Das Altpapier am 10. Oktober 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 10. Oktober 2023 Der Umgang mit immer krasseren Bildern

10. Oktober 2023, 11:00 Uhr

... bleibt eins der wichtigsten Themen für Nachrichtenmedien. Kann, darf oder muss man die Videos von Terroristen zeigen? Außerdem: kurioser, aber fruchtbarer Streit zwischen Brandenburgs Landtag und dem RBB; warum Wundertüten-Charakter zum Radio gehört. Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Die Internetfreiheit sinkt global

Jährlich aktualisierte Ranglisten, in denen anhand klar benannter Kriterien etwas verglichen wird – Länder, Städte, Universitäten ... –, entfalten in nachrichtenschwachen Zeiten Nachrichtenwert, schon weil es immer Auf- und Absteiger gibt. Und sie können nachhaltig wirken. Immer wenn etwa die Türkei weitere Journalisten einkerkert, steht unten in der Meldung, dass der NATO-Partner derzeit Platz 165 in der 180 Staaten umfassenden "Rangliste der Pressefreiheit" belegt. Kürzlich kam nun der neue "Freedom on the Net"-Bericht einer US-amerikanischen Nichtregierungsorganisation heraus.

"Insgesamt habe sich die Internet-Freiheit 2023 nach der Untersuchung von Freedom House zum 13. Mal in Folge verschlechtert", fasst netzpolitik.org zusammen. Deutschland liegt aber, wenn man die Landkartenansicht wählt, im grünen Bereich (Platz 77 ist in Ordnung, da diese Liste nur 100 Staaten zählt und die unfreien oben stehen). Generell besorgen Freedom House die Gefahren, die von KI als Werkzeug zur Produktion und Verbreitung von Desinformation wie auch als eines, das angebliche Desinformation schnell erkennen und herausfiltern soll, ausgehen.

Wobei die Internetfreiheits-Rangliste wenig Aufsehen erregte. Es sind ja auch alles andere als nachrichtenschwache Zeiten.

Kann, darf, muss man Terroristen-Videos zeigen?

Aus dem terroristischen Angriff auf und Massenmord in Israel scheint sich Krieg zu entwickeln. Und gerade auch der Internetfreiheit wegen sind sämtliche visuellen Medien der Welt mit jeder Menge bewegtem und tönendem Bildmaterial versorgt, mit dem sie, umgehen müssen. So gesehen, ist die Internetfreiheit auch ambivalent.

"Im Internet ist auf vielen Videos mehr zu sehen, das von grenzenlosem Hass zeugt, von der Lust an Mord und Gewalt, von einer Selbstverständlichkeit des Sadismus und von Entmenschlichung",

beschrieb Michael Hanfeld gestern in der "FAZ" (€) detailliert, aber nur in schriftlichen Worten, fürcherliche Videos, die viele gesehen haben – auf Twitter/X oder anderen Plattformen, oder im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, das auch Ausschnitte zeigte. Sicher mit verpixelten Gesichtspartien der misshandelten bis ermordeten Opfer, und eher klein schon deshalb, weil die Videos hochkant gefilmt wurden, wohingegen Fernsehbildschirme quer stehen.

Sollten Medien so was zeigen? Die Diskussion läuft wieder an, wohl intensiver denn je. Vielleicht weil es das Phänomen in der Breite noch nicht gab. Aber auch, weil die Videos in den "sozialen" Netzwerken aus völlig unterschiedlichen Gründen weiter geteilt werden. Einerseits, um bestialische Taten zu dokumentieren, um Reaktionen anzustoßen und um zu zeigen, dass die oft, vermutlich nicht immer bewusst, als "Kämpfer" titulierten Terroristen eben Terroristen sind. Affirmativ geteilt werden die Videos aber auch. Israelfeindliche islamistische Milieus sind auch im Westen stark vertreten. "Der sadistische Spaß, den die Terroristen bei ihren Verbrechen zeigen, soll unterstreichen, dass Juden auch in ihrer Heimat Opfer von Pogromen werden können", umschrieb die Feuilleton-Umschau von perlentaucher.de gestern den Zweck dieses Teilens.

Der Deutsche Presserat rät Pressemedien aktuell noch mal extra, was er, begrenzt hilfreich, stets rät: "sorgfältig abzuwägen", und zwar immer im "Einzelfall". Auch Massenmorde setzen sich, aus der Perspektive der Ermordeten, ja aus Einzelfällen zusammen. Meinungsstärker zeigt sich Deniz Yücel in der "Welt" (€). Ja, "wir müssen diese furchtbaren Bilder zeigen", plädiert er, auch mit vielen Beispielen aus länger zurückliegenden Jahrzehnten:

"Oder, um das krasseste Beispiel zu nehmen: Hätten Sowjets, Amerikaner und Briten darauf verzichten sollen, Aufnahmen aus Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen zu veröffentlichen? Wie würden wir heute über die Shoah denken? Und wer hätte davon profitiert, wenn sich diese Bilder nicht ins kollektive Gedächtnis der Menschheit eingeschrieben hätten?"

Yücel zählt viele Argumente dafür und dagegen auf. Die Diskussionen laufen auf vielen Ebenen, weiterhin auch auf Twitter/X. Schwer bis unmöglich, allgemeingültige Aussagen zu treffen. Je schneller die Produktion und Verbreitung von Medieninhalten verläuft, desto schwieriger. Meine Meinung bleibt: Nachrichtenmedien müssen mit allen verfügbaren Informationen sinnvoll umgehen. Dem eigenen Publikum etwas, das anderswo zu lesen, hören oder sehen ist, vorzuenthalten, und sei es aus noch so gut gemeinten Gründen, mag kurzfristig funktionieren, aber unterminiert mittelfristig das Vertrauen in diese Medien. Zumindest in freien Gesellschaften, also solchen mit Internetfreiheit.

"Wer eine bereinigte, softere Version des Krieges zeigt, riskiert, dass die Leute ihn nicht mehr so schlimm finden und vielleicht sogar insgeheim akzeptieren",

sagt zum selben Thema, bloß an einem anderen, leider gewohnteren Schauplatz, der ukrainische Kriegsfotograf und Dokumentarfilmer Mstyslav Chernov im sueddeutsche.de-Interview (€). Da geht es um seinen Dokumentarfilm "20 Days in Mariupol", der einen russischen Angriff auf eine Geburtsklinik zeigt.

Worüber Brandenburg und der RBB streiten

Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben's gerade auch nicht leicht. Zwei Wahlen in wichtigen Bundesländern, also jede Menge wichtige Politiker aus Landtagen und Bundestag, die von einer Kamera bis zum nächsten Mikro ihre Spins loswerden, also interviewt werden wollen. Dazwischen muss angemessen über beispiellosen Terror berichtet werden (Altpapier gestern). Und im engeren Medienmedien-Sinne werden weiterhin die eingespielten Usancen in den Chefetagen der Anstalten durchleuchtet.

Springers "Business Insider" (€) nimmt inzwischen das ZDF ins Visier, das es strukturell einfacher hat als die ARD und daher oft besser dazustehen scheint. Zwar verdient dessen Intendant Norbert Himmler vorläufig offenbar weniger als sein Star-Comedian Böhmermann (Altpapier), andererseits erfreut er sich neben dem 372.000 Euro-Grundgehalt unter vielem anderem schönster Ruhegeld-Ansprüche. Wobei kürzlich das Arbeitsgericht Berlin ja urteilte, dass Verträge mit sehr hohen Ruhegeldern als "sittenwidrig", also nicht zulässig gelten (Altpapier). Erwirkt hatte diese Urteile der RBB, der gegen seine ehemaligen Führungskräfte klagte.

Nun äußert der RBB-Untersuchungsausschuss des Brandenburger Landtags "Befremden" über den RBB ("Tagesspiegel"), weil dieser "Beschwerde gegen den Gerichtsbeschluss" eingelegt hat, den das Landgericht Potsdam gegen den RBB gefällt hatte. Bei diesem Beschluss handelt es sich einen Durchsuchungsbeschluss. Huch, der Landtagsausschuss will die öffentlich-rechtliche Anstalt durchsuchen lassen?

Da geht's um die Unterlagen zur Compliance-Untersuchung der Anwaltskanzlei Lutz Abel, von der inzwischen wohl alle (außer vielleicht den hochpreisigen Anwälten) denken, dass sie vor allem noch mehr rausgeworfenes Rundfunkbeitrags-Geld bedeutet. Wobei das natürlich erst nach Einsicht in die inzwischen vorliegenden Ergebnisse beurteilt werden kann. Und darum kabbeln sich Anstalt und Landtag.

Muss man das verstehen? Nicht unbedingt. Am selben Tag, an dem der RBB seine Beschwerde publik machte, meldete er ebenfalls per Pressemitteilung durchaus scharf, dass "Brandenburgs Staatskanzlei ... in den vergangenen Jahren", also die letzten Schlesinger-Jahre inklusive, "nur einmal die Notwendigkeit gesehen" habe, "im Rahmen der Rechtsaufsicht über den rbb aktiv bei der Geschäftsleitung nachzufragen". Heißt: Im Regelfall ließ die Landesregierung die Intendantin machen, was sie wollte. Wenn sich nun Landesregierungen und Landtage einerseits, die (leider) weite Teile der Rundfunk- und Medienpolitik bestimmen, und andererseits öffentlich-rechtliche Anstalten mal öffentlich streiten, zeugt das immerhin davon, dass inzwischen nicht mehr immer alle Rädchen ineinander greifen und dass die theoretisch stets geforderte Staats- und Regierungsferne manchmal auch in der Praxis besteht. Mehr davon!

Was unbedingt zum Radio gehört

Das 100-Jährige des Radios rückt immer näher und wird schon in den nächsten Tagen mit allerlei Aktionen begangen. Überblick bietet u.a. diese aufregend gestaltete deutschlandradio.de-Seite.

Wobei die Feierlaune im Radio, gerade in den öffentlich-rechtlichen Anstalten, nicht überall ungetrübt ist (Altpapier). Die Diskussion über die Reformpläne beim Kulturradio des Bayerischen Rundfunks war schon häufiger Thema hier. Dazu verdient ein zeit.de-Beitrag noch Erwähnung. Zunächst schildert da Autor Victor Sattler einen "perfekten Radiomoment". Der fand zwar schon im August statt, als der Schriftsteller Ilja Trojanow bei Bayern 2 zu Gast war, aber perfekte Momente ereignen sich ja selten:

"Das Büchermagazin 'Diwan' stellte Trojanow kluge Fragen zu seinem neuen Roman, und er revanchierte sich zum Abschluss mit einer ungefragten Kampfansage. 'Wenn Sie zu Hause zuhören: Der BR versucht, Sachen kaputtzumachen wie diese Sendung, die für uns alle unglaublich wichtig sind. Schreiben Sie dem BR und sagen Sie: Machen Sie nicht kaputt, was unser Leben wertvoll macht.' Es war ein perfekter Radiomoment. Die Moderatorin seufzte, das Livepublikum spendete einen Applaus, als wäre es bereit, sich notfalls am Münchner Funkhaus festzuketten. 'Diwan' ist eine von zehn Bayern-2-Kultursendungen, die im Frühjahr 2024 enden sollen."

Warum perfekt? Dazu findet Sattler eine gute Definition, indem er in einer Gruppe rumfragt, von der selten die Rede ist: bei "jungen Intellektuellen". "Intellektuelle", das waren Adorno und Co im 20. Jahrhundert, ältere Menschen, meist Männer. Im laufenden Jahrtausend taucht der Begriff nurmehr selten auf. Doch

"... auch junge Intellektuelle wollen das gute alte Radio nicht verlieren. Ein Anruf bei der Schriftstellerin Charlotte Gneuß, 31, die gegen die Reform protestiert. 'Wenn es irgendwann nur noch Podcasts gibt, werden die großen Lebensthemen der Literatur in kleine Zielgruppen aufgeteilt', sagt sie. Dabei beträfen die nicht nur eine kulturelle Elite – und könnten im Live-Radio per Zufallseffekt alle erreichen. Dieses Potenzial habe das Radio den Podcasts voraus, sagt sie: 'Als ich den Erzählband 'Glückwunsch' herausgab, konnte ich live auf Sendung sagen, dass Schwangerschaftsabbrüche etwas Normales sind. Und ich stellte mir in dem Moment vor, wer das jetzt alles hören kann. In jeder deutschen Autowerkstatt, überall, wo jemand den Rasen mäht oder in der Küche arbeitet, läuft bis heute das Radio nebenher.'"

Stimmt, so ein "Zufallseffekt"-bestimmter Wundertüten-Charakter gehört unbedingt zum Massenmedium Radio und droht verloren zu gehen, wenn immer formatiertere Sender vor allem gefällige Taylor Swift-Songs (oder, falls es sich um Klassiksender handelt: "Star Wars"-Filmmusik) zwischen Wetter- und Verkehrshinweisen und natürlich knackigen Zitaten der jeweiligen Ministerpräsidenten senden.


Altpapierkorb ("Stolze Demut", Nancy Faeser, Malcolm Ohanwe, "Rundfunkräte, digitalisiert euch!", "evangelisches Netflix")

+++ Viel Medienmedien-Aufmerksamkeit gibt's für die "emotionale Abschlussrede" ("FAZ") der MDR-Intendantin. Karola Wille geht Ende Oktober in den Ruhestand. U.a. rät Wille den Öffentlich-Rechtlichen zur "Haltung der stolzen Demut in Achtung vor den demokratischen Institutionen". Eine dpa-Zusammenfassung gibt's hier, die ganze Rede zum Download als PDF ("auf eigene Gefahr") hier nebenan. +++ Und flurfunk-dresden.de berichtet über die Rundfunkrats-Sitzung, auf der auch das "Telemedienkonzept ARD-Kultur" genehmigt und der Abschied des Thüringer Funkhausdirektors Boris Lochthofen ("man würde ihn wohl gern behalten") bedauert wurde. +++

+++ Nancy Faeser hat die SPD, eine traditionsreiche Partei mit allerhand historischen Verdiensten, souverän in den hessischen Landtag geführt. Mehr als dreimal übersprang Hessens Sozialdemokratin rein rechnerisch die Fünf-Prozent-Hürde. Sollte Faeser sich nun, entlastet vom unmittelbaren Wahlkampf, auf die Bundesinnenpolitik konzentrieren? Bloß nicht, meint netzpolitik.org. +++ Zu den vielen, freilich unterschiedlichen Vorwürfen gegen Faeser gehört auch der, dass sie den Expertenkreis Politischer Islamismus auflöste  ("Welt") und so die weitere Verbreitung des Islamismus förderte, von der derzeit sogar die Öffentlich-Rechtlichen berichten. +++

+++ Weiterhin wird sich mit der Personalie Malcolm Ohanwe (Altpapier gestern) beschäftigt, etwa in der "SZ". Jens Balzer wies im RBB-Radiokommentar darauf hin, dass Ohanwe noch am Samstag für die "mit Steuergeldern opulent alimentierten Neuen deutschen Medienmacher" unterwegs war. +++

+++ Folge 101 der netzpolitik.org-Reihe "Neues aus dem Fernsehrat" schrieb nicht mehr Leonhard Dobusch, der ja aus dem ZDF-Fernsehrat in den Verwaltungsrat wechselte, sondern erstmals Laura-Kristine Krause, die nun im Fernsehrat "den Bereich 'Internet'" vertritt. Wie die Überschrift "Rundfunkräte dieser Welt, digitalisiert euch!" andeutet, richtet der Text sich eher an die (freilich zahlreichen) Mitglieder ihres und anderer Rundfunkräte als an eine breitere Öffentlichkeit, die vielleicht sogar zweifelt, ob das Wirken all der Rundfunkräte überhaupt sinnvoll ist. Daran könnte Krause in den kommenden Folgen vielleicht noch drehen. +++

+++ "Welche epd-Meldung möchten Sie in zehn Jahren lesen?" fragt "epd medien" am Ende des großen Interviews mit Jörg Bollmann, dem Direktor des Gemeinschaftswerks der Evangelischen Publizistik (das u.a. "epd medien" herausgibt, dieses Jahr seinen 50. Geburtstag begeht und "angesichts schwindender Kirchenfinanzen" sparen muss). Bollmann antwortet: "'Das GEP startet ein evangelisches Netflix.' Ich würde mich so freuen, wenn ich in meinem Rentenalter erleben könnte, wie es die evangelische Publizistik schafft, eine Kombination von Fernsehen, Hörfunk, Nachrichtenagentur, digitalen Medien und Printangeboten zu etablieren ..." +++

Das nächste Altpapier schreibt am Mittwoch René Martens.

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