Das Altpapier am 19. Mai 2023: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 19. Mai 2023 Alle Macht den Redaktionen!

19. Mai 2023, 11:44 Uhr

Während die Digitalisierung in manchen Branchen dazu geführt hat, dass die Hierarchien flacher wurden, passierte im öffentlich-rechtlichen Rundfunk das Gegenteil. Das Landgericht Karlsruhe stellt in einem "wegweisenden Beschluss" klar, dass Verlinken kein Verbrechen ist. Die griechische Polizei behindert die Berichterstattung über Flüchtende an der EU-Außengrenze. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Öffentlich-rechtliche Inhalte sollten keine Ware sein

Jürgen Döschner und Sabine Rollberg haben jeweils fast 40 Jahre für den WDR gearbeitet. Rollberg wurde bereits vor mehr als einem halben Jahrzehnt "in die vorzeitige Pension gemobbt", wie die "Medienkorrespondenz" damals schrieb (siehe Altpapier). Der Energie- und Klimaexperte Döschner geht offiziell am 1. Juni in Pension, und auch sein Verhältnis zum Sender in den vergangenen Jahren wäre mit "friedliche Koexistenz" wahrscheinlich ziemlich ungenau beschrieben (siehe Altpapier).

Sowohl von Döschner als auch Rollberg kursieren gerade aktuelle Debattenbeiträge, in denen sich direkte oder indirekte Kritik am (ehemaligen) Arbeitgeber ausmachen lässt. Rollberg ist vertreten in der heute erschienenen Ausgabe von "epd Medien", in der Impulsvorträge der Konferenz "Neustart ÖRR: Wie weiter mit 'unseren Medien'?" dokumentiert sind. Die Veranstaltung am 27. Februar in Berlin hatte unter anderem das Institut für Medien- und Kommunikationspolitik organisiert. Rollberg beschreibt in ihrem Vortrag die Schwächung von (Fach-)Redakteuren und zeichnet, wie es im Vorwort des Hefts heißt, "vom Innenleben der öffentlich-rechtlichen Sender (…) ein verheerendes Bild". Zum Beispiel so:

"Wie konnte es dazu kommen, dass die Redaktionen inzwischen nicht mehr die Wirbelsäule der Sender sind? Was ist passiert, dass den Sendern das Rückgrat abhanden gekommen ist? Ich wage zu behaupten, dass ganz wenige Redakteur:innen heute noch über Dramaturgie, Qualität eines Filmes diskutieren können, sie sehen Programme als Produkte, als Ware. Ich will das Rad nicht zurückdrehen, wir leben inzwischen in einer digitalen Welt, es geht um andere Verbreitungswege, aber es geht um Programm, um Qualität, Glaubwürdigkeit, Einzigartigkeit und Innovation, egal ob gestreamt oder gesendet wird."

Das Problem bestehe nun aber darin, dass "heutige Redaktionen Experten in Zuschauerwanderung oder Zielgruppenbestimmung" seien. Rollbergs "Anliegen" dagegen ist,

"bei der notwendigen Reform nicht nur an neue Wege zu denken, um das junge Publikum zu erreichen, sondern an Inhalte, an soliden, kreativen innovativen Content."

Rollberg als einsame Ruferin in der Wüste zu bezeichnen, wäre vielleicht übertrieben, aber dass diese zugegebenermaßen allgemein gehaltene Forderung in der Debatte um die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks unterrepräsentiert ist, lässt sich schon sagen. Stattdessen referieren Medienjournalisten ja lieber die vom ARD-Vorsitzenden Kai Gniffke im Start-up-Heini-Jargon vorgetragenen Visiönchen zu technischen Innovationen bei der ARD-Mediathek.

Zu den vielen gepfefferten Sätzen in dem Vortrag gehört auch dieser:

"Während die Digitalisierung in vielen Industriezweigen dazu geführt hat, dass die Hierarchien flacher und horizontaler geworden sind, bewegten sich die Sender in den letzten Jahren in die entgegengesetzte Richtung."

Rollbergs Fazit:

"Eine Reform des öffentlichen Rundfunks gelingt in meinen Augen nur, wenn die Machtstrukturen verändert werden und in den Sendern wieder mehr Wertschätzung für die Menschen entwickelt wird, die das machen, was öffentlich-rechtliche Sender ausmacht."

Mehr Wertschätzung für die Redakteurinnen und Redakteure also. Aber: Wenn "die Machtstrukturen verändert" würden, wäre das eine Entwicklung, die gefühlt mehr mit einer Revolution als mit einer Reform gemein hat. Die Voraussetzungen für solche Veränderungen: Die Parteienvertreter und die parteinahen Mitglieder in den Gremien müssten sich für Führungspersonen entscheiden, die mit den heutigen nur wenig gemein haben, was natürlich auch bedeutet, dass Wählerinnen und Wähler erst einmal Politikerinnen und Politiker in die Landtage wählen müssten, die an der Veränderung der "Machtstrukturen" in der ARD ein Interesse haben.

Jürgen Döschner wiederum, um auf ihn nun endlich zu kommen, hat am Mittwoch seine letzte "Tacheles"-Kolumne für das WDR-Programm Cosmo produziert. Er kritisiert dort unter anderem:

"RWE (…) hat alles getan, um den Ausstieg aus der gewinnbringenden Braunkohle zu verzögern, und dabei auch Druck auf Medien und Journalistinnen gemacht. Allein bei der Umstellung der Gebäudeheizungen auf klimafreundliche Alternativen geht es um hunderte Kilometer Gasnetz im Wert von über 300 Milliarden Euro, die dadurch wertlos würden (…) Medien müssen solche Zusammenhänge aufdecken (…) Und sie müssen vor Druck von wirtschaftlicher und politischer Seite geschützt werden."

Dass nicht zuletzt der WDR, das größte Journalismus-Unternehmen im RWE-Kernland, mehr über "solche Zusammenhänge" berichten sollte - diese Forderung lässt sich aus dem Text durchaus herauslesen. Dass ausgerechnet diese Kolumne (nicht nur die letzte Ausgabe) nur linear zu hören war und beim WDR keine Audio- oder Textfassung davon abrufbar ist, kann man bezeichnend finden. Archiviert hat sie allerdings Döschner selbst, zum Beispiel bei Mastodon.

Angst in London, Nervosität in Unterföhring

Wer sich vermutlich vergleichsweise selten politischem Druck ausgesetzt sieht: das Pay-TV- und Streamer-Gewerbe. Das ändert sich nun aber offenbar durch "die bislang heikelste Doku-Serie des Jahres", wie dwdl.de den Gebrüder-Beetz-Vierteiler "Juan Carlos - Liebe, Geld, Verrat" nennt. Er startet am Sonntag bei Sky Deutschland - aber nicht beim Schwestersender in Großbritannien. Der "Rückzieher" der Sky-Leute in London ist der Anlass des Beitrags:

"Offenbar (wurden) Anwälte losgeschickt (…), um eine Ausstrahlung zu verhindern. Mutmaßlich in UK, weil die englischsprachige Fassung deutlich mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird als die deutsche Sprachversion (…) Nach DWDL-Informationen will man sich in Großbritannien noch einmal juristisch absichern, bevor man das Programm aus Deutschland übernimmt."

Dass sich ein Sender "juristisch absichert", nachdem die Weltpremiere (in diesem Fall beim Cannes International Series Festival) und die Deutschland-Premiere (Dokfest München) bereits stattgefunden haben, wäre allerdings unorthodox – um es zurückhaltend zu formulieren. Auch "in Unterföhring", also bei Sky Deutschland, sei man nun "nervös", meint dwdl.de-Autor Thomas Lückerath.

Worum geht es in der Serie? Der "Freitag" schreibt:

"Vergessst Charles und Camilla, Harry und Meghan - im Vergleich zu dem, was sich am spanischen Königshof abspielt, sind das alles bedeutungslose Ränkespiele (…) Vorteilsnahme, Steuerhinterziehung, Geldwäsche, und das in großem Stil stehen auf (Juan Carlos’) Agenda, zwielichtige Männerfreundschaften mit den üblichen Verdächtigen von Mohammed bin Salmann bis Nursultun Nazarbajew."

Die "Sunday Times" machte bereits vor rund zwei Wochen mit 18.000 Zeichen den ersten großen Aufschlag, vermutlich, weil man dachte, dass das Thema am Coronation-Wochenende gut platziert ist:

"Laut 'Forbes' hat Juan Carlos bis zu 1,8 Milliarden Euro (1,6 Milliarden Pfund) angehäuft. Die zentrale Frage in diesem nicht enden wollenden königlichen Skandal lautet: Woher stammt das Geld?"

Eine Erwähnung dieser Produktion in dieser Kolumne liegt auch nahe, weil es sich in gewisser Hinsicht um eine "Journalisten-Serie" handelt. Insgesamt 13 Journalistinnen und Journalisten aus Spanien, der Schweiz, den USA und Großbritannien kommen in den vier Folgen zu Wort.

Schon wieder ein Sieg für die Pressefreiheit in Karlsruhe

Gerade erst hat der BGH in Karlsruhe ein pressefreiheitsfreundliches Urteil getroffen, als er es für zulässig erklärte, dass die SZ aus dem Tagebuch eines in den Cum-Ex-Skandal involvierten Bankers zitiert (Altpapier von Mittwoch), da folgt schon die nächste erfreuliche Entscheidung aus Karlsruhe - dieses Mal eine des dortigen Landgerichts. Es ist laut der Gesellschaft für Freiheitsrechte ein "wegweisender Beschluss" in einer Angelegenheit, die auch im Altpapier (zum Beispiel diesem) oft Thema war: die Angriffe auf Radio Dreyeckland inclusive einer Hausdurchsuchung bei Fabian Kienert, einem Redakteur des Senders. Die bereits zitierte Gesellschaft für Freiheitsrechte schreibt:

"Die Staatsanwaltschaft warf ihm vor, in einem RDL-Artikel auf die Archivseite der verbotenen Plattform linksunten.indymedia verlinkt und damit eine verbotene Organisation unterstützt zu haben. Das Gericht entschied (…), dass die Verlinkung Teil der journalistischen Aufgaben und daher keine strafbare Unterstützung einer verbotenen Vereinigung sei. Damit steht auch fest, dass die im Januar angeordneten Durchsuchungen von Wohnungen und Redaktionsräumen rechtswidrig waren."

Die taz berichtet, die Richter hätten "von der Anklage nun nichts übrig" gelassen. Und:

"(Kienert) bekommt (…) eine Entschädigung für die erlittene Hausdurchsuchung und die Beschlagnahme von Datenträgern."

Der Sender selbst hat eine Mitteilung in eigener Sache veröffentlicht, und "Übermedien" geht in Form eines aktuellen Nachtrags unter einem Text aus dem Januar auf die Entscheidung ein.

Weniger Pressefreiheit an der griechischen Außengrenze

Die Situation in Europa angekommener Geflüchteter steht nicht mehr im Fokus der Berichterstattung deutscher Medien - wofür es Gründe gibt, mit denen man vermutlich eine komplette Kolumne füllen könnte. Die Einschränkungen der Pressefreiheit in Griechenland auf der Insel Lesbos dürften zu dieser unbefriedigenden Situation beitragen. Darüber hat die auf der Insel lebende deutsche Journalistin und Buchautorin Franziska Grillmeier im aktuellen "Freitag" (Seite 23) gesprochen:

"Wenn sich Ankünfte herumsprechen, werden Journalist*innen nicht zu Flüchtenden durchgelassen. Damit sind kaum noch Zeug*innen vor Ort, die dokumentieren können, was an den Küsten passiert (…) Es ist immer mehr ins Verborgene gerutscht (…) Es gibt immer mehr Formen der Überwachung von Reporter*innen oder Behinderungen der Berichterstattung bei Demonstrationen durch Polizeigewalt. Letztes Jahr wurde ein 75-jähriger Fotograf aus Norwegen wegen Spionage festgenommen, weil er den Hafen fotografiert hat. Eine Woche später wurde ihm der Prozess gemacht. Eine diffuse Angst, etwas falsch zu machen, hat sich eingeschlichen, durchwirkt alle Strukturen."

Die Verschwörungsmythen des Twitter-Chefs

Die Fragen, die Elon Musks antisemitische Attacken gegen den Milliardär George Soros (siehe in aller Kürze t-online.de) aufwerfen, lauten: Kommt uns das bekannt vor? Oder haben wir es hier mit einer (weiteren) Radikalisierung zu tun?

Annika Brockschmidt analysiert beim "Volksverpetzer":

"Bei Musk geht es nicht um Kritik an Soros, sondern um ein antisemitisches Framing: Die Behauptung, ein prominenter, reicher Jude wolle 'die Struktur der Zivilisation zerstören' und 'hasse die Menschheit', folgt der Argumentation der im modernen Antisemitismus wohl einflussreichsten Hetzschrift gegen Juden, eine Fälschung, die Anfang des 20. Jahrhunderts veröffentlicht wurde – den 'Protokollen der Weisen von Zion'".

Der Autor Elad Nehorai schreibt bei Twitter:

"I have been documenting Elon Musk’s antisemitism since before he owned Twitter. This is not new, and it hasn’t come out of nowhere. It’s years in the making."

In diesem Thread geht Nehorai darauf ein. Auch Brockschmidt betont die Kontinutiät:

"Im Februar diesen Jahres hatte Musk bereits auf einer Konferenz eine antisemitische Verschwörungserzählung verbreitet: 'Ich denke, wir sollten vielleicht ein wenig besorgt sein, dass wir zu sehr zu einer einzigen Weltregierung werden', sagte Musk dem Publikum und warnte vor dem "Ende der Zivilisation" durch eine solche Regierung. Er wiederholte damit den antisemitischen Verschwörungsmythos von der 'New World Order' – der Eine-Welt-Regierung, die Kulturen zerstört und unterjocht, gesteuert, so die antisemitische Erzählung, von geheimen Eliten." 

Zumindest eines hat sich aber seit Februar geändert. Brockschmidt:

"Eine Ursache für Musks Eskalation seiner antisemitischen Rhetorik gegenüber Soros dürfte darin liegen, dass der Milliardär seine Tesla-Aktien im Wert von 16,3 Millionen Dollar verkauft hat."


Altpapierkorb (die überarbeite Ausgabe von "Reschke Fernsehen" zu Reichelt, Wählerzufriedenheits-Umfragen beim BR, MDR-Magazine)

+++ Luise Mosig hat sich für die taz die, aus landgerichtlichen Gründen überarbeitete Version der "Reschke Fernsehen"-Ausgabe zu Julian Reichelt angeschaut. Sie geht auch darauf ein, wie beide Seiten die aktualisierte Fassung einschätzen: Nachdem Reichelt-Anwalt Ben Irle "im 'Tagesspiegel' vom 'unumstößlichen Fakt’ gesprochen hatte, 'dass von der Berichterstattung nach Herausschneiden der untersagten Äußerungen nicht mehr viel übrig bleibt', urteilte Reschke auf Instagram über ihre Sendung: 'Kann man sich gut anschauen.'"

+++ Inwieweit BR-Grafiken zur Wählerzufriedenheit mit bayerischen Politikern in die Irre führen, dröselt Stefan Niggemeier bei "Übermedien" auf.

+++ dwdl.de hat dem Flurfunk bei unserem MDR gelauscht. Quintessenz: "In einigen Redaktionen", die Magazine fürs Dritte Programm produzieren, herrsche "Verunsicherung". Warum? "Seit vieles darauf hindeutet, dass der Sender ab dem kommenden Jahr vom RBB die Produktion des 'ARD-Mittagsmagazins' übernimmt, wird im Haus darüber spekuliert, wie man sich das Vorhaben eigentlich leisten kann - und vor allem, was im Gegenzug dafür auf der Strecke bleiben müsste."

Das Altpapier am Montag kommt wieder vom Autor dieser Kolumne.

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