Das Altpapier am 06. Juli 2023: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 06. Juli 2023 Welpen und Fettnäpfe

06. Juli 2023, 11:45 Uhr

Ist eine bessere digitale Welt noch möglich? Ist der Verlauf der Debatte um die künftige Moderation des "Mittagsmagazins" wieder ein Beispiel für die Kommunikationsunfähigkeit der ARD? Fehlte es bisher an einer Einordnung der gefälschten "Hitler-Tagebücher" in die politischen und geschichtswissenschaftlichen Deutungskämpfe der frühen 1980er Jahre? Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Die neue Pest ist da, aber noch nicht in Europa

Am Mittwoch hat die Feuerwehr Hamburg eine Fliegerbombe entschärft, und normalerweise wäre das an dieser Stelle keine Erwähnung wert. Dieses Mal aber schon, weil sich ein Bezug zu den neuen Beschränkungen für die Nutzung von Twitter herstellen lässt, die am Montag hier Thema waren: Die Feuerwehr konnte die Bevölkerung nicht via Twitter informieren, weil ihr "Zugriffslimit erreicht" war.

Die Meldung forciert natürlich mal wieder die Überlegungen, ob man Twitter überhaupt noch nutzen sollte - und sie bestätigt die These, dass es dort "kein Mindestmaß an Zuverlässigkeit mehr" gebe, wie es der "Spiegel" in einer Zwischenüberschrift der neuen Sascha-Lobo-Kolumne formuliert.

Aber nun gibt’s ja eine (weitere) Twitter-Alternative: Threads aus dem Hause Meta. Jedoch:

"Aus Datenschutzsicht kommt die Wahl zwischen Threads und Twitter (…) einer zwischen Pest und Cholera gleich. Alle großen Plattformen arbeiten nach den Prinzipien des Überwachungskapitalismus und horten so viele Daten wie sie nur können (…) Threads wird an dem Geschäftsmodell rein gar nichts ändern. Allerdings hat das viele bislang schon nicht daran gehindert, Twitter zu nutzen – mich eingeschlossen."

Das schreibt Markus Beckedahl bei netzpolitik.org. Unter der Zwischenüberschrift "Eine bessere digitale Welt ist immer noch möglich" stellt er dann Überlegungen an, die weg führen von der Threads-Einführung:

"Meine größte Hoffnung ruht noch immer auf dem dezentralen Fediverse. Ob dieses nun weiter anwächst, muss sich erst noch zeigen. Dort gibt es verschiedene Lager: Die einen wollen eine möglichst inklusive und gemeinwohlorientierte Infrastrukutur für eine globale Öffentlichkeit schaffen. Andere wollen hingegen nur ihren eigenen kleinen Garten hegen und pflegen. Ein solcher Anspruch ist vollkommen in Ordnung, gerade wenn die Moderationsarbeit im Fediverse ehrenamtlich erfolgt. Aber leider steht diese Haltung auch dem Ziel entgegen, eine globale Öffentlichkeit zu schaffen, wie sie Twitter einst bot."

In Europa wird die "Pest" (Beckedahl) vorerst nicht ausbrechen, denn - noch - spricht auch auf politischer Ebene Datenschutzrechtliches dagegen (siehe "The Independent")

Was könnten Argumente für Threads sein? Der Komfortfaktor. Dazu der bereits erwähnte Lobo:

"Threads wird halbautomatisiert sehr eng an Instagram geknüpft, sodass es für die 1,3 Milliarden Nutzer*innen von Instagram vom Start weg attraktiv sein wird, es auszuprobieren. Zum Beispiel kann man auf Threads mit ein paar Klicks den gleichen Leuten folgen wie auf Instagram."

Und dann ist da noch die im weiteren Sinne politische Komponente. Lobo once again:

"Nicht-rechte, aktive Twitternutzer*innen haben (…) einen hohen Anreiz, das neue Netzwerk auszuprobieren."

Warum? Es folgt ein bekanntes Argument, allerdings mit einer Wort- und Bildgewalt vorgetragen, die ihm zumindest eine leichte Frische verleiht:

"Elon Musk ist zu einem offen rechtsgerichteten, menschenfeindlichen Trollmilliardär geworden, ausgestattet zudem mit einer Impulskontrolle, für die sich selbst sechs Monate alte Welpen mit ADHS schämen würden."

Die "Washington Post" wiederum schreibt eher Abschreckendes zu "Zuckerbergs Twitter-Klon": Es gebe "keine Möglichkeit", in Threads nur die Beiträge von Accounts anzuzeigen, denen man folgt, und es sei auch nicht möglich, "den Feed chronologisch zu ordnen - stattdessen wird er nach dem geordnet, was der Threads-Algorithmus für besonders interessant hält".

Kein Tag ohne Debatte um die MiMa-Zukunft

Ab 2024 ist auf Seiten der ARD bekanntlich der MDR für das "Mittagsmagazin" von ARD und ZDF zuständig. Dass dann mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit nicht mehr Nadia Kailouli und Aimen Abdulaziz-Said die Sendung moderieren werden, wissen wir seit dem Wochenende (Altpapier), als beide bei Twitter wortgleich darüber informierten, dass nach Wunsch von MDR-Chefredakteurin Julia Krittian "die künftige Moderation einen ost-deutschen Hintergrund haben" solle.

Letzteres dementierte Krittian im "Tagesspiegel", woraufhin wiederum die "Zapp"-Redaktion auf Quellen verwies, die das von den Moderierenden Gesagte bestätigen (Altpapier von Mittwoch). Für "Übermedien" hat nun auch Andrej Reisin mit Leuten gesprochen, die die Darstellung der beiden Moderierenden (und die von "Zapp") untermauern. Er schreibt nun:

"Verschiedene Personen bestätigen, dass Krittian eine solche Aussage intern explizit getroffen haben soll, auch gegenüber dem bisherigen 'MiMa'-Team vom RBB (…) Wenn das zutrifft, hat Krittian in ihrem Dementi also öffentlich die Unwahrheit gesagt. Das wäre auch deshalb bemerkenswert, weil Krittian damit die beiden RBB-Moderatoren Abdulaziz-Said und Kailouli indirekt der Lüge oder zumindest des groben Missverstehens bezichtigt – was rufschädigend ist für die beiden. Ob sie das auf sich sitzen lassen, ist unklar. Bisher haben sich Abdulaziz-Said und Kailouli dazu nicht weiter geäußert, auch auf Anfrage von Übermedien nicht.

Generell, so Reisin, lasse sich sagen:

"Mit der aktuellen Debatte tritt die ARD mal wieder kommunikativ in einen Fettnapf, auf verschiedenen Ebenen."

Zum Beispiel deshalb:

"Offenbar hat niemand mit Abdulaziz-Said und Kailouli so über die veränderte Situation gesprochen, dass diese sich in irgendeiner Form eingebunden oder auch nur gut behandelt gefühlt haben."

Außerdem moniert Reisin Insuffizienz bei der Kommunikation nach außen (auch das klang gestern an dieser Stelle schon an):

"Auf unsere recht einfache und konkrete Nachfrage beim MDR, ob die Äußerung mit dem 'ostdeutschen Hintergrund' so gefallen ist, geht der Sender nicht ein – und antwortet ausweichend."

Die Erfahrung, dass Kommunikationsverantwortliche der ARD Fragen nicht immer konkret beantworten, dürften auch andere Medienjournalistinnen und Medienjournalisten hin und wieder gemacht haben. Zwar nicht um Antwortvermeidungen der einzelnen Landesrundfunkanstalten, sondern um die buzzword-lastige Generalstrategie der ARD-Pressestelle, die an "schlechte PR von ganz bösen Unternehmen in den 90er Jahren" (Claudia Tieschky) erinnert, geht es im aktuellen Podcast von epd Medien und Grimme-Institut. Insofern bietet er sich möglicherweise als ergänzende Hörlektüre zur Kritik an der MDR-Pressestelle an.

Machtfragen beim WDR

Da der MDR in dieser Woche an dieser Stelle viel abbekommen musste, weisen wir gern darauf hin, dass auch zum Beispiel der WDR immer wieder was zu, äh, bieten hat. Kürzlich haben wir Sabine Rollberg, die rund 40 Jahre für den WDR tätig war, mit folgenden Worten zitiert:

"Während die Digitalisierung in vielen Industriezweigen dazu geführt hat, dass die Hierarchien flacher und horizontaler geworden sind, bewegten sich die Sender in den letzten Jahren in die entgegengesetzte Richtung."

Gesagt hatte sie's im Februar auf einer Tagung ("Neustart ÖRR: Wie weiter mit 'unseren Medien’?"). Rollbergs Ex-Arbeitgeber hat diese These gerade wieder bestätigt. Für die Berichterstattung aus den elf Landesstudios hat der WDR Anfang Juni eine zusätzliche Hierarchieebene eingezogen: ein siebenköpfiges Leitungsteam. Inwiefern das mehr Macht für die Zentrale bedeutet - und weniger Macht für die Landesstudios, also die kompetenten Journalisten vor Ort -, steht in meiner Kolumne für die neue Ausgabe des "Medium Magazins", die heute erscheint.

Die "Hitler-Tagebücher" im Kontext ihrer Zeit

Im April jährte sich zum 40. Mal die Veröffentlichung von Auszügen aus den gefälschten "Hitler-Tagebüchern" im "Stern", und insofern hinkt Maximilian Kutzner mit seinem Beitrag zum Thema in der neuen Ausgabe der "Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte" etwas hinterher. Aber das mit den Jahrestagen ist ja eher Journalisten-Gedöns, das Historiker nicht interessieren muss. Erhellend ist Kutzners Beitrag für die Zeitschrift des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) allemal. Er schreibt:

"Das Erkenntnispotenzial einer Geschichte der gefälschten Hitler-Tagebücher liegt weniger in den Tagebüchern selbst als in deren Entstehungsbedingungen und Kontexten. Warum fallen die Anfertigung und Veröffentlichung gerade in jene Phase der bundesdeutschen Geschichte?"

In dieser Zeit habe sich "das Verhältnis von Geschichte, Öffentlichkeit und Wissenschaft grundlegend gewandelt", und "aus diesem Blickwinkel ist die Affäre um die gefälschten Hitler-Tagebücher mehr als eine Groteske".

Was passierte in dieser "Phase" genau?

"Eine Welle der 'Nostalgie' sorgte für eine positive Überlagerung der Vergangenheit und schuf Tendenzen einer Ex-post-Verklärung. Zugleich veränderte sich die Erinnerung an den Nationalsozialismus, wobei die Opfer der Verfolgung und der Holocaust als Prozess immer stärker ins öffentliche Bewusstsein rückten."

Kutzner kritisiert:

"Die Mehrzahl der Darstellungen verengt die Affäre um die gefälschten Hitler-Tagebücher stark auf die Beziehung zwischen Heidemann und Kujau."

Das gilt zum Beispiel für die letzte von mir wahrgenommene TV-Produktion zum Thema: den Dreiteiler "Der Hitler-Fake: Geschichte einer Jahrhundertfälschung", der aus immerhin interessanten Gründen missglückt ist - und über ich den nach der Ausstrahlung bei "epd Medien" geschrieben habe (republiziert bei Tumblr unter der Headline "Hitler, Heidemann, Billy Idol, Madness")

Warum ist es "unterkomplex", das Thema auf diese Männerfreundschaft zu reduzieren?

"Die Vorgänge fallen, wie bereits angedeutet, in eine Zeit vielfältiger Entwicklungen im öffentlichen Umgang mit Geschichte, insbesondere mit der des Nationalsozialismus, in Westeuropa und den USA. Es gilt, das Geschichtsbewusstsein der 1970er und frühen 1980er Jahre multiperspektivisch zu beleuchten."

Nicht zuletzt:

"In der politischen Sphäre gab es zeitgleich den Versuch, Historie zu vereinnahmen. Der Umgang mit dem Dritten Reich und vor allem seine Einordnung in die deutsche Geschichte wurden zum Gegenstand teils hitziger Debatten, die im Zeichen von Geschichtspolitik ausgetragen wurden. Die Konfliktlinien verliefen dabei zumeist entlang der Parteigrenzen. Nach der Ablösung der sozialliberalen Koalition durch ein Bündnis von CDU/CSU und FDP unter Bundeskanzler Helmut Kohl im Oktober 1982 gab es verstärkte Bestrebungen, die deutsche Geschichte nicht auf das Dritte Reich zu verengen (…) In diese Deutungskämpfe der frühen 1980er Jahre platzten die angeblichen Hitler-Tagebücher, die nun die Möglichkeit zu eröffnen schienen, zentrale Handlungs- und Ereigniskomplexe wie die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs oder die Ermordung der europäischen Juden neu zu verhandeln. Kujau hatte in seinem Machwerk ein Bild gezeichnet, das Hitler von der Verantwortung weitgehend entlastete."

Spätestens in ein paar Jahren werden wir vom IfZ wieder etwas hören zu den "Hitler-Tagebüchern", weil es von Bertelsmann mit einer Studie zur Geschichte des "Stern" beauftragt wurde. In der soll für die Zeit ab 1948 "die Frage nach politischen, personellen und inhaltlichen Verflechtungen und Verbindungen zur Zeit des Nationalsozialismus" untersucht werden. Der Untersuchungszeitraum reicht bis 1983, also bis zur Veröffentlichung der "Hitler-Tagebücher".


Altpapierkorb (Überfall auf Jelena Milaschina, Überlegungen zu Intendantengehältern, Überlegungen zur Presseförderung, Sommerfest der Produzentenallianz, "Eldorado")

+++ "Dass Journalistinnen und Journalisten in Lebensgefahr schweben, wenn sie in Russland ihre Arbeit machen, ist nichts Neues. Der Überfall auf Jelena Milaschina und den Anwalt Alexander Nemow in Tschetschenien aber hatte eine neue Qualität." Das schreibt Sonja Zekri in der SZ über die Attacke auf die russische Investigativjournalistin. Sowohl Zekri als auch der "Spiegel" beschreiben diese "Qualität" in aller Deutlichkeit. Bernhard Clasen bemerkt im ND, dass westliche Betrachter "gern ignorieren", dass Milaschina "auch den Westen" kritisiere. "Im April 2021 hatte (sie) den Deutsch-Französischen Menschenrechtspreis aus Protest gegen die Abschiebung des Tschetschenen Magomed Gadajew von Paris nach Moskau zurückgegeben."

+++ Vom "Vorbild MDR" ist aktuell beim "Tagesspiegel" die Rede, weil das Gehalt unseres künftigen Intendanten relativ bescheiden ausfällt (vgl. Altpapierkorb am Mittwoch). Dass "die SPD-geführte Landesregierung in Saarbrücken per Gesetz das Intendantengehalt beim Saarländischen auf 180.000 Euro deckeln" wolle, steht ebenfalls in dem Text. "Ausführlicheres zu den Plänen im Saarland findet sich in einem dpa/"Spiegel"-Artikel.

+++ Dass der BDZV gerade vorgerechnet hat, "dass bis 2025 rund 4400 Kommunen von gar keiner Lokalzeitung mehr beliefert werden könnten", ist der Ausgangspunkt für einen Überblicksartikel zur Lage beim Thema Presseförderung, den Leif Kramp und Stephan Weichert für die SZ geschrieben haben. "In den Ministerien schiebt man sich die Verantwortlichkeiten für eine Presseförderung gegenseitig zu. So richtig zuständig fühlt sich seit Monaten niemand", konstatieren sie. Siehe dazu auch dieses ein Vierteljahr alte Altpapier.

+++ Wie sich der "unerwartete Kollaps von Sky Deutschland, das keine deutschen Produktionen mehr in Auftrag gibt" (siehe dieses und dieses Altpapier), auf die Stimmung beim Sommerfest der Produzentenallianz auswirkte und worüber Stargast Olaf Scholz redete (nicht über irgendwas mit Film, sondern übers Lesen gedruckter Zeitungen) - darüber berichtet die FAZ heute auf ihrer Medienseite.

+++ Die historische Netflix-Dokumentation "Eldorado – Alles, was die Nazis hassen" von Benjamin Cantu und Matt Lambert empfiehlt Nadine Lange im "Tagesspiegel": "Vor allem für das Mainstream-Publikum, das nicht mit deutscher LGBTIQ-Geschichte vertraut ist, entwirft sie ein fesselndes Bild von der Freiheit und der Vielfalt des queeren Lebens im Berlin der zwanziger und frühen dreißiger Jahre."

Das Altpapier am Freitag schreibt Klaus Raab.

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