Das Altpapier am 16. August 2023: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 16. August 2023 Ist Richard David Precht der neue Helmut Markwort?

16. August 2023, 12:15 Uhr

Warum der Begriff "Clankriminalität" unzulässig ist - und warum die "Frankfurter Rundschau" ihn nicht mehr verwenden will. Außerdem: Kommt die nächste Corona-Welle oder ist sie längst da? Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Wenn ein Mythos zur Basis von Journalistenkarrieren wird

In den vergangenen Tagen haben sich mehrere Medien mit der wissenschaftlichen und journalismusethischen Fragwürdigkeit der Formulierung "Clankriminalität" befasst. Angesichts dessen, dass dieser Begriff ein "Medien-Dauerbrenner" ist (Altpapier im Februar 2022), ist das ein guter Anfang.

Zu verdanken haben wir die Ballung der Berichterstattung Vorschlägen von Bundesinnenministerin Nancy Faeser, die sich gerade als harte Hündin profilieren und ihren Amtsvorgänger Horst Seehofer wie ein Schoßhündchen aussehen lassen will - womit sie zumindest aktuell Erfolg zu haben scheint, denn "laut einer Forsa-Umfrage für den 'Stern' sind 67 Prozent der Deutschen dafür, die Abschiebung von mutmaßlichen Mitgliedern krimineller Clans zu vereinfachen", wie eben jene Zeitschrift gerade meldete

Kilian Wegner, Juniorprofessor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Wirtschaftsstrafrecht in Frankfurt/Oder, schrieb vor wenigen Tagen im "Verfassungsblog" unter der Headline "Über die sogenannte Clankriminalität. Kurze Kritik eines (Kampf-)Begriffs":

"Die Vorstellung, man könnte Menschen auf Grund eines Substrats ihrer gemeinsamer Sprache, Kultur und Abstammung aus einer objektiven Perspektive in feste 'Ethnien' aufteilen, geht (…) fehl. Entsprechend hilflos sind denn auch die in zahlreichen polizeilichen Publikationen nachlesbaren Versuche gewesen, mit willkürlich zusammengestellten Bindestrich-Konstruktionen aus Begriffen wie 'türkisch', 'arabisch' oder 'kurdisch', die dann oftmals noch mit formal-juristischen Staaten- und Nationalitätsbezeichnungen ('libanesisch', wobei z. T. noch zwischen 'echten' und 'unechten' Libanesen differenziert wird) vermischt werden, 'Ethnien' zu kartographieren. Nicht selten bricht sich hier ein freihändiger Hobby-Orientalismus Bahn, der (…) ein Einfallstor für strukturellen Rassismus bietet."

Wegners Fazit:

"Der Begriff der 'Clankriminalität' ist – gleichgültig welche der zahlreichen Definitionsvorschläge man heranzieht – von diffusen und nicht subsumtionsfähigen Merkmalen wie insbesondere jenem der 'Ethnie' oder der 'ethnischen Abschottung' bzw. neuerdings dem 'gemeinsamen Abstammungsverständnis' abhängig und basiert auf wissenschaftlich nicht fundierten Annahmen über 'kulturelle Eigenheiten' bzw. das 'Gefahrenpotenzial' bestimmter 'Ethnien' bzw. 'Gruppen mit gemeinsamem Abstammungsverständnis'."

Die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" hat in ihrer aktuellen Ausgabe zwei der fünf Herausgeberinnen und Herausgeber des Buchs "Generalverdacht. Wie mit dem Mythos Clankriminalität Politik gemacht wird" interviewt, das am 2. Oktober in der Edition Nautilus erscheint

"Warum wird der Begriff 'Clankriminalität' so rassistisch selektiv benutzt? Warum sprechen wir nicht von deutschen 'Clans'?",

fragt zum Beispiel Mohammed Ali Chahrour. Und Co-Herausgeberin Jorinde Schulz sagt:

"Unter 0,6 Prozent aller aufgenommenen Straftaten ordnen die Bundesländer der 'Clankriminalität' zu – und selbst in diesen Zahlen sind Ergebnisse von Gewerbe- und Verkehrskontrollen enthalten. Dieser Mythos verkauft sich gut, und es gibt etliche Journalistenkarrieren, die darauf beruhen, sich als Insider zu gerieren, und von einem obsessiven Voyeurismus auf vermeintliche Familienstrukturen profitieren."

Eine andere Zeitung aus Frankfurt, die FR, hat schließlich am Dienstag im Rahmen eines Schwerpunkts unter anderem festgestellt:

"Meistens werden die Debatten fern von Fakten geführt, um gefühlte Wahrheiten zu transportieren: Deutschland hat ein 'Migrantenproblem' – junge migrantische Männer sind frauenfeindlich, gefährlich und kriminell und man muss härter gegen sie vorgehen."

In diesen Text von Yağmur Ekim Çay hat die Redaktion eine Art Selbstverpflichtung eingeklinkt:

"Die Redaktion der Frankfurter Rundschau hat den umstrittenen Begriff 'Clan-Kriminalität' intern umfassend diskutiert. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass er politisch missbraucht wird und Menschen stigmatisiert. Deshalb werden wir die Bezeichnung nur in Ausnahmefällen verwenden – nämlich wenn wir über Polizeieinsätze und politische Debatten berichten, in denen die Kategorie zentral ist. Um uns von der falschen und gefährlichen Rhetorik zu distanzieren, setzen wir von nun an den Begriff in Anführungszeichen oder machen das mit sprachlichen Formulierungen wie sogenannte Clan-Kriminalität deutlich."

Was folgt aus der Begriffskritik Kilian Wegners - die am Dienstag der "Volksverpetzer" republiziert hat - und der "Rundschau"-Redaktion? Wenn der "Stern" es einen Tick hätte besser machen wollen, hätte er in der heute eingangs zitierten Meldung zur von ihm in Auftrag gegebenen Umfrage über die Zustimmung zur "Abschiebung von mutmaßlichen Mitgliedern sogenannter Clans" bzw. "Abschiebung von mutmaßlichen Mitgliedern mutmaßlicher Clans" schreiben müssen.

Die humortheoretische Tradition des Begriffs Hafermilch

Einen ausgeruhten Rant zur Hafermilch-Gesellschaftskritik von Markus Lanz und seines Gesinnnungsgenossen Richard David Precht hat Lukas Heinser bei coffeandtv.de veröffentlicht. Zur Erinnerung: Anfang August waren Teile eines Mitschnitts einer Veranstaltung aus dem Frühjahr viral gegangen, bei der die beiden Herren "die Sehnsucht nach einer Verhältnismäßigkeit zwischen Privat- und Arbeitsleben (…) immer wieder gleichermaßen als Symptom wie Ursache für (eine) behauptete Arbeitsscheu heranzogen", wie Samira El Ouassil in einer ihrer "Spiegel"-Kolumnen schrieb. In der Berichterstattung wurde die Ideologie von ML und RDP vor allem exemplifiziert anhand der Lanz-Einschätzung, wir seien "so 'ne gefühlige Gesellschaft geworden. Ja, so 'ne Hafermilch-Gesellschaft, so 'ne Guavendicksaft-Truppe, die wirklich die ganze Zeit auf der Suche nach der idealen Work-Life-Balance ist."

Heinser schreibt dazu, man müsse

"anerkennen, dass (Lanz) seinen Barth ziemlich genau studiert hat. 'Hafermilch' ist in gewissen Kreisen schließlich das, was 'Schuhgeschäft' in anderen ist: eine Abkürzung zum Gelächter, die mechanische Auslösung eines Reflexes anstelle einer ausgearbeiteten Pointe (…) Wenn man sich den Ausschnitt ganz genau anguckt, wird man den Eindruck nicht los, dass der Sit-Down-Comedian Lanz die Begriffe 'Hafermilch-Gesellschaft' und 'Guavendicksaft-Truppe' von langer Hand vorbereitet hat (oder vorbereiten hat lassen) und das stolze Grinsen unterdrücken muss, als sie beim Publikum den erhofften Erfolg erzielen. Er ist da ganz wie in seiner Fernsehsendung: wahnsinnig gut vorbereitet und deshalb so natürlich wie ein Versicherungsmakler kurz nach Beginn der Ausbildung".

"Humortheoretisch", so Heinser weiter, stehe die Hafermilch

"in der Tradition des Dinkel-Bratlings, mit dem Komiker*innen in den 1980er und 90er Jahren reüssieren konnten. Man könnte jetzt erwidern, dass vegetarische oder vegane Ersatzprodukte im Laufe der Jahrzehnte eine Entwicklung durchgemacht haben, die man auch dem deutschen Humor gönnen würde, aber da würde man schon wieder den grundsätzlichen, kapitalen Fehler begehen und sich in ein argumentatives Gespräch stürzen, wo von der Gegenseite nun wirklich keines gewünscht ist.

Sowohl Lanz als auch Precht hätten "eine Art Stockholm-Syndrom entwickelt (…) gegenüber der 'Leistungsgesellschaft' und gegenüber ihren Vorfahren". Und für beide gelte:

"(Sie) wirken wie die Personifizierungen des Aphorismus (und falschen Karl-Kraus-Zitats), wonach bei niedrig stehender Sonne der Kultur auch Zwerge lange Schatten würfen. Sie sind (…) im Laufe der Zeit zu dem geworden, was sich sprichwörtliche Durchschnittsdeutsche unter einem Journalisten und einem Philosophen vorstellen. Schon allein das ist ungefähr so absurd, als ob diese Prototypen in den 1990er Jahren mit Hans Meiser und Helmut Markwort besetzt worden wären."

Ohne jetzt die 1990er Jahre glorifizieren zu wollen: Heinser beschreibt diese Regression ziemlich treffend. Wobei: Wenn wir jetzt mal davon ausgehen, dass Richard David Precht der neue Helmut Markwort ist, sollten wir natürlich nicht vergessen, dass der alte weiterhin zugange ist.

Die Öffentlichkeit ignoriert die Corona-Gefahr

Was macht eigentlich Hendrik Streeck? Er macht natürlich Streeck-Sachen.

"Es ist (…) nicht notwendig, sich Sorgen zu machen oder eine außergewöhnliche Belastung der Krankenhäuser aufgrund von Corona-Infektionen zu befürchten",

sagt er im Rahmen einer Umfrage, die der "Tagesspiegel" unter der Überschrift "Corona-Variante EG.5. Experten erklären, wie gefährlich der Herbst wird" veröffentlicht hat.

Es ist, zumal eines generellen Covid-Desinteresses bei den Leitmedien (siehe Altpapier), ein feiner Zug des "Tagesspiegels", dass er uns diese Äußerungen zugänglich macht. Denn: Wenn Streeck, "der dauernd falsch liegt, aber immer wieder als Corona-Experte gebucht wird" ("Übermedien" im Februar 2021), sagt, dass wir uns keine "Sorgen machen" müssten, ahnen wir, dass es angebracht sein könnte, im Herbst die Wohnung nur äußerst selten zu verlassen. Sofern man sich das leisten kann.

Andererseits: "Weltweit nehmen die Infektionen mit der Coronavariante EG.5 deutlich zu", steht im Vorspann des Artikels. Müssten wir also gar nicht über den "Herbst" reden, sondern über die Gegenwart? Lars Fischer schreibt in seinem Blog bei "Spektrum der Wissenschaft":

"Abwasserdaten und andere Indikatoren deuten auf zunehmende Infektionen in Teilen Deutschlands (…) Ob das nur ein kleiner Buckel durch Wetter und Urlaubszeit ist oder tatsächlich schon der Anfang einer großen Krankheitswelle, muss man mal abwarten. Aber sicher ist: die Welle kommt."

Wir befänden uns gerade "in so ner Art Twilight Zone", meint Fischer. Denn:

"Die pandemische Situation selbst liegt zwar hinter uns, das Tempo der Erkenntnisse rund um Sars-CoV-2 hat rapide nachgelassen, und damit auch die mediale Berichterstattung. Aber Covid ist eben nicht vorbei (…) Spätestens im Herbst und Winter wird es wieder sehr viel mehr Corona-Fälle geben."

Man finde, so Fischer weiter, "zwar immer noch haufenweise News und Informationsbruchstücke zu Covid-19, aber anscheinend keinen Überblick, was das alles bedeutet und wie man jetzt mit der Situation umgeht".

Zu den "Bruchstücken", die ich in diesem Kontext empfehle, gehört das, was bei TPFKAT (The platform formerly known as Twitter) @1goodtern (trotz des seltsamen Pseudonyms vertrauenswürdig) und Ralf Wittenbrink (siehe auch seine Thread-Sammlung) mehrmals täglich präsentieren - und woraus zum Beispiel hervor geht, dass die Lage in Großbritannien bereits wieder katastrophal ist. Zu den "Bruchstücken" gehört auch ein salon.com-Artikel unter der Überschrift "Long COVID is devastating and far from rare. As infections rise again, why are we still ignoring it?".

"Während die Öffentlichkeit die Gefahr von SARS-CoV-2, dem Virus, das COVID auslöst, ignoriert und herunterspielt, könnte sich Long COVID durchaus als eines der größten Gesundheitsprobleme des 21. Jahrhunderts erweisen. Das birgt die reale Gefahr, dass eine sekundäre Pandemie chronischer Krankheiten übersehen wird",

schreibt Autor Philip Finkelstein dort. Wenn er hier von der Ignoranz der Öffentlichkeit schreibt, meint er zwar nicht die deutsche, aber für sie gilt das nach meinem Eindruck auch.

Oder um es mit Julia A. Noack zu sagen, die vor rund einem Monat in einem ND-Interview auf die Frage: "Was halten Sie von dem oft gehörten Satz: Wir müssen mit dem Virus leben lernen?" antwortete:

"Wir leben nicht mit dem Virus, wir ignorieren das Vorhandensein des Virus oder dessen Auswirkungen komplett. Mit dem Virus leben zu lernen, würde bedeuten, das Risiko zu minimieren. Eine Maske ist wie ein Fahrradhelm, Testen ist wie Zähneputzen."

Noack koordiniert eine Initiative, die Familien kostengünstig PCR-Pool-Tests zu Hause ermöglicht. In dem Interview sagte sie auch:

"Aus den USA wissen wir, dass Covid bei den Todesfällen durch Infektionskrankheiten unter Kindern auf Platz eins (…) steht."

Besser gesagt: "Wir" könnten es wissen, seit dem Januar dieses Jahres.


Altpapierkorb (Forderung nach neuen Gesetzen für den Einsatz von KI in den Medien, Bayerns Kunstminister zum geplanten Kahlschlag beim BR, "Painkiller")

+++ Der Aufmacher der heutigen FAZ-Medienseite: ein Gastbeitrag Christoph Fiedlers, in dem der Honorarprofessor für Medienrecht an der Universität Leipzig darlegt, warum für die Verwendung von "Künstlicher Intelligenz in den Medien" "neue Gesetze" erforderlich seien. Fiedler schreibt unter anderem: "Die digitalen Torwächter im Plattforminternet verfügen bereits über Meinungsmacht, indem sie die Verbreitung von Medien durch Zugangs- und Inhaltskontrolle sowie Ranking steuern. Wenn sie diese Medieninhalte in Gestalt synthetischer Produkte nun auch noch ohne Menschen selbst herstellen können, mag das des Guten zu viel sein. Ein medienpolitisch motiviertes Verbot für Torwächterplattformen, selbst Roboter- oder Menschenmedien zu betreiben, wäre verhältnismäßig und sinnvoll (…) Weitergehend erscheint es erwägenswert, Torwächterplattformen mit Mediendistributionsfunktion aufzugeben, Menschenmedien als Grundeinstellung und also unter dem Vorbehalt anderweitiger Nutzerauswahl vor Robotermedien zu platzieren."

+++ Zu den "Reformen", die der BR bei seiner Kulturberichterstattung plant (Altpapier) bzw. dem von der "Abendzeitung" so genannten "drohenden Kahlschlag" sagt Bayerns Kunstminister Markus Blume (CSU) ebd.: "Der Kulturauftrag ist eine wichtige Säule des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Deshalb müssen die geplanten Streichungen noch einmal diskutiert werden. Kulturelle Einsprengsel in einem rein auf Unterhaltung getrimmten Programm halte ich für den falschen Weg."

+++ Im ND empfiehlt Florian Schmid "Painkiller", die fiktionale Netflix-Serie zur Opiod-Krise in den USA: "Die opioidhaltigen Schmerzmittel, die lange Zeit ausschließlich Krebspatienten im Endstadium und Schwerkranken kurz vor ihrem Tod verschrieben wurden, fanden durch entsprechende Vermarktung plötzlich breite Anwendung. Die Serie erzählt von den Drücker-Kolonnen vor allem junger Frauen, die in Arztpraxen mit pseudowissenschaftlichen Argumenten Oxycontin als moderne und humane Medizin preisen. Auch die Bundesbehörde FDA, die bei der Zulassung des Mittels offensichtlich beide Augen zudrückte, bekommt ihr Fett weg. Das alles ist im Stil einer True-Crime-Serie sehr flott inszeniert."

Das Altpapier am Donnerstag kommt vom Autor der heutigen Kolumne.

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