Biestern, die sie da mit Sendezeit erschaffen, verfolgt zu werden. Aber Schöpfungen solcher Reality-Fernsehlabore werfen stets die Frage auf: Wie sollen die Sender mit ihren Stars umgehen, wenn deren Skandale plötzlich ans Licht kommen?"

Die spitzenmäßigen Komposita "Krawallballermannbardin" und "'Love Island'-Dauer-Toucher" kommen in der Kolumne auch vor.

Wie kreiert man "demokratisch verantwortungsvolle Algorithmen"?

In der neuen Ausgabe Fachzeitschrift "Communicatio Socialis" ist ein Beitrag erschienen, der sich mit der Frage beschäftigt, wie Nachrichtenmedien "demokratisch verantwortungsvolle Algorithmen" entwickeln können. Wie man das hinbekommt, ist ja eine Frage, die sich vor allem öffentlich-rechtliche Medien stellen müssen.

Martina Skrubbeltrang Mahnke und Simon Karlin beschreiben in ihrem Beitrag eine Fallstudie des dänischen Projekts Platform Intelligence in News (PIN). Dabei kommen sie zu folgendem Schluss:

"Die Einbindung und Umsetzung von journalistischen Werten in konkrete Softwareprozesse nicht nur eine Frage der technischen Umsetzung ist, sondern vor allem eine der Kommunikation. Die Entwicklung wertebasierter Nachrichtenempfehlungssysteme verlangt eine übergeordnete Kommunikationsstrategie, die es den verschiedenen Akteuren ermöglicht, sich auszutauschen und aktiv einzubringen. Die Entwicklung wertebasierter Nachrichtenmpfehlungssysteme verlangt daher zweierlei. Zum einen eine kritische Auseinandersetzung mit der Funktionsweise von Algorithmen und den ihnen zugrunde liegende Werten, und zum anderen ein grundsätzliches Um- und Neudenken des journalistischen Produktionsprozesses, das technische Entwicklungsprozesse aktiv miteinbezieht."


Altpapierkorb (Radio Dreyeckland, Studie zu Antisemitismus bei Twitter, Nannen-Schule)

+++ Die Durchsuchungen der Redaktionsräume von Radio Dreyeckland sowie in Privatwohnungen von Mitarbeitenden des Senders wegen einer Verlinkung auf das frei zugängliche Archiv linksunten.indymedia (Altpapier, Altpapier) beschäftigt nun auch Politiker des baden-württembergischen Landtags. Die Wochenzeitung "Kontext" berichtet: "Der FDP-Abgeordnete Nico Weinmann, der sicher nicht im Verdacht steht, mit 'linksunten.indymedia‘ zu sympathisieren. (…) hat bei der Landesregierung einen Antrag auf Auskunft gestellt: Was wurde alles beschlagnahmt? Wie wurde es ausgewertet? (…)"

+++ Auf eine Untersuchung des Institute for Strategic Dialogue (ISD) und der Firma CASM Technology zu antisemitischen Twitter-Posts geht die FAZ auf ihrer heutigen Medienseite ein: Zwischen Juni 2022 und Februar 2023 sei "die durchschnittliche Menge judenfeindlicher Botschaften pro Woche nach (Elon) Musks Übernahme von Twitter am 27. Oktober um 106 Prozent von 6204 auf 12.762 Mitteilungen gestiegen". Auch die "Washington Post" berichtet.

+++ Die SZ hat in ihrem Medienressort heute eine "positive Nachricht" parat: "Die Journalistenschule Henri Nannen in Hamburg (…) wird weder verkauft noch eingestellt." Angesichts der jüngsten Entwicklungen bei RTL Deutschland, einem der drei Träger der Schule, hätte es einen nicht sonderlich verwundert, wenn es anders gekommen wäre.

Das Altpapier am Donnerstag schreibt Klaus Raab.

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