Das Altpapier am 13. Juni 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 13. Juni 2023 Keine Genregrenzen

13. Juni 2023, 09:38 Uhr

Silvio Berlusconi ist gestorben und erhält auch in Deutschland sehr viele Nachrufe. Seiner deutschen Beteiligung ProSiebenSat.1 geht es auch nicht gut. Außerdem: eine neue Staatsferne-Diskussion und ein Muster-Beispiel für Was-mit-Medien-Lehrbücher. Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Über Silvio Berlusconi

Silvio Berlusconi ist gestorben. Das kam nicht sehr überraschend. Schon "1990 ließ er im Garten seiner Villa in Arcore vor den Toren Mailands ein mächtiges Mausoleum aus Carraramarmor errichten, ganz so als wäre er ein Pharao", erzählt "taz"-Korrespondent Michael Braun in einem Artikel (der nicht der eigentliche Nachruf ist) eine der bildhaften Anekdoten. Tatsächlich starb Berlusconi dann aber gestern mit 86 "an einer chronischen Form von Leukämie. Schon in den vergangenen Wochen und Monaten war Berlusconis Gesundheitszustand immer wieder Teil der Berichterstattung in italienischen Medien", steht im nüchtern nachrichtlichen dwdl.de-Nachruf.

Einerseits erschwert die Faustregel, dass in Nachrufen auf gerade Verstorbene möglichst nichts oder zumindest wenig Schlechtes stehen sollte, Berlusconi-Nachrufe zu schreiben. Schließlich steht zumindest aus deutscher Sicht ungefähr nichts dessen, was Berlusconi machte, in gutem Ruf. Andererseits erleichtert Berlusconis Vielgestaltigkeit die Aufgabe auch nicht. "Der ehemalige Staubsaugerverkäufer und Entertainer, der es zum Multimilliardär und Regierungschef gebracht hatte", zählt etwa der "Tagesspiegel" in einem typischen Satz auf – in dem der für unsere Zwecke wichtigste Aspekt, Medienunternehmer oder "-mogul" (wie in Zeiten, in denen der Plattformkapitalismus Fernseh-Unternehmer noch nicht marginalisierte, gern geschrieben wurde) gar nicht vorkommt. Die "FAZ" behilft sich mit gleich drei Nachrufen in einer gedruckten Zeitung heute: ganzseitig im Politik-Ressort ("Als Politiker blieb er nicht ungeschlagen, aber letztlich unbesiegt", lautet der vorletzte Satz), im Feuilleton ("Silvio Berlusconi war auch der Architekt des kulturellen Verfalls", hält Mailand-Korrespontin Karen Krüger dagegen) sowie im Wirtschaftsressort. Bloß auf der Medienseite und im Sportteil stehen keine; dabei war Berlusconi auch eng mit dem AC Milan verbunden (also nicht dem Mailänder Verein, der gerade das wichtigste Vereins-Finale knapp gegen einen staatlich-emiratischen Club aus Manchester verlor, sondern der andere).

"Seine Affären waren so bunt wie das Unterhaltungsprogramm seiner Sender", beginnt der Nachruf auf der "SZ"-Medienseite. Allerdings driftet Willi Winkler schnell ins Hardcore-Feuilleton. Gleich in den ersten drei Sätzen werden Friedrich Nietzsche, Gott und Robert Altman erwähnt. Adolf Grimme (bzw.  "die Jünger von Adolf Grimme", die "über die existenzphilosophischen Nuancen zwischen Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre stritten"), Hugo Egon Balder sowie Sabine Christiansen u.v.a.m. kommen dann auch noch zu Ehren ... "Vor allem aber war Berlusconi ein begnadeter Unterhaltungskünstler, ein Avantgardist der Postmoderne", steht im Nachruf auf cicero.de. Da schreibt Alexander Grau:

"Im Grunde war Silvo Berlusconi immer ein Komödiant, für den eine Bühne nicht genug war und der sich sein Publikum überall suchte – in der Unterhaltungsshow, im Fußballstadion, in der Politik. Dass er dabei keine Genregrenzen akzeptierte, machte Berlusconi auf eine irritierende Art modern, ja postmodern."

Frei online verfügbar ist Rüdiger Suchslands kritischerer Beitrag "Die perfekte Maske der Macht" bei "Telepolis". "Berlusconi war das Original aller postdemokratischen Populisten und Demagogen", bringt er auf den Punkt. Und außer ebenfalls "postmodern" kommt das Adjektiv "postfaktisch" auch noch vor.

Z.B. die auf Twitter notierte Beobachtung "Das Bild hat im Vorbeiscrollen ausgeschaut wie eine Aufnahme von Mao Zedong" bringt auf den Punkt, dass Berlusconi auch auf sein eigenes Äußeres achtete und, nicht immer glücklich, bis ins hohe Alter daran schrauben ließ. Insofern sind auch eher visuell orientierte Nachrufe aussagekräftig. "Nine of his most memorable moments" stellte Springers "Politico" zusammen (wobei auch der Beinahe-Bundeskanzler Schulz, nicht zu verwechseln mit dem aktuellen Amtsträger, zu Ehren kommt). Eine echte Empfehlung ist diese Zusammenstellung des schweizerischen bzw. sehr kosmopolitischen, auch im "Spiegel" zeichnenden Karikaturisten Patrick Chappatte.

Warum nicht eine europäische Privatsender-Gruppe?

Die jüngste da zu sehende Karikatur stammt von 2013. Heißt: Seither macht Berlusconi international nicht mehr sehr viel her (auch wenn seine Partei ja als kleiner Koalitionspartner die derzeitige italienische Meloni-Regierung stützt). In einem speziellen Biotop allerdings wirkte Berlusconi weiter noch tief bis ins vorige Jahr (Altpapier) international: als Schreckgespenst in der deutschen Medienpolitik. Im März '22 hatte Markus Söders Bayern eine "Novelle des Bayerischen Mediengesetzes zur langfristigen Sicherung der Unabhängigkeit und Vielfalt des privaten Rundfunks" beschlossen (Altpapier), die auch als Lex Berlusconi galt. In diesen bayerischen Diskussionen war auch von "Staatsferne" die Rede, womit aber nicht der deutsche Staat gemeint war, sondern der italienische.

Hintergrund: Weiter ist Berlusconis Medienkonzern, der inzwischen den hübschen Namen "Media for Europe" trägt, mit "rund 30 Prozent ... der mit Abstand größte Gesellschafter" der Unterföhringer ProSiebenSat.1-Gruppe (dwdl.de). Meiner Ansicht nach sprach und spricht das vor allem dafür, dass deutsche Medienwächter das (Privat-)Fernsehen grotesk überschätzen und aktuellen Medien-Entwicklungen weit hinterher hinken.

Tatsächlich droht der ehemalige Dax-Konzern P7S1 ja weiter an Bedeutung zu verlieren. Tagesaktuell erregt Aufsehen, dass der Unterhaltungs-Chef Wolfgang Link den Konzern verlässt (dwdl.de). Die "SZ"-Medienseite berichtet heute, dass die Organisation der deutschen Mediaagenturen (OMG) die Idee des P7S1-Chefs Bert Habets, "alle deutschen Sender für eine gemeinsame Streaming-Plattform (zu) gewinnen", mit der Habets bislang ziemlich alleine stand, unterstützt. "Nur wenn es weiter Medien- und Meinungsvielfalt in Deutschland gibt, wird es auch weiter einen funktionierenden Werbemarkt geben", lautet ein Argument der Agenturen. Das klingt wunderlich – als sei es die Aufgabe der Meinungsvielfalt, den Werbemarkt zu stützen. Im Kern haben die Agenturen aber recht: Der deutsche Privatfernseh-Markt, der zeitweise groß war und mit P7S1 und RTL zwei international erfolgreiche Unternehmen hervorbrachte, droht den Bach runterzugehen, auch wegen medienpolitischer und kartellrechtlicher Fehleinschätzungen.

Da nun das Schreckgespenst Silvio Berlusconi fort ist: warum nicht eine europäische Privatsender-Allianz fördern? Zumal an P7S1 außer den Italienern mit Firmensitz in den Niederlanden auch andere Europäer beteiligt sind, etwa tschechische Firmen mit Beteiligungen in Frankreich, aber auch allerhand südosteuropäischen Ländern. Einen lesenswerten dwdl.de-Artikel dazu hatte ich neulich schon mal empfohlen.

Europäischen Unternehmen Chancen zu bieten, sich gegenüber den hyperdominanten Plattform-Konzernen vor allem aus den USA behaupten zu können, wäre eine sinnvolle Aufgabe für konstruktive Medienpolitik. Wie sehr US-amerianische und asiatische Konzerne die Medien dominieren, zeigt immer am besten die Rangliste der "größten Medien- und Wissenskonzerne" des Kölner Instituts für Medien- und Kommunikationspolitik: Auf mediadb.eu sind neuerdings übrigens nicht mehr nur die 50, sondern die 100 größten Konzerne aufgelistet. Heißt: Die kleineren Fische P7S1 (Platz 51) und der Berlusconi-Konzern (58) sind nun auch drauf.

Medienpolitik in Potsdam und Kiel

"Staatsferne" spielt in der deutschen Medienpolitik rhetorisch eine große Rolle, in der Praxis eine oft kleinere. Aktuell könnte man sich über einen achtzeiligen Brief von Brandenburgs Ministerpräsident Woidke (SPD) an den Verwaltungsrat des RBB kurz vor der Intendantenwahl aufregen. "Medienpolitiker sehen einen Eingriff in die Rundfunkfreiheit", schreibt rbb24.de und zitiert nicht nur einen CDU-Vertreter. Wobei Woidke in der Sache, mit rechtzeitigen "Hinweisen zur Deckelung des Gehalts" auf dem Chefposten, recht hat. Zumindest frühere Aufsichtsgremien hätten solche Ratschläge gut gebrauchen können ... Gut jedenfalls, dass der RBB selbst berichtet. Staatsferne beweisen muss und kann ja weniger die Politik als es die Anstalten in ihren Angeboten selber tun müss(t)en.

Den Vorwurf nicht links genug zu stehen, verdient der NDR insgesamt eher nicht. Aber in Schleswig-Holstein im vorigen August gab es Kritik an "zwei Führungskräften des Landesfunkhauses Kiel, die nach Ansicht ihrer Kritikerinnen und Kritiker für eine 'zu 'große Nähe' zur CDU-geführten Landesregierung" stehen" (Altpapier). Die strukturelle, nicht zuletzt in Aufsichtsgremien angelegte Nähe zwischen Landesrundfunkanstalten und -funkhäusern einerseits, den Regierungen des jeweiligen Bundeslands andererseits erscheint oft problematisch.

Nun aber hatte der schleswig-holsteinische NDR sozusagen gegengesteuert und der Landesministerin Karin Prien (CDU) eine Menge "Rassismus"-Vorwürfe beschert. Scheinbar nicht zu Unrecht, weil Prien über eine grüne Ministerkollegin – in Kiel regiert eine schwarz-grüne Koalition – den Satz "Natürlich ist Aminata Touré durch ihre eigene Fluchtgeschichte geprägt" sagte. Wobei der in einem Radiobeitrag zu hörende Satz durch den "journalistischen Taschenspieler-Trick, sich durch eine geschickte Suggestivfrage bestimmte Antworten zu erschleichen", hervorgerufen wurde. Das beschreibt Martin Niewendick für uebermedien.de:

"Der Ton von Karin Priens Aussage deutete, wenn man aufmerksam hinhörte, darauf hin, dass die Politikerin nur auf eine entsprechende Interview-Frage reagierte und lediglich die darin aufgestellte These aufgriff. Tatsächlich war es genau so. Der Reporter hatte die Frage gestellt: 'Ist Aminata Touré zu sehr von ihrer eigenen Geschichte beeinflusst und sieht den Blick für die Realität nicht?' Die Frage ist aber im Beitrag nicht zu hören.

Am Freitag hat der NDR – nach zwei Tagen öffentlicher Empörung – den Mitschnitt des gesamten Gesprächs im Netz veröffentlicht. 'Aus Transparenzgründen', wie der Sender schreibt, weil sie Prien 'verkürzt zitiert sieht'. Es stellt sich heraus: Nicht nur hat Prien bis zu diesem Zeitpunkt im Gespräch ihre Grüne Kabinettskollegin mit keiner Silbe erwähnt. Auch verwies sie in ihrer Antwort explizit auf ihren eigenen jüdischen Hintergrund. Aber auch dieser Teil wurde von NDR Info aus der Antwort herausgeschnitten."

Bei der bei uebermedien.de verlinkten Veröffentlichung auf ndr.de handelt es sich allerdings um fast ein reines Audio im Schleswig-Holstein-Ressort, das den Kontext kaum erklärt. Umso verdienstvoller dass uebermedien.de (das eher nicht generell mit der CDU sympathisiert) sich der Sache angenommen hat und sie umso ausgiebiger erklärt. Das Beispiel kann in deutschsprachige Lehrbücher eingehen – vermutlich sowohl Lehrbücher dafür, warum man Entkontextualisierung besser vermeiden sollte, als auch dafür, wie man Schlagzeilen und Interaktion erzeugt (indem man aufs Vermeiden verzichtet). In Medien ist schließlich beides wichtig.

Altpapierkorb (MDR-Prozess, RBB-Wahl, Sachverständige in Rundfunkräten, "Message Control", "Talkshowmoderator-Modus")

+++ "Doch was nützt es mir, wenn ich mir nach einem jahrelangen Rechtsstreit von den zurückgezahlten Beiträgen eine Torte leisten kann, zwischendurch aber nicht genug Geld für Brötchen habe?" Sagt ein Student, der mit dem MDR [in dessen Angebot diese Kolumne erscheint] über den Rundfunkbeitrag streitet, zur "FAZ". Die berichtet ausführlich unter der Online-Überschrift "Rundfunkbeitrag ohne Gnade". +++

+++ Von einer zwar rein symbolischen, aber deutlichen Abstimmung beim RBB-Personal über den künftigen Intendanten (denn eine Intendantin würde es nicht ...) berichtet der "Tagesspiegel". +++

+++ Volker Nünning hat für medieninsider.com einen frischen Spin zur (eben oben schon gestreiften) Frage, wie die Aufsichtsgremien besetzt werden sollten, nämlich diese Gegenüberstellung: "Rund 27,5 Millionen Euro. So viel können die Intendanten von ARD, ZDF und Deutschlandradio ausgeben – pro Tag. Das ist der Durchschnitt des Gesamtetats des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ... ...  23 Euro. So viel bekommt der RBB-Verwaltungsratsvorsitzende im Schnitt pro Tag dafür, dass er die Arbeit der Intendantin und des Rests der Anstalt kontrolliert. Das sind umgerechnet 700 Euro im Monat. Der Vorsitzende ist damit der Spitzenverdiener unter den Kontrolleuren". Der Vergleich hinkt einerseits etwas, schließlich kontrollieren die Gremienmitglieder nicht hauptberuflich. Worin aber andererseits mindestens ein Teil der Probleme liegt. +++

+++ Wie CNN beim Hofieren von Trump-Fans nicht voran kommt, sondern unter wachsender Konkurrenz von Twitter leidet, schildert die "taz". +++

+++ Dann noch auf der "FAZ"-Medienseite: ein Interview mit Gerald Fleischmann, einst Sprecher des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz, über das Konzept (und sein Buch) "Message Control". Fleischmann demonstriert ungebrochenes Selbstbewusstsein, obwohl Kurz' Karriereweg ja doch kräftig gebrochen wurde. +++ Und eine Vorschau auf die Weltfunkkonferenz in Dubai ab November. Auf die wichtigen Fragen, die dort verhandelt werden, scheint die deutsche Bundesregierung Helmut Hartung unvorbereitet zu sein. +++

+++ "Die re:publica ist Deutschlands wichtigste, weil einflussreichste Digitalkonferenz und das mit Abstand", bilanziert Thomas Knüwer auf indiskretionehrensache.de, kritisiert aber "mangelnde Debatte" auf zu vielen Podien. Das "war leider zu oft auch den ModeratorInnen geschuldet, denn manchmal waren sie zu sehr auf der Seite der Vortragenden oder Interviewten, zu oft verfielen sie in einen Talkshowmoderator-Modus".

Das nächste Altpapier schreibt am Mittwoch René Martens.

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